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S ie versuchen immer noch, die Kinder zum Lachen zu bringen. Tao kramt alte Witze aus dem Gedächtnis hervor: Warum fliegen die Vögel im Winter nach Süden? Zum Laufen wäre es zu weit. Woran erkennt man, dass ein Huhn Fieber hat? Es fängt an, gekochte Eier zu legen. Wo kommen diese schmutzigen Spuren her? Ich weiß auch nicht, die verfolgen mich schon die ganze Zeit. Mei-Ling schneidet Grimassen und läuft auf den Händen über den Raureif, bis ihre Finger eiskalt werden. Shun zieht einen medizinischen Schutzanzug über und flattert umher wie ein Gespenst.

Nur Runa lacht. Nur die höfliche Runa klatscht in die Hände und fordert sie zum Weitermachen auf. Henry und Hilmar applaudieren auch gehorsam, bitten aber nie um eine Zugabe. Und sie lächeln so steif und aufgesetzt, dass es Tao Bauchschmerzen bereitet.

Sämtliche Energie ist aus ihren kleinen Körpern verschwunden. Wenn sie aus dem Fahrzeug gelassen werden, um sich die Beine zu vertreten, bewegen sie sich so schwerfällig wie alte Menschen.

Und sie erreicht Tommy nicht. Sie versucht es jeden Abend. Achtet genau auf die Zeitverschiebung. Ruft ihn immer an, wenn es bei ihm fünf Uhr ist und bei ihr später Abend. Manchmal fragt sie sich, ob sie wirklich richtigliegt, beruhigt sich aber damit, dass das Funkgerät immer auf Empfang eingestellt ist, sodass er sie jederzeit erreichen kann. Es ist für ihn geöffnet, sie ist für ihn da, so wie sie es die ganze Zeit versucht hat. Aber er wollte ihr nie trauen.

Sechs Tage lang hatten sie nach den Samen gesucht, bis Tommy und Rakel verschwanden. Lange, zermürbende Tage, in denen sie alle Häuser und Lagergebäude von Longyearbyen durchkämmten. Mei-Ling war mit jedem Tag gestresster, sprach davon, dass jetzt jeder Tag zwanzig Minuten kürzer wurde, und vom Winter, der vor der Tür stand. Tao spürte, wie sie sich immer mehr von der Unruhe der Kapitänin anstecken ließ.

Tommy war die ganze Zeit wortkarg und abweisend. Nur ein einziges Mal konnte sie sich richtig mit ihm unterhalten, am vierten Abend. Es war schon spät, doch statt sich in das Rettungsboot zu setzen und gemeinsam mit den anderen zum Schiff zu rudern, ging sie an einen Ort, an dem sie für gewöhnlich Ruhe fand: in die Bibliothek.

Als sie hereinkam, blieb sie überrascht stehen und sah sich um. So viele Bücher, eine reichhaltige Sammlung. Was für ein Glück die Kinder hatten, dass sie mit dem Zugang zu all diesem Wissen aufgewachsen waren. Dann hörte sie ein Geräusch aus der einen Ecke, und eine Gestalt erhob sich von einem Tisch. Es war Tommy.

»Hallo«, sagte Tao. »Entschuldige die Störung.«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Bibliothek steht allen offen.«

Sie ging näher, betrachtete die vielen Bücher, die er vor sich gestapelt hatte, und die Tafel, auf der er sich Notizen machte.

»Bist du oft hier?«, fragte Tao.

Tommy nickte.

»Allein?«

»Jetzt? Ja, natürlich. Manchmal sind Henry und Hilmar auch hier, aber sonst allein, ja.«

»Und früher? Als hier noch viele Menschen lebten.«

Er nickte. »Da auch.«

Er dachte kurz nach und versuchte dann, es zu erklären. »Es war nicht so, dass die anderen Kinder keine Bücher gelesen hätten, der Kommunalverwaltung war das ein großes Anliegen, dass wir lesen und lernen sollten. Es war nur so, dass ich viel, viel mehr gelesen habe als die anderen … und dass sie sich nicht für die Sachen interessierten, die mich interessierten, und deshalb bin ich hier gelandet.«

»Oder war es so, dass du dich nicht für die Sachen interessiert hast, die sie interessierten?«, fragte Tao.

