KAPITEL 6

Baals Hörner flammten auf und wechselten ständig die Farbe, von Weißblau zu Orangerot und wieder zurück. In seinen Augen stand die pure Bosheit, und aus seinen Fingern wuchsen Klauen. Der Boden bebte unter jedem seiner Schritte.

Ich stieß Rafael beiseite, manifestierte meine Blutrüstung und rannte mit einem kehligen Aufschrei auf die Kreatur zu. In meinen Händen erschien ein blutroter, gebogener Spieß, der mit seinem ordentlichen Gewicht versprach, einiges an Schaden anzurichten. Sonnenlicht spiegelte sich in der tödlich scharfen Klinge.

Weil ich zu den etwas armseligeren Superhelden gehörte, bestand mein Arsenal nur aus ein paar erprobten und für gut befundenen Waffen. Außerdem waren meine Kampfkünste mit Stichwaffen eher dürftig, also brachte es nichts, so etwas Aufwendiges wie ein Breitschwert zu erschaffen, nur um mir dann damit die Hand abzuhacken.

Ich reckte den Spieß weit nach oben und stieß ihn der Kreatur in den Hals. Prompt traf mich ein Schwall Blut. Es roch scharf, doch auch das konnte den Gestank nach nassem Ton nicht übertünchen, der mir in der Nase kribbelte. Ich zerrte den Spieß unsanft aus Baals Hals und holte erneut aus. Ich wollte den Kopf dieser Abartigkeit vor meinen Füßen sehen. Zuerst musste ich jedoch ihre Magie zerstören, für den Fall, dass sie über besondere Heilungsfähigkeiten verfügte. Besser kein Risiko eingehen.

Baal machte einen Satz nach vorn und packte mich an der Kehle, doch seine Klauen konnten meine Rüstung nicht durchdringen. Er riss mir den Spieß aus den Händen und schleuderte mich auf den Boden. Feuer schoss aus seinen Hörnern und prallte knisternd an meinem Panzer ab, bevor es ausging.

Ein wildes Lachen platzte aus mir heraus. Da musste er sich schon ein bisschen mehr anstrengen.

Der Schatten von Baals großem Fuß fiel auf mein Gesicht, aber ich fing den Fuß wenige Zentimeter vor dem Aufprall ab und nutzte die Bewegung, um die Kreatur auf den Rücken zu werfen. Hastig sprang ich auf und manifestierte zwei Darts, die ich auf ihre Augen warf. Einer traf sein Ziel, den anderen zermalmte Baal in seiner Hand und ließ ihn verbogen in den Staub fallen.

Er schnaubte mit geblähten Nasenflügeln, und sein Kopf hing dank meines Angriffs in einem seltsamen Winkel am Hals. Ja, genau. Bring mir das herrliche Blut, damit ich andocken kann.

Wenn das ein Gott war, würde ich meine Lederjacke essen. Die Schriftrollenbruchstücke des Sefer , die nur von einem Engel erschaffen worden waren, hatten schon ein unkontrollierbares Verlangen in mir ausgelöst. Beim Anblick einer echten Engelsfeder würde ich jedem die Kehle für eine kleine Kostprobe davon aufschlitzen. Mit göttlicher Magie kannte ich mich aus. Oder göttlichem Was-auch-immer. Dieses Möchtegernding war vollkommen anders. Stark, ja, aber ein Witz auf meiner Skala für unwiderstehliche Magiesucht. Es war mir komplett egal, ob ich an die Magie der Kreatur rankam oder nicht.

Rafael stieß einen erschrockenen Laut aus und wehrte sich gegen die dicken grünen Ranken, die aus dem Boden wuchsen und sich um seine Beine schlangen. Der untersetzte Houdini warf mir einen höhnischen Blick zu. Oh, sobald das hier vorbei war, würde ich mir den Typen so was von vorknöpfen.

Baal witterte in Rafaels Richtung. Die Flammen erloschen, und er stürmte mit gesenktem Kopf auf das einfachere Ziel zu. Ich rannte ihm nach, doch er war schneller.

Die Ranken reichten Rafael inzwischen bis zur Hüfte, und er konnte nur mit aufgerissenen Augen die Kreatur anstarren, die auf ihn zuhielt. Baal prallte gegen ihn und durchbohrte die Schulter meines Sekretärs mit einem Horn. Rafael schrie schmerzerfüllt auf.

