I ch kann nicht schlafen.«

Jeden Abend stand Henry in der Tür, er kam, kurz nachdem Tommy sich schlafen gelegt hatte. Tommy wusste nicht, ob er wach lag und wartete oder einen so leichten Schlaf hatte, dass er von den gedämpften Geräuschen seines großen Bruders aufwachte, wenn er ins Bett ging. Selbst wenn Tommy auf Zehenspitzen ging, das Licht ausgeschaltet ließ, selbst wenn er seine Zähne in der Küche putzte und nicht oben im Bad, hörte Henry ihn und kam angetapst.

»Tommy, ich kann wirklich nicht schlafen.«

»Dann leg dich halt zu mir«, sagte Tommy.

Er schlug seine Decke auf, damit Henry darunterschlüpfen konnte, und versuchte seinen Ärger zu verbergen.

»Hast du schlecht geträumt?«, fragte er manchmal.

»Nein«, antwortete Henry. »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Hast du denn überhaupt geschlafen?«

»Ich weiß nicht.«

Immer dieselben Antworten, ich erinnere mich nicht, ich weiß nicht.

»Mein Bett ist einfach nur so groß«, hatte Henry gesagt, als er zum ersten Mal auftauchte, und eine genauere Erklärung für seine Schlafstörungen konnte er nie geben.

»Vielleicht bräuchtest du dann mal ein kleineres Bett«, hatte Tommy erwidert. »Das besser zu dir passt.«

»Ja, vielleicht«, sagte Henry.

Und dann kroch er zu Tommy ins Bett, das auf keinen Fall zu groß war. Und dort lag er dann die ganze Nacht, mit spitzen Ellbogen und Knien, die er plötzlich anwinkelte und sie Tommy in den Bauch stieß, und mit seinem offenen Mund, schnaufend, manchmal auch schnarchend, weil er oft eine etwas verstopfte Nase hatte, und mit seinem Mundgeruch, der sich allmählich änderte, früher war er süßlich gewesen, jetzt roch er mehr wie der Schlafatem aller anderen Menschen, ein bisschen säuerlich; wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass er älter wurde. Und im Bett fühlte es sich auch so an, als würde er größer, mit jeder Nacht breitete sich sein Körper weiter aus, schlief er noch unruhiger, verschaffte sich mehr Raum. Ein seltenes Mal hatte Tommy den kleinen Bruder geschüttelt, ihn geweckt, hochgezogen und in sein eigenes Zimmer gebracht. Doch es waren höchstens ein paar Minuten vergangen, bis Henry wieder da war und sich neben ihn zwängte. Ein anderes Mal versuchte Tommy sich wegzuschleichen, er kletterte über den kleinen Bruder, schlich sich aus dem Zimmer und legte sich einfach in dessen Bett. Doch als er am nächsten Morgen aufwachte, schlief Henry auch dort wieder neben ihm.

Tommy hatte vorher nie darüber nachgedacht, aus wie viel Körpermasse die beiden Brüder bestanden, er hatte sie immer nur als klein wahrgenommen. Doch jetzt waren sie die ganze Zeit da, mit ihren spitzen Gelenken und ihrer glatten Haut und den Wangen, die so zart waren, dass es ihn immer wieder von Neuem überraschte, mit ihren großen Füßen und dünnen Beinen, mit ihren runden Rücken und ihrer Gelenkigkeit, wenn sie im Schnee herumkugelten, sich zum Spaß rauften, hinfielen und wieder aufstanden.

Sie stritten sich auch um seine Hände, wollten ihn oft für sich haben. Tommy war ein Magnet für ihre dünnen Jungenkörper, er war der Nordpol, auf den ihr innerer Kompass immerzu zeigte.

Wo auch immer Tommy war, einer der Brüder lief ihm stets hinterher.

Er stand in der Küche. Hilmar kam herein.

»Hallo«, sagte Tommy.

»Hallo«, sagte Hilmar und stellte sich neben ihn.

Er beobachtete, wie Tommy das Messer führte. Seine Arme hingen schlaff am Körper herunter.

»Willst du einfach nur hier herumstehen?«, fragte Tommy.

»Ja … nein?«

»Guck mal. Du kannst die Kartoffeln hier schneiden.«

»Okay«, sagte Hilmar.

