KAPITEL 1

Vancouver brannte.

Von draußen drang das Geräusch von berstendem Glas zu mir, gefolgt vom Jaulen einer Alarmanlage und wütenden Stimmen, die sich wüste Beschimpfungen entgegenbrüllten. Die unterschwellige Anspannung, die sich in den letzten Monaten zwischen Nefesh und Weltigen aufgestaut hatte, entlud sich an diesem Juniabend.

Polizei- und Rettungswagensirenen schrillten in der Ferne, und der Geruch nach Rauch drang durch mein geschlossenes Fenster. Vermutlich waren gerade alle Cops der Stadt auf Streife.

In meinem Büro war es still, doch die Anspannung in der Luft war überdeutlich. Ich rollte mit dem Bürostuhl vor meiner neuen Ermittlungswand herum. Ganz oben befanden sich Fotos von den vier Teilstücken des Sefer Raziel HaMalakh , die Team Jezebel bereits hatte. Auf kleinen Kärtchen darunter war jeweils der Ort vermerkt, an dem sie in unseren Besitz gelangt waren. Dazu hatte ich noch die Art des jeweiligen Aufeinandertreffens mit Chariot notiert und mit Schnüren Verbindungslinien zwischen einzelnen Stellen gezogen.

Die Wand hatte ich inzwischen ein paarmal umsortiert, dem fehlenden Bruchstück des Sefer , das Chariot besaß, und den Identitäten der anderen Mitglieder der Zehn war ich jedoch noch kein Stück näher gekommen.

Mein Handy vibrierte, und ich nahm den Anruf abwesend an. »Du sollst doch nicht wach bleiben, bis ich zu Hause bin, Pri.«

»Sie haben die Brücken in die Innenstadt dichtgemacht, keiner kommt mehr rein oder raus«, erwiderte meine beste Freundin und Mitbewohnerin angespannt. »Und ich weiß nicht, wie lange die Hastings Street noch offen ist. Es ist fast Mitternacht, wenn du also jetzt nicht nach Hause fährst, sitzt du wahrscheinlich da fest.«

»Dann schlafe ich in meinem Bürostuhl. Ich habe mit der Firma telefoniert, die das Party-Lagerhaus gekauft hat, in dem der Golem Wache geschoben hat. Das sind total seriöse Bauunternehmer aus der Gegend, die daraus Eigentumswohnungen machen.« Ich warf einen Dartpfeil auf das Foto von Isaac Montefiore, auf dem sein Gesicht halb von der Kamera weggedreht war. »Wieder eine Sackgasse.«

»Sei nicht so streng mit dir. Jezebels führen diesen Kampf seit vierhundert Jahren. Du bist gerade mal knapp vier Monate dabei. Und du brauchst dringend Schlaf.«

»Erst muss ich noch die Welt retten«, meinte ich.

»Geht es wirklich um die Rettung der Welt oder darum, deine Feinde zu besiegen?«

»Spielt das eine Rolle, solange sie aufgehalten werden?«

Gerechtigkeit als ehrenwertes Ziel rang mit meinem Verlangen, Isaac Montefiore so gründlich zu vernichten, dass von seinem Leben nur rauchende Ruinen übrig blieben, in deren Asche ich meinen Namen hinterlassen konnte wie eine Künstlerin, die ihr Meisterwerk signierte. Es war wichtig, sich bei der Arbeit Ziele zu stecken.

»Das spielt sogar eine große Rolle«, entgegnete Priya sanft. »Dein Vater wurde ermordet. Meinst du nicht, dass du dir Hilfe suchen solltest? Das ist nicht gesund.«

»Ich habe mit dreizehn schon mehr als ausführlich über meine Gefühle gesprochen. Isaac zu Fall zu bringen, ist die einzige Therapie, die ich brauche«, fuhr ich sie an.

Meine Mopsdame Mrs Hudson hob den Kopf von ihrem Schlafplatz in dem Hundebett, das in einer Zimmerecke stand, und winselte leise. Sie hasste es, wenn ihre Mütter sich stritten.

