KAPITEL 3

Statt einer Antwort legte ich mir einen Finger an die Lippen, schaltete mein Handy aus und bedeutete ihr, das Gleiche zu tun. Wer wusste schon, wie stark Mr Cybersecurity seine Frau überwachte?

Um auf Nummer sicher zu gehen, schloss ich beide Geräte zusammen mit meinem Laptop in Eleanors Büro ein – es ging doch nichts über eine gesunde Paranoia. Meine Grafikdesign-Büronachbarin war gerade nicht da, aber wir hatten Schlüssel zu den Räumen der jeweils anderen. Mit dem Gefühl, alle infrage kommenden Sicherheitsmaßnahmen getroffen zu haben, kehrte ich in mein Büro zurück und machte eine auffordernde Geste hin zu Nicola.

»Ich will Isaac verlassen.«

Ich öffnete und schloss den Mund ein paarmal und gab dabei sicher eine hervorragende Fisch-Imitation ab. »Mrs Montefiore …«

»Nicola, bitte.« Ich hatte Levis Mutter immer als stille Frau eingeschätzt, deren verletzliche Erscheinung zu ihrem mangelnden Rückgrat passte. Heute hielt sie sich jedoch kerzengerade, und ich erkannte die Entschlossenheit in ihrem nach vorn gereckten Kinn und dem Unterton, der zusammen mit dem italienischen Akzent in ihren Worten mitschwang.

»Ist gestern Nacht noch was passiert ?« Hatte Isaac meinen nächtlichen Besuch doch mitbekommen und seine Wut an seiner Ehefrau ausgelassen? »Droht Ihnen Gefahr, wenn Sie zu Hause bleiben?«

»Nein. Isaac hat nie die Hand gegen mich erhoben, aber …« Sie fummelte an ihrem Schal herum, der elegant um ihren Hals drapiert war. »Ich weiß nicht, was es mit dieser Schriftrolle auf sich hatte, die ich beim Aufräumen von Levis Zimmer vor ein paar Monaten gefunden habe, doch ich weiß, dass sie wichtig ist.« Ihr Schulterzucken wirkte so typisch italienisch. »Warum hätte man sie sonst verstecken sollen?«

Das war eine berechtigte Frage.

»Aber es war nicht Isaac, der sie dorthin gelegt hat. Er wusste nichts von Levis Versteck, und selbst wenn, hätte er es nie benutzt.« Sie verzog die korallenrot geschminkten Lippen. »Sie wissen, wie Isaac und Levi zueinander stehen.«

Interessant, dass sie es nicht als Frage formuliert hatte. »Ja.«

Sie nickte. »Levi hat sie da auch nicht hingetan. Wo hätte er als Kind so etwas herhaben sollen? Und jetzt ist er ein erwachsener Mann und hat sein eigenes Haus.«

»Ja«, erwiderte ich wehmütiger als beabsichtigt.

»Sie wissen etwas darüber. Sie können helfen.« Oh verdammt. Dass Nicola sich Gedanken über die Schriftrolle machte und das als eine Art Rechtfertigung nutzte, um sich aus Isaacs Fängen zu befreien, war gefährlich.

»Ich arbeite exklusiv für eine Versicherungsgesellschaft und nehme keine Fälle von Privatleuten mehr an.« Rasch kritzelte ich eine Telefonnummer auf einen Klebezettel. »Diese Scheidungsanwältin kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Sie kann Ihnen dabei helfen, einen Weg zu finden, wie Sie ihn verlassen können …«

»Es war …« Nicola schürzte die Lippen und seufzte. »Es war Adam, nicht wahr?«

»Adam?« Meine Stimme klang hölzern, mein Lächeln glich vermutlich eher einer Grimasse.

»Si. Anders kann ich es mir nicht erklären. Er hat die Schriftrolle versteckt, als er Isaac an jenem Abend besucht hat. Vor vielen Jahren. Da habe ich Ihren Vater zum letzten Mal gesehen.«

Mir blieb der Mund offen stehen. »W-woher …?«

Sie lächelte und sah ihrem Sohn dabei so ähnlich, dass ich den Blick für einen Moment abwenden musste. »Alle unterschätzen die Ehefrauen und Mütter, aber wir wissen mehr, als man meint, bella

Ich tippte mir mit einem Kugelschreiber gegen den Oberschenkel und versuchte, das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Sie wusste nichts von der Bedeutung der Schriftrolle. War ihr bewusst, dass Isaac zu Chariot gehörte? Bis jetzt war mir tatsächlich nie der Gedanke gekommen, mit ihr darüber zu sprechen, dabei war sie seit vielen Jahren mit dem Mann verheiratet. Sie war nicht blind – genau wie Talia, die von der Beschwerde der Krankenschwester gewusst hatte, der ich nach dem Ausbruch meiner magischen Fähigkeiten nach meinem Autounfall beinahe die Magie entzogen hätte. Auf die Idee, dass Talia Bescheid wusste, wäre ich auch nie gekommen.

