TOMMY

M it vorsichtigen Schritten, fast schleichend, folgten sie weiter dem Weg zurück nach Longyearbyen. Tommy ertappte sich dabei, nach den Abdrücken von anderen Schuhen und Stiefeln Ausschau zu halten, sah jedoch nur Spuren von Vogelkrallen, Fuchspfoten und Rentierhufen.

Hier gibt es keine Überträger mehr, dachte er und schämte sich für den Gedanken, dass die Abwesenheit von Menschen auch eine Erleichterung für ihn war.

Henry und Hilmar rannten eifrig los, als sie sich dem Pfad näherten, der zum Weg 232 und ihrem Haus führte.

»Wartet«, sagte die Großmutter.

Sie blieb stehen und dachte nach. »Ich möchte nicht, dass wir dorthin gehen. Ich habe Lust, an einem anderen Ort neu anzufangen.«

Henry und Hilmar drehten sich um.

»Gehen wir nicht nach Hause?«, fragte Hilmar.

Die Großmutter schüttelte den Kopf, verzog dann die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Ich dachte, es könnte spannend sein, ein anderes Haus auszuprobieren. Und vielleicht finden wir eins, das größer und schöner ist!«

Die Brüder schienen ihre Antwort zu akzeptieren.

Tommy stutzte und wollte im ersten Moment protestieren. Bis ihm einfiel, dass die Großmutter vielleicht Angst hatte, der Vater würde noch im Haus liegen. Doch er wagte es nicht zu fragen, er wollte die Antwort nicht hören.

Sie gingen Richtung Zentrum, passierten ein Haus nach dem anderen, diskutierten die Schäden und fälligen Reparaturen, zerstörte Dächer und zerbrochene Fensterscheiben, gingen manchmal hinein und überprüften die Elektrik.

Zuletzt blieben sie an einem ziemlich neuen Haus in Skjæringa stehen, direkt unterhalb der alten Seilbahnzentrale, mit Blick auf den Hafen und den Isfjord. Auf dem Dach stand ein solides Windrad, das von der leichten Brise in Bewegung gesetzt wurde. Die Familie Lauritzen hatte dort gewohnt, ein Vater, vier Kinder und die Großeltern. Tommy hatte sie nicht gut gekannt, aber den Eindruck gewonnen, dass sie nette und ordentliche Leute gewesen waren. Noch dazu war das Haus groß.

»Hier«, sagte die Großmutter. »Hier sind wir vor Erdrutschen sicher. Es ist prima und gut in Schuss, findet ihr nicht.«

Es war keine Frage, sie hatte bereits entschieden.

Mehrere der Nachbarhäuser waren ebenfalls bewohnt gewesen, sie könnten sich Holz von den Stapeln draußen nehmen und später hineingehen und Möbel, Teller und alles andere, was sie noch gebrauchen konnten, von dort holen, sagte die Großmutter. Tommy spürte einen überraschenden Anflug von Freude darüber, dass all die anderen Häuser jetzt zu ihrer Verfügung standen, dass sie sich so gut wie alles nehmen konnten, was sie brauchten, plündern, wie sie wollten, die wärmsten Bettdecken, die besterhaltenen Klamotten, die hochwertigsten Küchengeräte. Sein Klassenkamerad Glenn hatte so ein schönes Fahrrad gehabt, es war weniger verrostet als die anderen Fahrräder, die es auf der Insel gab, er hatte es immer gut gepflegt. Dieses Fahrrad kann jetzt mir gehören, dachte Tommy, er konnte einfach hingehen und es sich holen, und niemand würde eine Frage stellen. Er konnte auf der Straße von Elvesletta bis zum Meer hin- und herradeln, oder sogar bis ins Bjørndalen. Der Gedanke an die Freiheit, die ihm das Fahrrad schenken würde, machte ihn glücklich. Doch dann fiel ihm ein, dass Glenn tot war, dass er im Ofen lag und nur noch Asche von ihm übrig war. Und seine Freude wich der Übelkeit.

Sie betraten das Haus der Lauritzens. Es war eiskalt und feucht, roch alt und muffig. Die Großmutter überprüfte die Batterien und die Schalttafel im Flur, nickte kurz, ehe sie von Zimmer zu Zimmer ging und alle Heizkörper einschaltete. Henry und Rakel stellten sich vor den einen, zogen ihre Handschuhe aus und hielten die Hände daran.

»Funktioniert die Heizung?«, fragte Runa gespannt.

»Hör mal!«, sagte Henry.

Die Heizung gab ein tickendes Geräusch von sich, während sie zu arbeiten begann.

»Hurra!«, rief Henry und machte einen kleinen Sprung.

Die Großmutter nickte zufrieden. »Aber wir sollten die Versorgung durch ein zusätzliches Windrad ergänzen, und davon gibt es ja genug, will einer von euch mir vielleicht bei der Arbeit helfen, Rakel oder Tommy?«

»Ja, gern!«, antwortete Rakel, bevor Tommy den Mund aufmachen konnte.

»Und was ist mit dem Treibhaus?«, fragt er. »Wir müssen doch wohl auch anfangen, im Treibhaus zu arbeiten?«

»Na klar, das weißt du doch.«

»Dann kann ich dir ja dort helfen«, sagte er, während er Rakel fixierte.

Die Großmutter lächelte vor sich hin, und Tommy wusste, dass sie ihn durchschaute, dass seine Eifersucht so unübersehbar war, als wäre er grün im Gesicht. Aber er ließ nicht locker: »Und dann haben wir ja auch noch das Saatgutlager. Da müssen wir doch wohl auch bald hin?«

Er wollte noch mehr hinzufügen, wollte betonen, was sie darüber gesagt hatte, dass er später einmal ihre Nachfolge antreten solle, er wollte auf das Band verweisen, das über die Samen zwischen ihnen bestand.

Doch die Großmutter antworte nur kurz und knapp. »Den Samen geht es gut, da wo sie liegen. Aber mit dem Treibhaus kannst du gerne schon morgen anfangen.«

Er nickte, sagte nichts mehr, und ärgerte sich, dass er errötete.