»Genau das meine ich ja.« Priya seufzte gekränkt. »Für dich geht es nicht mehr um Chariot, sondern nur noch um Isaac. Seinetwegen hast du zwei geliebte Männer verloren und …«

Ich legte auf, rieb mir über die Augen und hätte mir beinahe den Finger hineingestochen, als ein lauter Knall das Gebäude erschütterte. Ein weiterer Knall folgte – jemand rammte die Sicherheitstür im Erdgeschoss ein –, dann hörte ich die Triumphschreie von siegesgewissen Plünderern, die Beute witterten.

Nicht mit mir.

»Bleib«, wies ich Mrs Hudson an und schlich mich die beiden Treppenabsätze hinunter in die Lobby. Die Plünderer zertrümmerten gerade eine der Bürotüren.

Ich passte einen Mann ab, der mit einem Armvoll Laptops aus der kleinen Game-Design-Firma kam, die von zwei Nefesh-Frauen betrieben wurde. Die beiden hatten die Räume erst vor Kurzem angemietet, nachdem sie jahrelang von ihrer Wohnung aus geackert hatten, um in dem männerdominierten Geschäft Fuß zu fassen. Das hatten sie mir erzählt, als wir mal gemeinsam in der Schlange vor dem Café an der Straßenecke gewartet hatten.

»Bring das zurück«, forderte ich den Kerl auf.

Der untersetzte Mann schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an. Er musste dringend mal zum Friseur und stank nach schalem Bier und saurem Hass. »Bist du eine von den Drecks-Nefesh?«

Ich verschränkte die Arme. »Und was wäre, wenn?«

Sein Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde nach links.

Ich fuhr herum, komplett in meine stachelige Blutrüstung gehüllt, und blockte den Schlag des Angreifers mit dem Unterarm ab. Der Baseballschläger spaltete sich mittendurch, meine Rüstung hielt dagegen tadellos. Mit Schwung riss ich dem Kerl den Schläger aus der Hand und schwang ihn durch die Luft. Nur Zentimeter neben dem Kopf des Manns krachte der Schläger in die Wand.

Der scharfe Geruch nach Urin erfüllte die Luft, und der Kerl nahm die Beine in die Hand.

»Jetzt zu dir.« Ich ließ die Rüstung verschwinden und wandte mich mit einem kalten Lächeln wieder dem anderen Mann zu. »Du wirst die Computer zurückbringen, das Büro aufräumen, und dann wirst du zusammen mit deinen Freunden für den Rest der Nacht hier Wache halten und dafür sorgen, dass so etwas nicht noch mal passiert

Mit einem verächtlichen Schnauben marschierte er mit den Laptops an mir vorbei. Ich packte ihn an den Armen und riss sie mit einem Ruck nach unten, was ihm beide Schultern auskugelte. Sein dünner, hoher Aufschrei erinnerte frappierend an den eines Kätzchens. Da seine Arme nun nutzlos an seinen Seiten baumelten, fielen die Laptops zu Boden. Ich nahm mir vor, die Besitzerinnen zu fragen, wie viele ersetzt werden mussten.

»Haben wir einen Deal?«

Er wimmerte, stierte unfokussiert in die Gegend und atmete schwer.

»Du Riesenbaby.« Ich renkte ihm die Gelenke nacheinander wieder ein. Die Technik hatte Miles mir während einer Trainingsstunde beigebracht, bei der er mir die Schulter ausgekugelt hatte. Gnade kannte er bei unseren Übungseinheiten nicht. Tatsächlich hatte das meine Kampffähigkeiten um ein Vielfaches verbessert, doch jedes Mal, wenn ich die Fitnessräume verließ und dabei wie ein gut durchgeklopftes Steak aussah, hasste ich Levi dafür, dass er mich hatte hängen lassen.

»Deal oder kein Deal?«, wollte ich von dem Plünderer wissen.

Er hielt sich die Schultern. »Du durchgeknallte Schlampe.«

Ich riss den Baseballschläger zusammen mit einem Schwall Putz aus der Wand und klatschte ihn mir gegen die Handfläche. »Ich habe Magie und einen Baseballschläger. Du hast etwa zweihundertsechs echt zerbrechliche Knochen. Wofür entscheidest du dich? Willst du mich weiter beleidigen, oder entscheidest du dich doch lieber für unsere geschäftliche Vereinbarung?«

»Wir werden Wache halten.« Der verächtliche Zug um seinen Mund verschwand, als ich den Schläger anhob. Er zuckte zusammen, doch ich ließ den Schläger nur an meiner Schulter ruhen.