»Sagt Ihnen das Wort ›Chariot‹ irgendwas?«, fragte ich.

Nicola schüttelte den Kopf, und nichts in ihrem Blick oder Gesichtsausdruck deutete auf eine Lüge hin. »Nein. Steht das damit in Verbindung?«

»Vergessen Sie, dass Sie es je gehört haben.« Das klang harscher, als ich es beabsichtigt hatte, also schlug ich einen versöhnlicheren Tonfall an. »Bitte.«

»Oh, ragazza. Werden Sie mir helfen? Ich kann nicht mehr mit ihm leben. Mein Sohn wurde schon so sehr verletzt, und jetzt wurde ihm auch noch das Herz gebrochen.«

Ich knackte den Stift in zwei Teile. »Das spielt keine Rolle.«

»Für mich schon. Dieser Mann  …« In ihrem Ton schwang so viel Abscheu mit, und ihre Augen hatten sich verdunkelt. »… hat genug Schaden angerichtet. Bei uns beiden. Es reicht. Basta. « Sie machte eine ausladende Handbewegung.

Nicola wirkte wie die personifizierte Entschlossenheit. Sie würde das durchziehen, mit mir oder ohne mich. Isaac hatte meinen Vater ermorden lassen, weil dieser sich von ihm abgewandt hatte, also musste ich sehr vorsichtig vorgehen, damit die Geschichte sich nicht wiederholte.

Bei Chariot gab es bei Verrat keine zweite Chance. Ein Vergehen, und das war’s. Endgültig. Das galt erst recht für Isaac und seine Verlustängste.

Nicola würde ein langes, erfülltes Leben führen. Levi würde mich hassen, aber ich war nun mal einer der wenigen Menschen, die hinter Isaacs Fassade blickten, und darum konnte ich Nicola davon abhalten, versehentlich irgendwas auszuplaudern, das ihr Leben in Gefahr bringen würde. Mit mir an ihrer Seite hatte sie eine bessere Chance, dieses Minenfeld unbeschadet zu durchqueren, als ohne mich.

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte ich.

Ihre Schultern sackten nach unten, und sie sah so erleichtert aus, dass mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

»Wo soll ich anfangen?« Normalerweise beauftragten mich Menschen in ihrer Situation, weil ihre Ehepartner fremdgingen, oder manchmal auch, weil sie Geld unterschlugen. Jetzt war ich neugierig auf ihre Antwort.

»Finden Sie dieses Ding, von dem er so besessen ist, damit ich die Hälfte davon bekomme. Ich will, dass er weiß, was ich ihm weggenommen habe.«

Ich schluckte ein hysterisches Lachen runter. Das Einzige, was Isaac wirklich unbedingt wollte, waren die vier Schriftrollenbruchstücke, die sich im Besitz von Team Jezebel befanden. Mit ihnen wollte er Unsterblichkeit erlangen. Würde ziemlich schwer werden, ihm die Hälfte davon vor dem Scheidungsgericht abzuluchsen. Allerdings wusste sie, dass Levi eine Schriftrolle besaß, und sie hatte diese nicht explizit erwähnt, worauf bezog sie sich also?

Sie musste mein Zögern bemerkt haben, denn sie lehnte sich etwas nach vorn und stützte sich mit den Händen auf meinem Schreibtisch ab. »Sie haben doch gestern nach einem Hinweis auf dieses Ding gesucht, nicht wahr? Die bamah

»Die was bitte?« Ich konnte den Begriff noch nicht mal googeln, weil mein Handy und mein Laptop sich in Eleanors Büro befanden.