»Gibt es denn da einen Unterschied?« Er dachte ein wenig nach. Dann nickte er. »Du versuchst mir zu sagen, dass nicht die anderen sich gegen mich entschieden haben, sondern ich mich gegen sie

»So in etwa, ja.«

Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht, doch er ertappte sich schnell dabei, denn er errötete, stand auf, ging zu einem Regal und zog willkürlich Bücher heraus.

»Ich bin auch in einer Bibliothek aufgewachsen«, sagte Tao.

»Oh«, sagte er und betrachtete die Seiten eines Buches, ohne dass er wirklich zu lesen schien.

»Aber es war eine Schulbibliothek. Es gab nur einen Bruchteil der Bücher, die ihr hier habt. Am Ende habe ich immer wieder dieselben gelesen.«

»Damit hast du wahrscheinlich nicht gerechnet, dass du ans Ende der Welt kommst und eine so große Büchersammlung findest?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie und versuchte ihn anzulächeln. »Da hast du recht.«

Er stellte die Bücher ins Regal zurück und begann an den Bücherreihen entlang ins Innere des Raumes zu gehen. Sie folgte ihm in einem Parallelgang und konnte nur hin und wieder zwischen den Büchern einen Blick auf ihn erhaschen.

»Die anderen Kinder«, sagte er. »Als du klein warst. Ging es dir da auch so, dass sie sich für etwas interessiert haben, mit dem du nicht viel anfangen konntest?«

»Ja«, sagte sie. »Genauso war es.«

»Habe ich mir gedacht.«

Es wurde kurz still.

»Druckerschwärze und Papier«, sagte sie dann. »Kaum zu glauben, dass Bücher nur aus Tinte und Papier bestehen.«

»Aus Bäumen«, sagte er. »Bücher sind Bäume. Früher haben sie Kiefer und Fichte verwendet. Aber auch Eukalyptus und Akazie. Und in manchen Ländern auch Bambus und Bagasse.«

Sie entdeckte einen Anflug von Enthusiasmus bei ihm und packte die Gelegenheit beim Schopf. »In den letzten Jahren wurden wieder einige wenige Bücher auf Papier produziert. Du kannst dich auf den Geruch eines neuen Buchs freuen. Und das leise Knarren des Umschlags hören, wenn du es aufschlägst. Das ist eins der schönsten Geräusche, die ich kenne.«

Ohne etwas zu erwidern, wandte er das Gesicht von ihr ab.

Die Bücher waren thematisch und alphabetisch sortiert. Sie entdeckte ein Regal mit Büchern über Natur und Ökologie, und aus einer plötzlichen Eingebung heraus suchte sie unter S.

Und da stand es, sogar in drei verschiedenen Ausgaben, auf Englisch, Deutsch und einer Sprache, die vermutlich Norwegisch war. Sie zog die englische Ausgabe heraus, der Umschlag war abgegriffen, die Seiten voller Eselsohren, sie ließen sich widerstandslos umblättern, das ganze Buch war biegsam und weich, als wäre es schon oft geöffnet worden, und zwar sehr oft. Sie strich mit einem Finger über die kleine schwarze Biene, die auf den grünen Umschlag unter den Titel gedruckt war: Der blinde Imker.

Tommy kam zu ihr und sah, welches Buch sie in Händen hielt.

»Hast du das gelesen?«

Sie nickte und blätterte im Buch, es war das erste Mal, dass sie die englische Originalausgabe sah. Dann fand sie die Zitate, die sie einmal so beeindruckt hatten:

»Ohne Wissen sind wir nichts«, las sie. »Ohne Wissen sind wir Tiere.«

Tommy nickte und zitierte:

»Um in der Natur und mit der Natur zu leben, müssen wir uns von der eigenen Natur entfernen. Bildung handelt davon, sich selbst zu trotzen, der eigenen Natur, den Instinkten zu trotzen.«

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich habe Savage gelesen, sobald ich es konnte«, sagte er. »Ich habe ihn verschlungen, so wie die meisten anderen hier oben auch.«

Er machte eine Pause, ging zum Regal und zog die norwegische Ausgabe hervor. Mehrere Seiten glitten heraus und fielen auf den Boden, als er es öffnete. Er beugte sich hinab und begann sie wieder aufzuheben, berührte ehrfürchtig das Papier.

