D och es gelang ihm nur im Traum, sie festzuhalten. In Wirklichkeit hatte er seine Brüder losgelassen und war allein zurückgeblieben.
Du bist nie allein, Tommy, hätte seine Großmutter gesagt, vielleicht hatte sie es auch einmal gesagt, er erinnert sich nicht mehr genau. Du bist nie allein, ich hoffe, das weißt du.
Was redest du da für einen Blödsinn, hätte er antworten müssen. Guck mich doch an. Zwischen mir und dem nächsten Menschen liegen Tausende von Kilometern. Es gibt nicht allzu viele Menschen auf der Welt, die einsamer sind als ich.
Aber man kann auf so unterschiedliche Weise allein sein, hätte sie geantwortet, man kann auch allein sein, wenn man mit anderen zusammen ist.
Das ist nicht dasselbe, und das weißt du auch.
Ob Wawilow sich allein fühlte?
Tommy sitzt an einem Tisch im Treibhaus und hält eines der Bücher über den Samensammler in den Händen.
Am 9. Juli 1941 brauchten drei Generäle lediglich fünf Minuten, um das Urteil über Wawilow zu fällen. Er wurde in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen, einschließlich der Spionage gegen die Sowjetunion. Er wurde zum Tode verurteilt, legte jedoch Berufung ein, er bat den Staat zu prüfen, ob es in den nächsten Jahren nicht doch eine Verwendung für ihn gäbe. Er flehte darum, sein Wissen vielleicht weiterhin nutzbringend anwenden zu können.
Was sagte Stalin, als er von Wawilows Bitte erfuhr? Lachte er? Verhöhnte er den Wissenschaftler?
Vielleicht hatte er auch zu der Zeit, als die deutschen Truppen vor der Tür standen, schlichtweg andere Sorgen.
In jenem Herbst wurden Tausende politische Gefangene zum Bahnhof von Kursk gebracht. Sie sollten gesammelt aus Moskau evakuiert werden, weil die Deutschen kurz vor der Stadt standen.
»Auf die Knie! Nicht aufsehen!«, lautete das Kommando.
Der erste Schnee war gefallen, er schmolz unter ihren Knien. Aber sie mussten trotzdem so verharren, zitternd vor Frost, den Blick gen Boden gerichtet, sechs Stunden lang. Die Einwohner Moskaus, die ebenfalls evakuiert wurden, liefen an ihnen vorbei und schrien sie drohend an: »Spione! Betrüger! Verräter!«
Schließlich kamen die Züge. Dort wurden die Gefangenen zusammengepfercht, zwanzig Menschen in einem Abteil, das eigentlich für fünf gedacht war. Die Wagen setzten sich in Bewegung, die Reise dauerte mehrere Wochen.
Wawilow war unter denen, die diese Fahrt überlebten. Er landete im Gefängnis von Saratow, jener Stadt, in der er 1917 zum Professor für Ackerbau und Genetik ernannt worden war. Er teilte die Zelle mit einem Philosophen und einem Ingenieur. Sie schliefen abwechselnd auf der einzigen Pritsche, die es gab. Von der Decke hing eine einsame Glühbirne, die Tag und Nacht brannte. Die Gefangenen trugen Jutesäcke und Schuhe aus Baumrinde.
Dreimal am Tag bekamen sie etwas zu essen. Morgens zwei Löffel Buchweizengrütze, mittags eine kleine Tasse Suppe und abends einen Löffel Buchweizengrütze.
»Wir dürfen trotzdem nicht aufgeben«, sagte Wawilow zu seinen Zellengenossen. »Wenn wir aufhören zu arbeiten, werden wir sterben.«
Sie hielten sich gegenseitig jeden Tag drei Vorträge, über Geschichte, Biologie und über die Holzindustrie, das Spezialgebiet des Ingenieurs. Darüber hinaus war Wawilow ein unerschöpflicher Quell spannender Geschichten von seinen Reisen in exotische Gegenden.
Aber von ihrem Wissen allein konnten sie nicht leben. Wawilows Unterernährung verschlimmerte sich, der Hunger tobte durch seinen Körper. Seine gesamte Muskelmasse schwand, er litt unter chronischem Durchfall, hatte Ausschlag an den Beinen. Zuletzt wurde er auf die Krankenstation verlegt. Er war blass und mager, konnte nur noch schwer gehen und atmen, stellte sich aber trotzdem vor, wie es sich gehörte, als er dort ankam:
»Vor Ihnen steht der ehemals hoch angesehene Wissenschaftler Wawilow, der nach Ansicht einer Mehrheit von Ermittlern jetzt nur noch Abschaum ist.«
Dann wurde er in ein Krankenbett gelegt.