»Bamah . Vor ein paar Tagen habe ich ihn beim Telefonieren belauscht. Isaac hat dabei wohl auch zum ersten Mal davon gehört. Er war dann ganz aufgeregt und ist seitdem davon besessen, sie zu finden.«

Wenn diese bamah Isaac wichtig war, war es sie ab jetzt auch für mich. Insbesondere, wenn Deepa Anand irgendwie damit in Verbindung stand.

»Wissen Sie sonst noch irgendwas darüber?« Ich schnappte mir einen anderen Kugelschreiber.

»Er sagte, dass sie chiuso ist … Come si dice? « Sie untermalte ihre Worte mit ausladenden Gesten. »Geschlossen.«

Das notierte ich mir. »Vielleicht ist diese bamah nichts, was Ihnen dabei nützt, Isaac zu verlassen«, warnte ich sie. »Aber so oder so werde ich Ihnen dabei helfen, aus dieser Situation rauszukommen.« Sie griff nach ihrem Portemonnaie, aber ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein. Bitte. Ich kann Ihr Geld nicht annehmen.«

Ich nehme lieber das Ihres Sohns. Normale Kommunikation war mit Nicola nicht möglich, falls Isaac tatsächlich ihr Handy verwanzt hatte, also würde Levi den Mittelsmann spielen müssen. Und das war doch wirklich die Kirsche auf dem Sahnehäubchen unseres beschissenen letzten Aufeinandertreffens.

Nachdem ich die Telefone und meinen Laptop wieder rübergeholt hatte, informierte ich Nicola darüber, dass ich über Levi mit ihr in Kontakt bleiben würde, und verdeutlichte ihr noch einmal, wie wichtig es war, dass sie ihrer normalen Alltagsroutine nachging, bis sie von mir hörte.

»Ich habe in dieser Ehe schon so lange überlebt. Ich werde vorsichtig sein. Und Ashira?« Nicola drückte meine Hand. »Ich weiß nicht, was mit Adam passiert ist, aber wenn Isaac etwas damit zu tun hatte? Mi dispiace. «

»Nicht Ihre Schuld«, erwiderte ich mit belegter Stimme.

»Bitte lassen Sie die Vergangenheit nicht Ihre Zukunft bestimmen.« Sie schaute abwesend aus dem Fenster. »Lassen Sie nicht zu, dass Sie eines Tages aufwachen und feststellen, dass Sie Ihr Leben und Ihr Glück aus Angst weggeworfen haben.«

Gute Frau, da sprichst du mit der falschen Person. »Das möchte wirklich niemand«, sagte ich.

Nachdem sie gegangen war, ließ ich mich wieder in meinen bequemen Bürostuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Das verdammte Schicksal legte es wirklich darauf an, dass sich meine und Levis Wege ständig kreuzten. Mein Leben war keine Liebeskomödie.

Die Leute unterschätzten immer die Ehefrauen und Mütter. Hatte Nicola eine Verbindung zwischen dieser bamah , der Schriftrolle und meinem Vater hergestellt und war damit zu der vermutlich einzigen Privatdetektivin gekommen, die ein persönliches Interesse an alldem hatte? Selbst wenn sie mich zur Mithilfe manipuliert hatte, war ihre Erleichterung echt gewesen, als ich zustimmte. Jetzt hatte ich ihr mein Wort gegeben und würde es nicht brechen.

Ich atmete langsam aus. Augen zu und durch, Ash.

Der Anruf bei Levi ging auf die Mailbox, wen sollte ich also anrufen, um rauszufinden, was er gerade machte? Pest oder Cholera? Mir war nicht nach einem Schlagabtausch mit seinem Vorzimmerdrachen, deshalb entschied ich mich für das kleinere Übel.

Ich drückte eine Kurzwahltaste. »Hallo, Miles. Hier ist die freundliche Jezebel aus der Nachbarschaft.«

»Und so wird ein stressiger Tag zu einem absolut beschissenen. Wundervoll«, gab er trocken zurück.

»Unglücklicherweise liegt das weniger an meiner bezaubernden Persönlichkeit als daran, dass du kein Leben hast. Wo ist Seine Lordschaft?«

Stille.

»Hallo? Miles?« Ich stellte das Handy auf Lautsprecher, legte es auf meinen Schreibtisch und klickte mit der Maus, damit mein Laptop sich einschaltete. Was war eine bamah ?

