T ommy hat nie an irgendetwas oder jemanden geglaubt. Für ihn besteht das Leben lediglich aus Körper, Zellen und Nervenimpulsen, und wenn der Körper nicht mehr existiert, ist auch das Leben verschwunden.
Der menschliche Körper ist ein Ergebnis der Evolution. Der Wille der Evolution ist die einzig existierende Kraft, nichts anderes lenkt uns. Es gibt niemanden, der uns sieht, der die Kontrolle hat, der uns überwacht oder Signale sendet. Indem wir die Natur und ihre Veränderungen und Entwicklungen sehen und beobachten, können wir Erfahrungen sammeln und Schlüsse aus unserem Verhalten ziehen. Die Natur vertritt keine Meinung, sie erzählt nichts, sie verurteilt niemanden, sie existiert einfach nur.
Solange niemand davon weiß, wird ihn auch niemand dafür verurteilen, was mit Rakel geschehen ist.
Er liegt in seinem Nest auf dem Boden des Gewächshauses, ohne zu wissen, wie lange er schon so gelegen hat, während seine Gedanken mit ihm durchgehen wie wilde Rentiere.
Rakels Gesicht in dem Moment, als sie den Boden unter den Füßen verliert.
Das Geheul aus dem gelben Haus.
Die Großmutter, wie sie jammert.
Die vielen Leichen.
Das Schiff, das mit seinen Brüdern an Bord im Fjord verschwindet.
Dann setzt er sich auf, du musst dich zusammenreißen, Tommy, reiß dich zusammen, es ist alles nur eine Frage der Struktur, du schaffst das, richte dich einfach nach der Uhrzeit.
Er schiebt den Pulloverärmel nach oben und blickt auf seine Armbanduhr. Zwanzig Minuten vor zwei.
Er führt die Uhr zum Ohr und lauscht.
Sie ist stumm.
Er schüttelt sein Handgelenk. Komm schon!
Doch der Sekundenzeiger reagiert nicht.
Die Uhr rutscht ihm weg, während er versucht, sie aufzuziehen. Sie will nicht weiterlaufen, die Zeit will ihm nicht mehr gehorchen.
Am Ende schleudert er die Uhr von sich auf den harten Boden. Er hört, wie das Glas zersplittert.
Dann sinkt er wieder auf sein Lager.
Nicht denken, weich sein, schlaff, sich die Dunkelheit über den Kopf ziehen.
Und dort, im bodenlosen Schlaf, in den er versinkt, pusselt jemand in seiner Nähe herum. Das leise Klirren von Stricknadeln, die Wärme des Kamins auf seinen Wangen, eine Waschschüssel, die mit Wasser gefüllt wird, er zieht den Duft von etwas Bekanntem, Sauberem in die Nase, und dann spürt er den nassen, warmen Waschlappen im Gesicht.
Mama, flüstert er.
»Ja, ich bin hier, mein Junge, ich bin hier.«
Er möchte sie festhalten, weiter den Lappen auf seinem Gesicht spüren, die kühlen Hände, die ihm über die Stirn streichen, doch der Schlaf ist ein Verräter, er verlässt ihn, und als er aufwacht, ist seine Mutter weg. Nur ein schwacher Duft hängt noch in der Luft, ein Widerhall, ein Gefühl in den Händen, als würde er nach etwas greifen, das ihm zwischen den Fingern hindurchgleitet.
Er steht auf. Seine Beine zittern, aber er zwingt sich zu stehen, zu gehen, zu arbeiten. Dies ist seine Biosphäre, sagt er sich, der Sturm kann wüten, solange er will, er braucht nichts anderes als diesen Raum, das Treibhaus, hier drinnen kann er zwischen Hunderten anderer Leben überdauern.
Doch ständig rutscht ihm der Spaten aus den Händen, er lässt den Eimer auf den Boden fallen, verschüttet Erde, vergeudet Samen, weil seine Finger ihm nicht gehorchen wollen.
Und dann hört er die Stimme der Großmutter, deren Echo sich vom Sturmgetöse abhebt und anschwillt, die so klar ertönt wie im richtigen Leben.