Er verließ es nie wieder. Am Morgen des 26. Januar hörte das Herz in dem ausgehungerten Leib auf zu schlagen. Der Samenwächter, der sein Leben und seine Arbeit der Bekämpfung von Hungersnot verschrieben hatte, war selbst verhungert.
Tommy stellte sich den abgemagerten Leichnam im Krankenbett vor, in den schmutzigen Jutesack gehüllt. Den Körper, den zwei Aufseher aus dem Bett heben und der so leicht ist, dass sie ihn mühelos hinaustragen können. Man zieht ihm den Jutesack aus und wirft ihn auf einen Karren, der dem Bestatter Alexej Nowitschkow gehört. Andere Leichen werden darauf abgelegt, alle sind nackt, alle haben ein Namensschild aus Metall um den Fuß gebunden. Aber Nowitschkow liest die Schilder nicht, er ist nur an dem Lohn interessiert, den er für den Transport bekommt. Eine Flasche Schnaps pro Gefangenem. Dann fährt er davon, während die Leichen auf der Ladefläche hin und her fliegen, so leicht sind sie, eine Hand gleitet über den Rand.
Wawilow wird in ein anonymes Grab auf dem Friedhof geworfen. Der Körper des Samenwächters ist zu sterblichen Überresten reduziert, zu Knochen und Fleisch, das in der Winterkälte erstarrt.
All die Leichen.
Das Geräusch des Karrens auf den staubigen Wegen.
Sie wurden übereinandergestapelt.
Es knirscht in der Achse des Karrens. Sie bleiben vor einem Loch im Weg stehen. Schaffen sie es außen herum? Nein, sie schieben den Karren durch das Loch.
Das rechte Hinterrad rutscht hinein. Die Leichen auf der Ladefläche gleiten langsam hinab.
Ein nackter bläulich lilafarbener Fuß ragt unter dem Laken hervor.
Emilys Gesicht kommt zum Vorschein.
Ihr Körper, steif, blau.
Ein Haus, das einmal gelb war, die Laute von dort drinnen, ein derartiger Schmerz, dass der Mensch aufhört, Mensch zu sein, und zum Tier wird.
Die fünfjährige Wilma. Sie liegen nur da. Ich habe gerufen, aber sie hören mich nicht. Sie hatte nur einen Schuh an. Kannst du mit reinkommen? Bitte? Mama liegt einfach nur da, bitte, Mama.
Der metallische Geruch von Blut, ein von der Jagd und vom Schlachten vertrauter Geruch, und trotzdem so ungewohnt.
Die Aussicht. Der Schornstein. Der aufsteigende Rauch.
Das Geheul aus dem gelben Haus.
Das Geheul mischt sich mit dem Stöhnen der Großmutter in ihren letzten Tagen. Nimm es weg, faucht sie, du musst es aus mir herausnehmen, schneid es weg, mach, dass es aufhört. Ich kann nicht, sagt er, es tut mir so leid, ich kann nichts tun. Papa, sagt die Großmutter, wo bist du, ich sehe dich nicht, Papa, hilf mir, bitte, Papa, Mama. Mama.
Die Erinnerungen sind Knochen in der Erde, er hat sie selbst vergraben und sorgt dafür, dass sie dort unten bleiben. Immer wenn es regnet oder stürmt, drängen sie an die Oberfläche, ein Knochen ragt auf, ein Wirbel, er beeilt sich, mehr Erde daraufzuschaufeln. So wie er es sein ganzes Leben lang getan hat.
Und es hat sich in seinem Körper eingenistet, all dieses Schaufeln, der Spaten wird immer schwerer, seine Schultern sind steif geworden, die Schmerzen jagen sein Rückgrat hinauf, breiten sich auf den Nacken aus, auf den Magen, der aus dem Gleichgewicht gerät, sie gelangen bis in die Lungen und erschweren ihm das Atmen, sie dringen bis ins Herz, das immer öfter unangenehm rast, selbst wenn er ruhig dasitzt.
Es hilft nicht mehr, sich die Zeit genau einzuteilen in Stunden, Minuten, Sekunden, jede Einheit mit Arbeit auszufüllen.
Selbst wenn er jeden Abend erschöpft ins Bett fällt, kann er nicht schlafen. Er hat zu wenig gegessen, der Hunger nagt in seinen Eingeweiden. Die Matratze ist zu hart, er kann sich nicht mit ihr anfreunden, sein Körper möchte immer weiterrennen. Und er springt wieder auf, wandert im Zimmer umher, blickt auf das Bett, auf die Bettdecke, die er abgeworfen hat, er schreckt zusammen, denn liegt da nicht jemand?
»Henry?«
Er stupst den Haufen im Bett an, aber es ist nur die verknäulte Decke, kein kleiner Junge versteckt sich mehr dort. Die Wärme, die sie zusammen erzeugt haben, ist fort.