»Seit zwei Monaten tust du alles, um ihm aus dem Weg zu gehen«, entgegnete er. »Was willst du jetzt plötzlich von ihm?«

»Über dein ungesundes Interesse an meinem Leben haben wir uns doch schon mal unterhalten. Ich tue überhaupt nichts, was irgendwie mit ihm in Verbindung steht. Das würde ihm eine Bedeutung zumessen, die er für mich nicht mehr hat.«

Ich hörte statisches Rauschen und ein Seufzen. Schließlich setzte Miles deutlich leiser wieder zum Sprechen an. »Wirst du ihm wieder wehtun?«

Ich schnaubte, um den Schmerz zu überspielen, den diese Frage in mir auslöste. »Wo bliebe denn die spaßige Unberechenbarkeit, wenn ich dir das verraten würde? Und du kannst mich mal. Ich habe einen Fall, über den ich ihn umgehend informieren muss.«

Laut dem allwissenden Internet war bamah das hebräische Wort für eine heilige oder hohe Stätte. Die Engelsfeder war an einer von Ashiras Kultstätten in der Nähe der archäologischen Ausgrabung entdeckt worden, bei der Omar Tannous gearbeitet hatte. Hatte Nicola möglicherweise »vergraben« gemeint und nicht »geschlossen«? Könnte es noch ein anderes wichtiges Artefakt geben, das Chariot in einer bamah vermutete? Unsere Bruchstücke vielleicht? Und was hatte Deepas Tod mit alldem zu tun? Hatte er überhaupt etwas damit zu tun?

»Sollte ich darüber Bescheid wissen?«, fragte Miles.

»Ja, aber du musst dich hinten anstellen. Levi sollte es als Erster erfahren.«

Darüber musste Miles einen Moment lang nachdenken. »Komm ins Hauptgebäude. Und gib Rafael auch Bescheid. Es gibt noch was, das wir alle miteinander besprechen müssen.«

»Bekomme ich eine Vorwarnung, um was es geht?«

»Nein. Wir treffen uns in einer halben Stunde in Levis Büro.« Er legte auf, bevor ich dagegen protestieren konnte.

Es war nur ein Raum und ich ein Profi. Alle Erinnerungen, die ich mit diesem Büro verband, waren irrelevant, und sie waren auch sicher nicht der Grund für die Umwege, die ich auf der auf der Fahrt dahin machte.

House Pacifica erstrahlte in dem tiefdunklen Rotton, den das Gebäude während der letzten beiden Monate dauerhaft angenommen hatte. Ich bog in die Tiefgarage ein und rutschte unruhig auf meinem Sitz herum. Bislang gab es keinen Beweis dafür, dass das Haus wie ein Stimmungsring auf Levi reagierte, und selbst wenn, war das nicht mein Problem.

Im sechsten Stock angekommen marschierte ich an den Kunstwerken vorbei, die die blassgoldenen Wände schmückten, und lehnte mich über den Empfangstresen, hinter dem Levis persönliche Assistentin ihren Schreibtisch hatte.

»Verrrroooniiiiicaaaa«, trällerte ich und genoss, wie sie das Gesicht verzog.

Die blonde Frau sah in ihrem Rock mit Hahnentrittmuster und der cremefarbenen Bluse wie immer aus wie aus dem Ei gepellt. Sie stand auf und verschränkte die Arme. »Sie werden ihn jetzt nicht ablenken. Er hat in zehn Minuten ein außerordentlich wichtiges Meeting.«

»Ich weiß. Deswegen bin ich hier.«

Sie stöhnte auf. »Nein. Ignorieren Sie ihn doch bitte weiter. Das war so angenehm.« Sie zupfte an einem ihrer Perlenohrringe.

Grinsend deutete ich auf ihre Hand. »Sie haben da einen schrecklichen Tell. Spielen Sie ja nie Poker. Sie können es ruhig zugeben – Levi war ohne mich unausstehlich.«

»Miles weiß nicht, wann man besser mal die Klappe hält.« Sie blätterte einen Stapel Dokumente durch und klebte »Hier unterschreiben«-Zettel auf einige Seiten. »Levi ist noch nicht da. Warten Sie im Empfangsbereich.«

»Kann ich …?« Meine Stimme zitterte ein wenig, und ich räusperte mich. »Ich glaube, ich brauche einen Augenblick, um mich zu akklimatisieren, bevor Levi kommt. Kann ich drinnen warten?« Jetzt, wo ich so kurz davor stand, das Büro zu betreten, geriet meine unbeschwert-selbstsichere Fassade ins Wanken.