»Setz dich doch an den Tisch. Da hast du genug Platz.«

»Ja.« Aber er blieb stehen, wo er stand, direkt neben Tommy. »Hier an der Arbeitsplatte ist doch auch Platz, oder?«

»Ja, schon«, antwortete Tommy.

Er war gerade auf dem Weg nach draußen. Drinnen war es so warm, die Kinder spielten im ersten Stock, ihr Getrampel und Gekreische hallten im Haus wider. Leise nahm er seine Jacke von der Garderobe, band sich den Schal um. Doch als er sich auf die Bank im Gang setzte, um seine Winterstiefel zu schnüren, knarrte sie.

Der Lärm über ihm verstummte sofort.

Und kurz darauf kam Henry die Treppe heruntergelaufen.

»Wo gehst du hin?«, fragte er.

»Raus«, antwortete Tommy.

»Kann ich mitkommen?«

»Hast du nicht gerade noch mit den anderen gespielt?«

»Wir sind aber jetzt fertig.«

»Spiel doch ruhig weiter. Ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen, ich bin gleich wieder da.«

»Ist denn gerade Nordlicht?«

»Ja, ich glaube schon. Aber du weißt doch, dass ich das Nordlicht nicht mag.«

»Darf ich trotzdem mitkommen und es sehen?«

»Ich werde wirklich ganz schnell wieder zu Hause sein. Ich bin wieder da, bevor du es geschafft hast, dich anzuziehen.«

»Aber ich beeile mich. Guck mal, jetzt habe ich schon die Jacke angezogen!«

Er saß auf dem Sofa und stopfte im Schein der Lampe Socken.

Hilmar setzte sich mit einem Buch dazu. Dicht neben ihn.

Er konnte nur noch schwer den Arm bewegen. Sein Ellbogen traf den kleinen Bruder, wenn Tommy die Hand mit der Stopfnadel anhob.

Tommy rutschte ein paar Zentimeter beiseite. Kurz darauf rückte Hilmar nach.

Tommy räusperte sich.

Hilmar las weiter.

Tommy wollte noch einmal weiter wegrutschen, wusste aber, was dann passieren würde. Also blieb er sitzen, stopfte hastig die Socken, die Arme an den Oberkörper gepresst.

Hilmar tat, als würde er nicht merken, wie gereizt Tommys Bewegungen waren.

Doch dann stolperte Henry auf der Treppe und tat sich weh, oder Hilmar schnitt sich mit dem Messer und blutete, und Tommy wollte sie einfach nur noch umarmen, sich vergewissern, dass alles in Ordnung war, dass es ihnen gutging. Und wenn er sie an sich drückte, verspürte er Erleichterung. Die Brüder waren immer noch da. Sie würden alle fünf durch den Winter kommen, sie hatten genug zu essen, sie hatten Strom, und auch wenn Longyearbyen eine Geisterstadt war, hatte sie dennoch nichts Beängstigendes an sich. Denn alles, was es dort gab, stand ihnen zur Verfügung. Die Häuser und Straßen wirkten nicht verlassen, sie sahen eher so aus, als würden die Leute gerade einen kleinen Ausflug machen, als wären sie mit dem Boot hinausgefahren, um zu angeln, oder hätten einen Ausflug zur Hochebene gemacht, um Rentiere oder Schneehühner zu jagen. Auf den Tischen lagen immer noch aufgeschlagene Bücher, an den Stühlen hingen Jacken, in den Fluren standen die Schuhe wild durcheinander. Und überall gab es Sachen, die sie gebrauchen konnten, auf die sie angewiesen waren. Die Knappheit, mit der die Kinder aufgewachsen waren, gab es nicht mehr, jetzt hatten sie endlich alles, was sie sich wünschten.

Hilmar und Tommy holten Glenns Fahrrad, zogen es durch den Schnee, testeten die Bremsen an einem Hang, der vom Wind freigeweht worden war, sie quietschten, er musste sie ölen. Doch davon abgesehen war das Fahrrad genauso toll, wie Tommy es in Erinnerung hatte, und er verspürte einen winzigen Anflug von Vorfreude – auf den Frühling.

