D ie Schmerzen, die sie quälten, ihr Stöhnen, die Windeln, die sie wechseln mussten, Henry an ihrem Bett mit einer Tasse Wasser in der Hand; wie sie sich abmühte, einen Schluck zu trinken.

Hatte sie am Ende aufgegeben?, fragt Tommy sich.

Nein, die Kinder wurden Zeugen ihres Kampfes. Nur sie allein konnte diesen Kampf ausfechten, und sie konnte ihn nicht gewinnen. Aber sie schlug sich trotzdem tapfer. Denn irgendwo im Menschen gibt es etwas, das ihn immer festhält, selbst wenn er weiß, dass die Hoffnung längst gestorben ist, und vielleicht, denkt er, vielleicht ist genau das, diese Unbezähmbarkeit, das eigentliche Leben.

Die Erde war gefroren, sie konnten sie nicht begraben, und Tommy weigerte sich, sie im Ofen des Krematoriums zu verbrennen. Der Ofen widerte ihn an, er konnte sich nicht vorstellen, wie sie es über sich bringen sollten, den Körper der Großmutter in den Flammen verschwinden zu sehen, sie eins mit all den anderen Leichen werden zu lassen, die dort drinnen gelandet waren, anschließend die Asche auszukehren und zu denken, das war Oma, das war Louise, und dann ihr Andenken zu ehren und Abschied zu nehmen von diesem grauen Pulver, das genauso gut der Inhalt eines Kamins hätte sein können, der lange nicht sauber gemacht worden war.

In den ersten Tagen ließen sie die Großmutter in einem Bett im Nachbarhaus liegen, wo die Luft abgestanden und eiskalt war. Die Kinder kreisten um sich selbst, wussten nicht, was sie tun sollten und kamen erst nach vier Tagen auf den Gedanken, dass sie sie waschen und herrichten sollten. Rakel füllte einen Eimer mit heißem Wasser und holte einen Lappen, Tommy nahm eine Bürste und eine saubere Bluse mit, die er in einem Schrank fand. Gemeinsam gingen sie mit dem dampfenden Eimer ins andere Haus hinüber, wuschen die Großmutter, tauschten ihren schmutzigen Pullover gegen die saubere Bluse, die blau war und von der Tommy wusste, dass sie sie gemocht hatte, und bürsteten ihr dunkles Haar, bis es glänzte. Währenddessen zitterte er, vor Kälte und vor Trauer, aber auch vor Furcht, weil er noch nie zuvor einen Leichnam angefasst hatte.

Rakel dagegen blieb die ganze Zeit ruhig. Mit langsamen Bewegungen wrang sie den Lappen aus, Nebelschwaden vom Dampf breiteten sich im Zimmer aus.

»Heb du ihn an«, verlangte sie und zeigte auf den Arm der Großmutter, den er halten sollte, damit sie behutsam mit dem Lappen darüberfahren konnte. »Hilf mir mal beim Umdrehen«, sagte sie, als sie mit dem Rücken weitermachen wollte.

Als sie fertig waren, blieben sie stehen und betrachteten den Leichnam im Bett. Weil sie kühl gelegen hatte, war sie nach wie vor unverändert, es war immer noch der Mensch Louise, der dort vor ihnen lag. Sie sah nicht mehr so krank aus wie in ihren letzten Tagen, war zwar mager, aber dennoch sie selbst. Ihre Haut war glatt und blass im Kontrast zu dem dunklen Haar, das sie nach hinten gekämmt hatten. Tommy musste an Schneewittchen denken, sie war ein gealtertes Schneewittchen in einem Sarg aus Eis, und ohne groß nachzudenken, beugte er sich vor und küsste sie auf die Stirn.

Er zuckte zusammen, als seine Lippen die ledrige Haut berührten, und wich sofort wieder zurück.

»Kalt?«, fragte Rakel.

»Ja.«

»Sie ist ja auch tot.«

»Ich weiß.«

Rakel zog die Decke, die sie über die Großmutter gebreitet hatte, noch ein wenig höher, bis sie ihren Brustkorb bis auf halbe Höhe bedeckte. Dann nahm sie ihre Arme und beugte sie so, dass sie auf der Decke lagen, die Hände auf Höhe des Herzens.

»Willst du die Hände falten?«, fragte Tommy.

»Nein, warum? Sie war ja nicht gerade gläubig.«

»Nein«, sagte er.

Und obwohl auch er kein Christ war, hätte sich ein Teil von ihm trotzdem gewünscht, die Hände vor ihm wären gefaltet.

»Sie hat nicht an ein Leben danach geglaubt«, sagte Rakel. »Und jetzt ist sie tot. Es ist nichts mehr von ihr übrig, nichts als dieser Körper … deshalb ist es besonders wichtig, dass wir ihn schön machen.«

Er nickte.

Wir sind uns einig, wollte er sagen, es ist so gut, sich einig zu sein, aber er kommentierte es lieber nicht, denn wenn er etwas sagte, wenn er ihre Übereinstimmung kommentierte, konnte er sie damit auch schnell wieder zerstören.

Er betrachtete Rakels Bewegungen, während sie den alten Pullover der Großmutter zusammenfaltete und ihn in eine Tasche legte, schnellen Schrittes hinausging und das Wasser in den Ausguss schüttete, den Lappen auswrang und ihn über den Eimer legte. Er sah die weiße Atemwolke vor ihrem Mund und dachte: Du lebst. Du lebst, und jetzt gibt es nur noch uns. Und meine Brüder, und deine Schwester, sie brauchen uns mehr denn je.

Ihr starker Körper, wie geschaffen für Jagd, Fischfang und lange Wanderungen, die Unruhe, die sie die ganze Zeit antrieb. Keine eignete sich besser für das Leben hier oben als sie.

Zusammen mit dir, dachte er, zusammen mit dir, Rakel, kann ich es schaffen.