Veronica war da gewesen, als ich zuletzt in Levis Büro gewesen war – direkt nachdem ich vom Tod meines Vaters erfahren hatte. Damals hatte sie Mitgefühl gezeigt. Ich hoffte, dass sie das jetzt wieder tun würde.

Sie zupfte einen weiteren Klebezettel ab, und ein Muskel in ihrer Wange zuckte. Ich wappnete mich gegen ein Nein. Doch irgendwas musste ihr wohl meine Verzweiflung verraten haben, denn ihr strenger Gesichtsausdruck wurde weicher, und sie gab mit einem Nicken nach. »Wenn Sie was anfassen, sind Sie tot.«

»Würde ich Ihnen diese Genugtuung verschaffen? Wohl kaum.«

Ich verharrte für einen Moment im Türrahmen, weil der Duft von Levis Magie schwer in der Luft hing. Bei meinem letzten Besuch hatten Sherlock-Bücher auf dem Couchtisch gelegen und daneben dieses dumme Schloss, mit dem er sich so begeistert von mir das Knacken hatte beibringen lassen.

Sämtliche Spuren, die ich hinterlassen hatte, waren systematisch entfernt worden. Selbst das Sofa, auf dem Levi mich getröstet hatte, nachdem ich von der Ermordung meines Vaters erfahren hatte, war durch ein ähnliches Modell ersetzt worden. Sein Charme reichte jedoch nicht an den des Originals heran.

Ich ließ mich auf dem erinnerungsfreien Sitzmöbel nieder, den Kopf gesenkt, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt. Mich hinter sich zu lassen, war eine Sache, aber Levi hatte mich ausgelöscht. Warum war das für ihn so einfach?

Ein nerviger Klimperton näherte sich von draußen.

»Mach das aus, Ark«, hörte ich Miles’ Stimme. »Dieses Geräusch bohrt sich direkt in mein Hirn.«

»Meine Einhörner erstechen die Putten nicht so effizient, wenn ich nicht höre, wie sie sie aufspießen.«

»Verdammt noch mal«, erwiderte Miles.

»Nur noch ein Level, Babe«, sagte Arkady.

»Das hast du gestern Abend auch gesagt.«

Sein Freund schenkte ihm ein schiefes Grinsen, als sie eintraten. »Und wenn ich mich recht entsinne, wurde deine Geduld reichlich belohnt.«

Ich räusperte mich, und die beiden Männer schauten zu mir rüber.

Miles schaffte es tatsächlich, gleichzeitig zu erröten und mir einen finsteren Blick zuzuwerfen.

»Och, du siehst aus wie eine Mischung aus Schneewittchen und Rumpelstilzchen«, meinte ich.

»Klappe, Cohen.« Er setzte sich auf einen der Zusatzstühle, die wohl für das Meeting aufgestellt worden waren. Alter, sein Hintern war so stramm, dass er nicht über die Stuhlkante hing wie bei normalen Menschen.

Arkady hatte seine schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sein T-Shirt verkündete: »Moralisch flexibel«. Er nahm verkehrt herum auf einem Stuhl Platz und widmete sich wieder seinem Handyspiel, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, Augenkontakt mit mir aufzunehmen.

Wenn man Menschen in sein Leben ließ, wurde es zum Hütchenspiel und Vertrauen zu dem kleinen Ball, den man dabei herumschubste. Es spielte keine Rolle, wie klug man war, wie genau man die Bahn des Balls verfolgte – irgendwann hob man den Becher hoch und fand nichts darunter vor. Das hatte ich vorher schon gewusst, und trotzdem hatte ich zugelassen, dass Priyas Optimismus mich beeinflusste.

Meine beste Freundin war die Nächste, die den Raum betrat, zusammen mit Mrs Hudson. Priya zupfte sich einen nicht existenten Fussel von ihrem gepunkteten Wickelkleid. »Hast du ausgeschmollt?«

Ich bückte mich nach Mrs Hudson, doch Priya brachte sie außerhalb meiner Reichweite. »Ja. Tut mir leid, dass ich einfach aufgelegt habe.«

»Tut mir leid, dass ich in Sachen gestochert habe, die dir unangenehm sind.« Sie ließ den Hund von der Leine, der prompt begeistert bellte und dann die Umgebung abschnüffelte.

