E ine tiefstehende Wintersonne hängt über dem Hochgebirgsplateau. Der Weg ist nur eine undeutliche Wagenspur, zugewachsen und kaum noch sichtbar. Sie fahren über totes Gras, Sand, Erde und Stein, sie fahren Tag und Nacht, während der Winter immer näher kommt.
Dann machen sie eine Pause, um sich die Füße zu vertreten. Die Mannschaft strömt aus den Fahrzeugen, der Koch verteilt Kekse, Shung untersucht einen Matrosen, der sich im Laufe der Nacht den Nacken verrenkt hat.
Henry spielt allein, flitzt durch die Gegend, redet mit sich selbst. Tao bleibt stehen und beobachtet ihn, seine Miene, wie er sich bewegt. Den Mund, den er ab und zu auf eine ganz bestimmte Art und Weise schließt, die Nase, die er kräuselt, wenn er neugierig ist. Die kleine Gestalt in der riesigen Landschaft, er bewegt sich schnell und geschickt über die Steine, widerstandslos, fließend, sein Körper ist es so sehr gewohnt, die kleinen Hindernisse einzuschätzen, die ständig auftauchen, sie zu überwinden, sein Gang ist für den unebenen, rauen Untergrund gemacht. Und dieses Flinke, wie sein Körper nie entspannt, die ganze Zeit fluchtbereit ist.
Aber er hat auch die kindliche Fähigkeit zum Vergessen, jedenfalls für kurze Momente. Er bleibt an einer Schlammpfütze stehen, die mit einer dünnen Eisschicht überzogen ist, Rosetten aus gefrorenem Wasser, unvergleichliche Naturkunst. Er betrachtet das Eis für ein Weilchen, nimmt dann Anlauf und springt darauf. Es knackt unter den Füßen, als die Rosetten zersplittert werden.
Er lächelt zufrieden. Dann dreht er sich um und bemerkt Tao.
»Hallo?«
»Hallo, Henry.«
Sie betrachtet die Pfütze, streckt den Fuß aufs Eis.
»Du hast da was vergessen.«
Er zögert. Dann springt er noch einmal, diesmal weniger kraftvoll, um den Rest des Eisbildes zu zerstören.
Sie dreht sich um und deutet auf eine andere Stelle.
»Da drüben ist noch eine.«
Er presst die Lippen ein wenig aufeinander, steht reglos da und versucht die Situation einzuschätzen. Dann geht er zu der nächsten gefrorenen Pfütze.
»Kommst du?«, fragt er.
»Ja.«
Sie stellt sich neben ihn, die Pfütze ist länglich, groß genug für sie beide.
Er geht in die Knie und bedeutet ihr, es ihm nachzumachen.
So stehen sie eine Weile mit gebeugten Knien da, bis Henry sich abstößt und springt. Das Eis zerspringt in tausend kleine Stücke.
Sie hüpft ihm hinterher. Es fühlt sich an wie Glas. Das Eis klirrt zart und hell unter den Füßen, wenn sie sich bewegen.
Henry geht wieder zur Seite, bleibt stehen und betrachtet die Pfütze von oben. Da sind noch immer intakte Eisflächen, auf die er schnell seinen Fuß setzt.
Dann dreht er sich um und betrachtet all die anderen gefrorenen Pfützen.
»Longyearbyen«, sagt er leise.
Sie nickt. »Es sieht so ähnlich aus.«
Sie geht zu einem kleinen gefrorenen Tümpel direkt daneben.
»Wollen wir uns noch eine vornehmen?«
Doch der Augenblick ist vorbei. Ihm ist wieder eingefallen, wer sie ist und wo er sich befindet. Er schüttelt den Kopf, sein Gesicht ist verschlossen. Dann kehrt er ihr den Rücken zu und geht.
Kurz darauf kommt Mei-Ling zu ihr. Sie wirft einen Blick auf die Uhr.
»Wir müssen weiter.«
»Zu Hause wartet man bestimmt schon auf dich«, sagt Tao.
»Meine Familie? Die wartet immer auf mich«, erwidert Mei-Ling. »Egal ob ich hier bin oder woanders. Mit mir verheiratet zu sein oder mich als Mutter zu haben bedeutet warten . Und ich schwöre dir, wenn ich eine Weile zu Hause war, warten sie auch darauf, dass ich wieder gehe. Es dauert nicht lange, und ich werde zu einem Tiger im Käfig.«
Sie tritt gegen einen Stein, versucht, damit einen größeren Stein weiter weg abzuschießen.