Mit der Biosphäre 2 hat es kein gutes Ende genommen, sagt die Großmutter. Das weißt du genau. Erinnerst du dich nicht, was ich gesagt habe?
Halt den Mund, Oma.
There’s no such thing as an island.
Doch, sagt er, there is an island, und uns ging es gut auf unserer Insel. Wenn die anderen nur geblieben wären! Wir fünf konnten uns aufeinander verlassen. Aber die Welt da draußen …
Ehrlich gesagt hast du von der Welt da draußen keine Ahnung, Tommy, du bist in der abgeschottetsten Gemeinschaft aufgewachsen, die man sich nur vorstellen kann, du weißt nichts von der Welt, von der eigentlichen Natur des Menschen. Und wenn du dich nicht daran erinnerst, was aus der Biosphäre 2 wurde, erzähle ich es dir gern.
Die Biosphäre 2 geht mir am Arsch vorbei!
Halt den Mund, Tommy, und hör auf deine Großmutter.
Du brauchst es mir nicht zu erzählen, Oma, ich habe das doch schon alles gelesen!
Ja, er hatte schon die ganze Zeit gewusst, wie die Geschichte von der Biosphäre 2 ausgegangen war.
Am 26. September 1991 zogen die acht Einwohner in den Kuppelbau ein. Sie hatten zwar keine Gebrauchsanweisung dafür, wie sie in der neuen Welt leben sollten, aber kompetent waren sie, nämlich Experten auf Gebieten wie Botanik, Meeresbiologie, Medizin und Physik. Sie sollten alles selbst anbauen und zubereiten, was sie aßen, sollten Nutztiere schlachten und verarbeiten. Um sicherzustellen, dass sie genug zu essen hatten, hielten sie eine strenge Diät, bei der sie nur 1800 Kalorien am Tag aufnehmen durften. Als sie nach und nach mehr produzierten, erhöhten sie die Zufuhr auf 2200 Kalorien. Es war der Arzt, Roy Walford, der die Diät anpasste und bestimmte, wie viel sie jeden Tag essen durften. Er war der Älteste von ihnen, machte aber so viel Sport und ernährte sich so gesund, dass er überzeugt war, 120 Jahre alt zu werden. Walford meinte, alle Menschen könnten ihr Leben durch Kalorienrestriktion erheblich verlängern. Die Bewohner der Biosphäre wurden seine Versuchskaninchen.
Es dauerte nicht lange, bis auch der Hunger zu einem allgegenwärtigen Mitbewohner wurde, der sich unmöglich ignorieren ließ. Er hetzte sie gegeneinander auf und brachte ihre schlimmsten Eigenschaften zum Vorschein, führte zu ständigen Konflikten. Sie spalteten sich in zwei Gruppen von jeweils vier Personen auf. Bei den Kontroversen ging es darum, wie sie weitermachen wollten, ob sie sich in höherem Maße auf die wissenschaftlichen Aspekte des Experiments konzentrieren sollten oder einfach so weitermachen wie gehabt. Einige wünschten sich eine neue Führung, sie waren skeptisch gegenüber John Allen, der auf der Außenseite der Kuppel saß und alles wie Orwells großer Bruder lenkte, per Videokonferenz. Die Aversionen gegen ihn wuchsen, es war leicht, einem Menschen die Schuld zu geben, dem man noch nie im wirklichen Leben begegnet war, sondern nur auf einem Bildschirm. Die klimatischen Verhältnisse in der Biosphäre waren harmonisch und angenehm, und trotzdem breitete sich unter den Kuppeln eine Kälte aus, die in Körper und Geist drang.
Das Atmen wurde schwieriger.
Die Teilnehmer am Experiment betrachteten sich selbst als friedliche Menschen, Pazifisten, keiner setzte die Fäuste ein, aber ihre Sprache wurde brutaler, und einige Male wurden die Andersdenkenden auch bespuckt.
Gruppentherapie, sagte jemand, wir müssen einander im Gespräch näherkommen. Sie lasen Bücher, bildeten sich weiter, machten Rollenspiele und versuchten die Gruppendynamik zu verstehen, an der sie selbst teilhatten. Und sie fanden Hoffnung in ihren Gesprächen, beteuerten einander, da kommen wir schon durch, vielleicht gehen wir sogar gestärkt daraus hervor.