Ich zog eine Augenbraue nach oben. »Na dann, hopp.«

Sofort rannte er wieder in das Büro und gab seinen Freunden Anweisungen. Zufrieden, weil mein Gebäude geschützt sein würde, bis die Plünderungen nachließen, ging ich zurück nach oben, um Mrs Hudson zu holen. Den kaputten Baseballschläger stellte ich neben meinem Ecksafe ab, dann schnappte ich mir mit einem leisen Pfiff meine Lederjacke.

Die Hündin kannte das bereits, da wir dieses Spiel inzwischen mehrere Male pro Woche spielten. Sie hielt still, sodass ich die Leine an ihrem Halsband einhaken konnte, bevor wir die Treppe hinuntergingen und in die Nachtluft hinaustraten. Die Einbrecher waren so sehr damit beschäftigt, das Büro wieder aufzuräumen, dass sie von unserem Abgang nichts mitbekamen. Ich mochte Männer, die Befehle befolgten.

Draußen herrschte blankes Chaos. Schaufenster waren eingeschlagen worden, und die Leute nutzten jede Ausrede, um die Gebäude auszurauben. Jemand rannte an mir vorbei und schwenkte dabei einen Karton voller kitschiger Kanada-T-Shirts, als wäre es die olympische Fackel. Hoffentlich würde die Dummheit dieser Menschen zeitnah dafür sorgen, dass sie aus dem Genpool ausgeschlossen wurden.

Ich schnappte mir Mrs Hudson, damit sie nicht auf die Glassplitter trat, die auf dem Kopfsteinpflaster glitzerten wie Diamantstaub. Auf dem Weg durch den Tumult meldete sich eine leise Stimme in mir, die meinte, dass ich alldem nicht derart gleichgültig gegenüberstehen sollte. Immerhin hatte meine Mutter den Anti-Nefesh-Gesetzesentwurf verfasst, der die Lunte an dieses Pulverfass aus Hass und Angst gelegt hatte.

Wir kamen an einem historischen Gebäude vorbei, das in Flammen stand. Das Dach war eingebrochen, und Feuerwehrleute kämpften verzweifelt mit Wasserschläuchen gegen den Brand, um wenigstens die Art-déco-Fassade zu retten.

Vor zwei Monaten hatte die Königin von Hedon House Pacifica darüber informiert, dass einer der Gründer der Reinheitsallianz Geld über den magischen Schwarzmarkt gewaschen hatte. Das allein war schon eine üble Sache. Hinzu kam, dass der aktuelle Vorsitzende der Partei, Jackson Wu, an diesem Unternehmen beteiligt war.

Ich nickte einem Jungunternehmer mit einem Rucksack voller Spraydosen zu, die reißenden Absatz fanden – hauptsächlich bei Weltigen, die die Ideale der Reinheitsallianz teilten, wenn ich die Graffiti an den umliegenden Wänden richtig deutete. Kapitalismus vom Feinsten.

Aus mir vollkommen unverständlichen Gründen hielt Levi die Sache mit Wu immer noch zurück. Das Gesetz war das Thema aller Nachrichtensendungen, und die täglichen Berichte über die Wut der Weltigen und die Sorge der Nefesh über die potenziellen Auswirkungen der Gesetzesänderung schürten die Unruhe der Leute nur noch. Warum ließ Levi die Menschen dieses Chaos durchleben, wo er es doch einfach beenden könnte?

Ein berittener Polizist trabte an mir vorbei und stieß einen Pfiff mit einer Trillerpfeife aus. Seine Maßregelung galt einer geschäftigen Gruppe, die an einem Auto rüttelte. Die Leute jubelten dem jungen Mann zu, der auf der Motorhaube stand und die Windschutzscheibe eintrat.