Hektisches Klingeln ertönte, und Arkady reckte triumphierend die Faust in die Luft. »Hab ich dich, du kleiner Scheißer.«

Priya wuschelte ihm durch die Haare. »Ach, du armer, armer Junkie.«

»Du bist ja nur neidisch, weil du es nicht über Level zwei hinaus geschafft hast.« Er schlang ihr einen Arm um die Taille. »Wir können nicht alle brillante Einhorn-Attentäter sein.«

Gespielt beleidigt rubbelte Priya mit den Fingerknöcheln über seinen Kopf.

Ich kniff die Lippen zusammen – dieses dumme Handygame, das sie gemeinsam spielten, war mir natürlich vollkommen egal – und machte auf der Couch Platz, damit Pri sich zu mir setzen konnte.

Rafael eilte mit vor Anstrengung geröteten Wangen herein. In den Händen hielt er zwei Tassen, die dampfend Earl-Grey-Duft verbreiteten. Eine davon reichte er Priya. »Ich dachte mir, dass du vielleicht einen kleinen Muntermacher gebrauchen kannst.«

Sie strahlte übers ganze Gesicht und nahm die Tasse entgegen. »Danke. Das ist ja lieb von dir.«

»Und was ist mit mir?«, fragte ich.

Er runzelte die Stirn. »Trinkst du nicht normalerweise Kaffee?«

»Schön, dass du das bemerkt hast. Hast du mir einen mitgebracht?«

»Ich … äh … nein?«

Wessen Sekretär war er eigentlich?

In diesem Moment kam Levi in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Rafael warf ihm einen dankbaren Blick zu und quetschte sich zwischen Priya und mich.

»Alle da.« Levi strahlte in seinem eleganten schwarzen Anzug mit seinen streng zurückgegelten Haaren pure Überheblichkeit aus. »Gut.« Er marschierte zu seinem Schreibtisch, zog Arkady und Miles mit ihrem schlechten Filmgeschmack auf, weil er offenbar von ihnen zu einem Kinobesuch genötigt worden war, neckte Priya mit ihrem Koffeinkonsum und fragte sogar Rafael, ob ihm das Restaurant gefallen hätte, das er ihm empfohlen hatte.

Neue Möbel, ein neuer Freundeskreis – oh, Seine Lordschaft war fleißig gewesen. Ich presste den Absatz meines Stiefels gegen die Couch und hinterließ so einen schwarzen Fleck.

Miles durfte Levi gerne behalten. Aber auch wenn ich sauer auf Arkady war, war er mein Freund gewesen, nicht Levis, also durfte Montefiore auch nicht mit ihm ins Kino gehen. Ganz egal, ob Arkady mit Miles zusammen war. Und Priya und Rafael? Die waren gleich raus. Zu Levi hatten sie eine rein berufliche Beziehung und sonst nichts.

Ich beruhigte mich mit meiner üblichen Alphabetisierungstechnik.

Ausbluten lassen, Busunfall, Chemikalienvergiftung, Dartpfeil ins Auge … Meine Laune verbesserte sich schlagartig. »Ist das hier ein berufliches Meeting oder nicht?«, wollte ich wissen. »Ich habe noch andere Dinge zu tun.«

»Stimmt. Deine noble Bestimmung lässt dir kaum Zeit für soziale Interaktion.« Levi zog seine Manschetten zurecht.

»Ach, wie toll muss es sein, wenn man nichts zu tun und deswegen alle Zeit der Welt dafür hat.«

Miles und Arkady warfen mir missbilligende Blicke zu, weil ich Levi beleidigt hatte, während Priya und Rafael ihr belustigtes Lächeln versteckten, was meine Stimmung deutlich hob.

Levis Mundwinkel zuckten, und mein Herz machte einen kleinen Satz. Das war fast wie in alten Zeiten, als wir uns sarkastische Kommentare an den Kopf geworfen und einander angegrinst hatten. Oder wie wenn man vor der Bude eines Magiers stand und den Ball verfolgte, der blitzschnell von Becher zu Becher rollte, und man ganz sicher zu wissen glaubte, wo er sich befand. Aber ich hatte wieder einmal den Becher angehoben, unter dem sich kein Ball befand, denn Levi setzte einen betont neutralen Gesichtsausdruck auf, nickte und sagte: »Fangen wir an.«