Doch dann begann ihre Welt, die eigentliche Biosphäre, sie im Stich zu lassen. Die Mikroben im Boden schieden schneller Kohlendioxid aus, als es den jungen Pflanzen gelang, Sauerstoff zu produzieren. Der Sauerstoffgehalt sank nach sechzehn Monaten von 20,9 auf 14,2 Prozent. Anstatt einzugreifen, beschlossen die Einwohner, der Natur und dem Experiment freien Lauf zu lassen.
Obwohl ihre Körper protestierten, trotz Kopfschmerzen und Übelkeit zwangen sie sich durch die Tage. Selbst die kleinsten Aufgaben waren unmöglich durchzuführen, die Muskeln wollten nicht gehorchen, die Gedanken liefen im Kreis, und das Atmen fiel schwer, ständig sogen sie die Luft tief ein, aber es half nichts, selbst wenn sie sich ausruhten, arbeiteten die Lungen auf Hochtouren.
Erst als die Lungen zu gurgeln begannen, ihre Gesichter anschwollen und sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, kamen die Trailer angefahren. Mit großen Sauerstofftanks. Die Bewohner sahen, wie außen Schläuche angeschlossen wurden, wie Nabelschnüre, die sie am Leben halten würden.
Und dann, endlich, konnten sie wieder atmen, wieder rennen, hatten endlich die Kraft, zu lachen und zu tanzen. Die schwarze Wolke verzog sich, sie wurden Freunde, sie feierten den Sauerstoff, fühlten sich wie neugeboren, priesen das lebenspendende Gas und alle Pflanzen und Algen der Welt, die alle Menschen immerzu ausreichend damit versorgten und die die Biosphäre 1, die Erde, so grün und lebendig machten.
Sie dachten, jetzt kann uns nichts mehr aufhalten.
Aber der Sauerstoff reichte nicht aus. Denn in der geschlossenen Welt hatte die Natur bereits aufgegeben, die Entwicklung konnte nicht aufgehalten werden. Die Vögel starben. Die Bienen starben. Die Blumen bekamen keinen Besuch mehr von den Insekten, und es gab keine Lebewesen mehr, die sich um die Bestäubung kümmerten.
Nur einige wenige Arten überlebten und fühlten sich dort wohl, wo die anderen gestorben waren, und schon bald nahmen die Kakerlaken die Biosphäre ein.
Krabbelnd, sich vermehrend.
Sie krabbeln über ihn, Kakerlaken und Leichen. Doch er flieht nicht vor ihnen, er möchte jemanden an sich drücken und bekommt etwas zu fassen, es ist Henry, er umarmt den kleinen Bruder fest, streicht ihm über Kopf und Wangen, öffnet die Augen, will ihn ansehen, doch am Ende ist es nur seine Jacke, die er an sich presst.
Er wirft sie wieder von sich.
Oma. Ich bin jetzt hier. Bitte sprich doch mit mir.
Aber nur die Stille antwortet.
Selbst der Wind hat sich gelegt.
Tommy öffnet die Augen, setzt sich auf, horcht.
Ja, der Sturm ist wirklich abgeflaut.
Er kommt auf die Beine, findet Jacke, Schal und Mütze.
Jeder Schritt ist schwer, aber sein Körper gehorcht, während er zur Ausgangstür geht und sie energisch aufstößt.
Die frische Luft schlägt ihm entgegen und gibt ihm neue Kraft.
Jetzt sind es nur noch wenige Minusgrade, der Boden ist von feinem Puderschnee bedeckt, der Vollmond hängt hoch am Himmel und leuchtet so hell, als wäre es mitten am Tag, er besiegt das Polarlicht. Siehst du, sagt er zum Polarlicht, das nur ein schwacher grüner Schein ist, du hast keine Kraft, gegen den Mond kommst du nicht an.
Die Tür schlägt hinter ihm zu. Er zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu und wickelt sich den Schal fest um den Hals, und dann rennt er los.