Als die Tage länger und wärmer geworden waren, waren auch die Spannungen zwischen den beiden Gemeinschaften gewachsen, bis sich heute ein läppischer Streit zwischen einem Nefesh- und einem weltigen Sportfan über Tickets für den Stanley Cup zu stadtweiten Unruhen ausgeweitet hatte. Die Ausschreitungen dauerten nun schon zehn Stunden an, und so bald würden sie wohl auch nicht nachlassen.

Eishockey-Tickets. Wie kanadisch. Ich lachte in mich hinein und machte ein paar Schritte zur Seite, um einem Pick-up auszuweichen, der mir in Schlangenlinien entgegenkam. Über ihm zucken waschechte Blitze durch die Luft.

Die junge Frau, die für die elektrischen Entladungen verantwortlich war, schrie: »Sterbt, Weltige!«, als der Pick-up an mir vorbeiraste.

Mrs Hudson und ich schafften es heil zu meinem Auto Moriarty. Obwohl der graue Toyota das einzige Fahrzeug auf dieser Ebene des Parkhauses und damit leichte Beute war, hatte sich niemand daran zu schaffen gemacht. Zumindest dieser Lieblingsfeind würde wohl auf ewig Teil meines Lebens bleiben.

Nachdem Mrs Hudson es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte, lenkte ich das Auto auf die Water Street hinaus. Wegen der vielen Leute, die in Gruppen durch die Stadt marodierten, und der Straßensperren der Polizei kam ich nur langsam voran.

Die Radiosender übertrugen Ansprachen vom Bürgermeister und von Levi, die zu Ruhe aufriefen und die Leute aufforderten, zu Hause zu bleiben. Vor allem Levi betonte eindringlich, dass Gewalt nicht toleriert werden würde. Das Durcheinander und der Hass setzten ihm sicher unglaublich zu.

Da die Brücken nicht befahrbar und die Straßen jenseits von Gut und Böse waren, sah ich mich gezwungen, mir einen Weg kreuz und quer durch die Innenstadt zu suchen, bis ich es schließlich zur Auffahrt auf die Cambie Street Bridge schaffte und wieder nach Westen abbog.

Im Vergleich zur Innenstadt herrschte im Rest von Vancouver eine fast schon gespenstische Stille. Es war gerade mal ein Uhr nachts Anfang Juni, und vor den Bars und Restaurants hätte reger Betrieb herrschen sollen. Doch stattdessen zogen Block für Block dunkle Schaufenster und mit Brettern vernagelte Türen an mir vorbei.

Moriarty war das einzige Fahrzeug auf der Straße. Nur einmal begegnete mir ein leerer Bus. Er hatte etwas von einem Geisterschiff. Auf der Zielanzeige war ein gruseliges »AUSSER BETRIEB« in fetten Großbuchstaben zu lesen. Als er an mir vorbeifuhr, strahlten mich lächelnde Gesichter von der Werbung für ein Turnier zugunsten des Vancouver General Hospital an. Golf. Igitt. Ein Fünfer-Eisen in den Händen machte nur dann gute Laune, wenn man gerade mit einem Mord davongekommen war.

Die trostlose Stimmung in meiner Heimatstadt hätte mir sicher zu schaffen gemacht, wäre ich nicht von dem Jagdfieber gepackt worden, das mich jedes Mal ergriff, wenn ich diese ganz bestimmte Stecke fuhr.

Ich hielt am Bordstein ein gutes Stück von Isaacs Herrenhaus in Dunbar entfernt an, stellte den Motor ab und starrte in die Dunkelheit, die sein beeindruckendes Anwesen einhüllte. Der Wind flüsterte in den Bäumen des Pacific Spirit Regional Park hinter mir, eines weitläufigen Waldgebiets mit zahlreichen Wanderwegen, das größer war als der Golden Gate Park in San Francisco.

Ich trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, während ich Isaacs Fenster aufmerksam im Blick behielt, falls sich dahinter etwas rührte.

Er war das einzige Mitglied der Zehn von Chariot, dessen Identität wir kannten, und ihn zu beschatten, hatte bislang nichts gebracht. Seine Meetings standen immer in direkter Verbindung zu seiner Sicherheitsfirma, und bei sozialen Anlässen war seine Frau mit von der Partie, die ihren Ehemann hasste und sicher nicht Teil der Organisation war. Das bedeutete, dass alles, was mit Chariot zu tun hatte, übers Telefon oder über Textnachrichten laufen musste.

Wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir jedes seiner Geräte verwanzt, in der Hoffnung, so einen Durchbruch zu erzielen, aber der Mann war auf Cybersecurity und Datenverschlüsselung spezialisiert. Er wusste, wie man seinen digitalen Fußabdruck versteckte – unter anderem mit einem durch ein VPN, ein virtuelles privates Netzwerk, verschlüsselten Internetverlauf. Außerdem koppelte er sein Handy nicht mit seinem Auto.

Isaac schien unantastbar.

Ein mir bekannter Tesla tauchte am anderen Ende des Blocks auf, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Seit ich im April Isaacs Verbindung zu Chariot aufgedeckt hatte, schlief ich kaum noch. Also hatte ich mit den nächtlichen Überwachungen begonnen, weil ich meine Schlaflosigkeit so wenigstens nutzen und das Montefiore-Anwesen ausspähen konnte.

Die Alarmanlage deckte Vorder- und Hintertür sowie die Fenster im Erdgeschoss ab. Kameras gab es jedoch nicht, und jemand, der sich öffentlich derart vehement gegen Magie aussprach, nutzte sicher keine Schutzzauber.

Während mancher meiner Nachteinsätze war auch der Tesla da. Er war das Schokoladenfabrik-Äquivalent unter den Elektroautos: Niemand kam rein oder raus. Er hielt immer zu weit entfernt, als dass ich hätte hineinschauen können, und ich näherte mich ihm nie.

Brauchte ich auch gar nicht – Levis Gesicht war auf ewig in meinen Verstand eingebrannt. Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er die langen Finger in einer eleganten Geste auf dem Lenkrad ruhen ließ. Nach dem chaotischen Tag heute hatte er sicher seine Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet – seine Art, ein bisschen runterzukommen. Wachsam blieb er trotzdem, und ihm würde jedes Detail auffallen, das vom Normalzustand abwich. Hatte er sich die rabenschwarzen Haare gerauft, sodass ihm einzelne Strähnen vom Kopf abstanden, und zeigten sich violette Schatten unter seinen Augen, weil er so erschöpft war?

Nie im Leben hätte er das Krisenzentrum verlassen, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass Polizei und Feuerwehr alles unter Kontrolle hatten und seine Anwesenheit die Leute nur von ihrer Arbeit ablenkte. Und ich verwettete mein bescheidenes Vermögen darauf, dass Miles strenge Anweisungen hatte, ihn sofort zu informieren, wenn sich die Situation auch nur um ein Jota änderte.

Er musste total fertig sein, warum also war er hergekommen? Wusste er, dass ich da war? War ihm klar, was ich hier machte?

Ich klammerte mich so fest ans Lenkrad, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Tagsüber ignorierten Levi und ich uns sorgfältig. Als Hausoberhaupt war er immer noch mein Chef, doch ich hielt mich vom Hauptgebäude so gut wie möglich fern. Wenn wir uns denn mal über den Weg liefen, taten wir weiter so, als wären wir Erzfeinde.

Aber war das überhaupt noch vorgespielt? Ich wusste es nicht mehr.

Mrs Hudson klopfte mit dem Schwanz auf den Sitz und stemmte die sandfarbenen Pfoten gegen das Armaturenbrett. Sie war nur ein paarmal in Levis Tesla mitgefahren, aber irgendwie erkannte sie das Auto ihres Angebeteten jedes Mal.

Ich nahm einen Schluck von meinem pappsüßen Kaffee, den ich mir bei einem Drive-in mitgenommen hatte, doch den bitteren Geschmack bekam ich auch mit noch so viel Zucker nicht von der Zunge.