Das Fahrrad, die Tassen, die Schuhe im Gang, all das erinnerte ihn nur an das eine: Sie hatten überlebt.

Jeden Tag ging er ins Treibhaus. Die Pflanzen im Sommerraum lebten nach ihren eigenen Jahreszeiten, kreuz und quer und mit Überschneidungen, jede Pflanze hatte ihre bestimmte Saison, je nachdem, wann sie gesät worden waren. Während Rakel für das Fleisch sorgte, kam Tommy jeden Tag mit Gemüse und Beeren nach Hause. Nach Hause … ja, er hatte ziemlich bald angefangen, das Haus in Skjæringa, in dem sie lebten, als sein Zuhause zu betrachten.

Henry begleitete ihn am häufigsten ins Gewächshaus. Danach gingen sie in der Bibliothek vorbei. Der Raum war eiskalt, Tommy hatte gar nicht erst versucht, den Strom anzudrehen, und sie tasteten im schwachen Schein einer aufladbaren Taschenlampe nach etwas Lesbarem.

Er wollte die Kinder unterrichten, suchte ein paar Bücher zusammen, ging in die Schule, heizte ein Klassenzimmer auf und gab Runa, Henry und Hilmar Schulstunden. Er begann mit den Grundlagen, Erdkunde, Geschichte, Biologie. Er ermutigte sie dazu, auch allein Texte zu lesen, gab ihnen Anstöße. Sie mochten seine Schule, sie lachten und schwatzten, waren aber überraschend aufmerksam, wenn er die Lehrerrolle einnahm, vor allem Runa, die ihre beiden Mitschüler dazu aufforderte, auf ihn zu hören. Doch es war zeitraubend. Von Rakel bekam er keine Unterstützung, sie beherrschte kaum das kleine Einmaleins, und nach den ersten paar Wochen musste er den Unterricht einschränken, weil es im Treibhaus zu viel zu tun gab. Eines Abends nahm er all seinen Mut zusammen und fragte Rakel, ob sie ihm dort ein wenig Arbeit abnehmen könne, damit er mehr Zeit mit den Kindern hätte.

»Es ist wichtig, dass sie dranbleiben«, sagte er, »dass sie weiter lernen.«

»Warum?«, fragte sie.

»Sie haben jetzt schon fast ein ganzes Schuljahr verpasst«, sagte er.

Da lachte sie nur laut, nahm das Gewehr vom Haken an der Flurwand und ging hinaus.

Jeden Abend krochen Tommy und die beiden Brüder in Hilmars Bett. Er konnte ihnen eine Stunde lang vorlesen, wenn nicht noch länger, sie wurden es nie leid. Die Jungen saßen mit offenen Mündern da, während er sie in andere Welten entführte, in denen alles möglich war. Sie wollten so gerne dort drinnen sein, alle drei, in der Handlung der Bücher.

Tommy war sich bewusst, dass sich die Erleichterung wie ein großer Fluss immer weiter in ihm ausbreitete. Wir sind die Überlebenden, konnte er zu sich selbst sagen, wir haben genug zu essen, wir haben Strom, ich habe Henry und Hilmar, Runa und Rakel. Wenn wir einfach nur arbeiten und warten, arbeiten und warten, wird unser Leben nach und nach immer mehr in die alten Bahnen zurückfinden. Uns wurde das Leben geschenkt, wir können unser Leben zurückbekommen.

Manchmal hielt er mitten in der Arbeit inne, während er die verdorrten Pflanzen auf den Komposthaufen warf oder Grünkohl in einem der Hochbeete aussäte, und dachte eine Weile über Henry und Hilmar nach und wie es ihnen wohl gerade ging. Er konnte plötzlich bei der Vorstellung in Panik geraten, dass einer von ihnen in der überfrierenden Nässe ausrutschte oder sie zu weit ins Tal hineingingen, wo Erdrutschgefahr bestand. Und dann ertappte er sich dabei, sie zu vermissen, ihre Stimmen und Körper, die weich und eckig zugleich waren. Er erinnerte sich an das Gefühl von Henrys letzter Umarmung oder wie glucksend und aufrichtig Hilmars Lachen am Vorabend gewesen war, als Henry aus einem Witzebuch vorgelesen hatte, und wie gut dieses Lachen auch ihm tat.