»Wir hatten unsere eigenen Regeln. Aber eigentlich war dieses Buch für uns fast wie eine Art Gesetzestext.«

Tao betrachtete den Umschlag. »Thomas Savage. Thomas. Tommy. Bist du etwa nach ihm benannt?«

»Thomas? Nein.« Er überlegte. »Eigentlich weiß ich es gar nicht. Ich dachte immer, ich wäre nach einem Trapper benannt worden.«

Er blickte erstaunt auf den Namen – als hätte er etwas Neues an sich selbst entdeckt.

»Findest du, dass du in einer idealen Gemeinschaft gelebt hast?«, fragte Tao.

Er drehte sich wieder zu ihr. »Einer idealen Gemeinschaft?«

»Ja?«

Sein Blick wurde stechend. »Der Mensch hatte sich zu einer Art entwickelt, die andere ausnutzen musste, um selbst überleben zu können, er gab sich nicht damit zufrieden, in einem Gleichgewicht zu leben, verlangte ständig nach mehr. Aber wir hier oben haben das alles überwunden, wir überwanden die menschliche Natur. Ja. Es war eine ideale Gemeinschaft.«

Vielleicht hast du recht, dachte Tao, eine ideale Gemeinschaft, eine kurze Zeit lang, bis es euch nicht mehr gab.

»Du glaubst mir nicht«, sagte er.

»Doch«, sagte sie. »Ich glaube, dass euch das gelungen ist. Dass ihr hier ein gutes Leben geführt habt. Aber vielleicht war das nicht genug, wenn ihr ganz allein wart?«

»Wir hatten einander.«

Er schob die norwegische Ausgabe behutsam ins Regal zurück. Tao blieb mit der englischen Ausgabe in den Händen stehen und strich mit einem Finger über den Umschlag.

»Dieses Buch hat mein Leben verändert«, sagte sie. »Und es hat das Leben aller zu Hause verändert. Wir haben auf Savage gehört, wir haben der Natur neuen Raum gegeben. Wenn du mitkommst, wirst du es sehen. Dass es uns gelungen ist.«

»Daran glaube ich kein bisschen«, sagte er.

Sie zuckte zusammen. »Was?«

»Wenn ihr es wirklich ernst meinen würdet, wärt ihr nicht hergekommen, um die Samen zu holen.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst …«

»Wir haben es ohne sie geschafft. Wir haben uns nie aus dem Lager bedient. Und das sollte auch bei euch so sein. Ihr solltet die Samen nicht brauchen müssen.«

»Nein«, sagte sie und merkte, dass seine Worte schmerzten. »Ich verstehe, dass du so denkst. Eigentlich sollte niemand die Samen brauchen, und die Welt dürfte auch nicht so sein, wie sie geworden ist.«

»Schön, dass du verstehst, was ich meine«, entgegnete er kalt.

»Aber das lässt sich nicht ändern. Und jetzt brauchen wir die Saatgutbank«, sagte sie inständig. »Es gibt so viele Arten, die verloren gegangen sind.«

»Was für eine lustige Formulierung. ›Verloren gegangen‹. Als wären die Arten von selbst verschwunden. Ausgerottet wurden, meinst du. Von den Menschen.«

»Ja, du hast recht, wir haben sehr viele Arten ausgerottet, aber mit den Samen könnten wir wieder eine reiche Welt erschaffen und eine widerstandsfähigere Natur. Für die Pflanzen, Tiere und Menschen.«

»Im Gewölbe befindet sich nur Saatgut für die Landwirtschaft«, sagte er mit harter Stimme. »Und widerstandsfähige Nutzpflanzen sind gut für den Menschen, aber die Tiere, die Pflanzen, alle anderen, brauchen deine Landwirtschaft nicht.«

»Aber Tommy«, sie versuchte, ruhig zu sprechen. »Du bist ein kluger Junge, du weißt doch, dass alles miteinander zusammenhängt.«

»Wie der Bienenstock ist auch die Welt ein Superorganismus, in dem alles miteinander zusammenhängt. Ja. Savage, Seite 143.«

Er nahm ihr das Buch aus der Hand, als hätte sie es nicht verdient, und stellte es aggressiv wieder an seinen Platz im Regal.