»Nein, Süße. Wir können nicht …« Fünfzehn Jahre lang hatten Levi und ich einander Beleidigungen an den Kopf geworfen und ständig versucht, uns gegenseitig zu übertrumpfen, was beinahe genauso viel Spaß gemacht hatte wie unsere Wortgefechte als Freunde. Wir hatten uns unsere Narben gezeigt, er hatte mich mit Biscotti gefüttert und mir dann das perfekte Glück geschenkt, auch wenn es nur von kurzer Dauer gewesen war. »Levi gehört nicht mehr zu uns.«

Normalerweise ignorierte mich die Mopsdame und reckte weiter den Hals, aber heute gab sie auf. Sie gab ein leises Seufzen von sich und ließ sich zurück auf den Beifahrersitz sinken, wo sie resigniert den Kopf auf die Pfoten legte.

Blut rauschte in meinen Ohren, und mein Brustkorb fühlte sich plötzlich ganz eng an. Er hatte meinen Hund kaputt gemacht. Und das war einfach zu viel. Ich öffnete die Autotür mit einem Ruck. Vielleicht war das dumm oder eine Kurzschlussreaktion. War mir egal.

Ich stieg aus, stopfte meine dunklen Locken unter eine schwarze Strickmütze und streifte mir dünne Handschuhe über. Meine Lederjacke ließ ich im Auto zurück, auch wenn ich in der kühlen Brise ein wenig fror. Dem Tesla und der potenziellen Reaktion seines Fahrers gönnte ich keinen weiteren Blick, als ich mich auf Isaacs Grundstück schlich.

Schon vor ein paar Wochen hatte ich mich für den Weg über das Garagendach und entlang des Ziersimses entschieden, der direkt unter einem Badezimmerfenster verlief. Meiner Erfahrung nach verriegelten die wenigsten Leute die Badezimmerfenster im ersten Stock. Und wenn Isaac es doch tat? Dann war es eben ein gescheiterter Versuch.

Aber wenn nicht? Dann konnte ich schnell sein Arbeitszimmer durchsuchen und direkt wieder verschwinden.

Dank meiner verstärkten Körperkraft zog ich mich relativ mühelos nach oben. Mein rechter Oberschenkel mit der alten Verletzung protestierte schwach, doch das kompensierte ich durch den vermehrten Einsatz meines Oberkörpers. Fest an die Hauswand gedrückt arbeitete ich mich auf dem Sims Stück für Stück vor. Der Ausblick auf den Garten, den nachtblühende Pflanzen silbern schimmern ließen, war beeindruckend, doch ich zählte weiter die Fenster ab, bis ich am vierten angelangt war.

Der Rahmen fühlte sich klebrig an, und der Winkel, in dem ich das Fenster aufzustemmen versuchte, war ungünstig, also ließ ich mir Zeit. Ich wollte schließlich kein Geräusch verursachen und das Glas auch nicht beschädigen. Plötzlich hörte ich das kaum wahrnehmbare Quietschen von Torangeln, und eine Gestalt schlüpfte lautlos in den Garten. Es hätte auch Tag sein können, so gut war Levis Gesicht im Mondlicht sichtbar.

Meine Brust wurde wieder eng. Egal, wie sehr ich mir das Gegenteil wünschte, der eiskalte Ausdruck in Levis blauen Augen blieb, ebenso wie der unlesbare Gesichtsausdruck, den er wie eine Maske aufgesetzt hatte. Wie gerne hätte ich den tiefblauen Ton gesehen, den seine Augen immer angenommen hatten, kurz bevor er mich küsste. Damals, als sich seine Welt noch um mich gedreht hatte.

Ich verlor den Halt. Mein Fuß rutschte ab, und ich prallte hart mit dem Knie gegen den Mauervorsprung, während ich mich verzweifelt mit den Fingerspitzen an die Fensterbank klammerte.

Levi machte einen Schritt in meine Richtung, blieb dann jedoch stehen. Es hatte mal eine kurze Zeit gegeben, in der ich hätte fallen können und sicher gewesen wäre, dass er mich auffing.

Ein Muskel an meinem Kiefer zuckte. Ich zog mich wieder hoch und packte das Fenster erneut, um es dieses Mal richtig aufzuschieben und mir so Zugang zum Haus zu verschaffen. Dann kletterte ich ins Bad und befahl mir, mich ja nicht umzudrehen. Nicht noch mal.

Levi war weg.