»Und deine Familie ist geduldig?«
Mei-Ling lacht kurz. »Im Gegensatz zu mir schon.«
Sie tritt gegen einen weiteren Stein, diesmal trifft sie ihr Ziel besser.
»War das hier nur ein weiterer Auftrag von vielen für dich?«, fragt Tao.
»Die Samen? Nein, bist du verrückt?«
»Aber du bist nicht in dem Glauben aufgebrochen, dass wir sie finden.«
»Was meinst du damit?«
»Du hast nicht daran geglaubt, dass wir sie finden würden … und deshalb … deshalb fühlst du dich vielleicht nicht so wie eine Versagerin angesichts unseres Versagens.«
»Versagerin angesichts unseres Versagens?« Mei-Ling lacht über die Formulierung.
Dann wird sie ernst. »Wir bekommen die ganze Zeit zu hören, dass Lo und Bong, meine beiden Söhne, zu klein für ihr Alter sind.« Sie zieht eine schmerzliche Grimasse. »Sie wachsen nicht so, wie sie sollen.«
»Über Wei-Wen haben sie dasselbe gesagt«, erwidert Tao. »Ich glaube, die meisten Eltern haben diese Nachricht bekommen.«
»Nach der letzten Kontrolle kamen die Jungen mit ihrer jeweiligen Wachstumskurve nach Hause. Sie konnten selbst sehen, wie flach ihre Kurve war, verglichen mit dem, was als normaler Durchschnitt gilt. Als mich das Komitee am nächsten Tag kontaktierte und von den Samen erzählte, war es gar keine Frage, dass ich fahren musste. Und ja, für ein paar kurze Momente habe ich mir erlaubt zu glauben, dass wir sie finden würden.«
Sie schweigen beide. Dann wird die Stille von einem leisen Geräusch in der Ferne unterbrochen. Sie horchen erstaunt auf, drehen sich um und sehen, dass auch der Rest der Mannschaft innehält und sich umdreht. Ein leises Donnern, schnelle Hufe auf dem Boden. Und dann: Wiehern.
Über dem Bergrücken im Süden, wo die Sonne tief hängt, steigt eine Staubwolke auf. Dann sehen sie die Konturen von Wildpferden, eine Herde von acht bis zehn Tieren. Für einen Moment wirkt es so, als würden sich die Tiere direkt auf sie zubewegen, sie werden deutlicher. Falben, kräftig gebaut, aber ziemlich klein. Sie sehen nicht so aus wie die Pferde zu Hause. Tao kneift die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können.
Doch dann drehen die Tiere ab, machen einen Bogen und setzen ihren Weg in Richtung Westen fort.
Tao und Mei-Ling sehen den Pferden nach, bis sie verschwunden sind und nur noch eine blasse Staubwolke in der Luft hängen bleibt.
»Habt ihr das gesehen!«, ruft Hilmar und rennt zu ihnen. »Pferde! Ich habe noch nie vorher Pferde gesehen!«
»Ich auch nicht«, sagt Mei-Ling. »Oder doch, Pferde habe ich schon gesehen. Aber keine solchen.«
Sie blickt verwundert zu der Stelle, wo die Pferde verschwunden sind. Dann reißt sie sich zusammen und dreht sich zur Mannschaft um. »Und jetzt setzt euch wieder in die Fahrzeuge! Ich möchte noch möglichst weit kommen, solange es hell ist.«
Die Kinder kauern sich auf der Rückbank zusammen. Sie unterhalten sich fröhlich auf Norwegisch. Tao sucht Henrys Blick. »War das nicht schön?«, fragt sie.
»Doch«, sagt er, ohne sie anzusehen.
»Stell dir vor, wir haben Pferde gesehen!«
»Mm.«
Tao ist mit Fahren dran. Sie lässt den Motor an, mustert Henry kurz im Rückspiegel. Er starrt mit verschlossenem Gesicht vor sich hin. Wie ähnlich es dem seines Bruders ist, Tommy, dieselbe Schroffheit und Undurchdringlichkeit.