»Neeeeein!« Ich konnte nicht mehr atmen, und mir wurde schwindelig. Rafael hielt mir immer Vorträge über die unmöglichsten Dinge, zum Beispiel über die überlegene Kultur der Briten, er tadelte mich, wenn ich Teewasser in der Mikrowelle heiß machte, und er brauchte dringend einen Exorzisten, der ihm den Tweed-Dämon austrieb, von dem er besessen war. Aber er hatte mir auch zugehört, als ich ihm von Adam erzählte, er hatte mir den Laptop abgenommen, um mir zu helfen, und mir einen Tee gebracht – den er natürlich korrekt aufgebrüht hatte –, als ich keine Worte fand, um meiner Trauer Ausdruck zu verleihen.

Am Ende würde sich der elende Kerl wahrscheinlich noch für die Sauerei entschuldigen, die er mit seinem Tod anrichtete.

Aber das würde nicht heute passieren.

Ich ignorierte mein Seitenstechen und den brennenden Schmerz in meinem rechten Oberschenkel, als ich Baal auf den Rücken sprang. Meine Rüstung verschwand, und ich schlug eine Hand in die klaffende Wunde an seinem Hals. Sein Fleisch saugte meine Faust tiefer hinein.

Das war derart widerlich, dass ich würgen musste, aber es reichte, um meine Magie in ihm zu verhaken. Baals Magie fühlte sich nicht nur abgrundtief falsch an, sie bestand aus so vielen verschiedenen Typen, dass sie nach Sumpfwasser schmeckte, in das ein Monster mit akuter Geschlechtskrankheit gepinkelt hatte.

Ich spuckte ein paarmal aus, um den Geschmack loszuwerden, klammerte mich mit den Beinen fester an die Taille der Kreatur und verstärkte vor Anstrengung zitternd meinen Magieschub. Seine Kräfte waren ein wildes Durcheinander, zusammengeklebt zu einem harten Klumpen. Unter diesem Chaos lauerte ein blindwütiger Hunger.

Baal zuckte zurück und riss sein Horn aus Rafaels Körper, woraufhin der erneut aufschrie. Doch seine Augen starrten blicklos ins Leere, als die Ranken verschwanden und er zu Boden ging.

Der falsche Gott fuhr mit den Klauen über meinen rechten Unterarm, mit dem ich mich an seinem Bizeps festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und stieß mir hart den Ellenbogen gegen eine Brust. Ich verzog das Gesicht. Memo an mich: Dringendes BH-Upgrade von »Hält den ganzen Tag ordentlich« zu »Beschützer des Königreichs«.

Die Haut an meinem Arm verfärbte sich schwarz und brannte, als wäre ich mit Säure in Kontakt gekommen. Ich schrie gequält auf und zerrte die Magie in einem dicken, wabernden Storm aus Baal heraus, bevor ich eine wahre Explosion roter Verästelungen durch sie hindurchschickte.

Die Kreatur gab ein Brüllen von sich. Ich lehnte die Stirn gegen Baals verschwitzten Hals und gab ihm mit weißen Funken den Rest.

Ein Zittern durchlief ihn. Sein Körper flackerte einmal, zweimal auf, und dann implodierte er, wodurch ich hart auf dem Hintern landete. Zurück blieb nur die grob geformte, dreißig Zentimeter hohe Tonskulptur seines Abbilds, die auf der Seite im Staub lag.

Diese Hohlbirnen hatten eine Art Golem als Grundlage benutzt.

»Rafael.« Ich bettete seinen Kopf in meinen Schoß und legte eine Hand auf seine Brust, die sich schwach hob und senkte. Baal hatte ihm die Schulter so tief aufgerissen, dass man die blutig glänzenden Muskelfasern sehen konnte. Aus der Wunde ragte ein gesplittertes Knochenstück. »Holt Hilfe!«

Die Göttinnen-Groupies standen wie erstarrt auf der Tribüne und schauten alle gleich fassungslos drein.

Lux sank auf die Knie. »Oh große Jezebel. Vergib uns, dass wir dich nicht erkannt haben.« Sie senkte den Oberkörper. Wie eine Reihe Dominosteine folgten die anderen ihrem Beispiel und murmelten dabei ebenfalls Entschuldigungen.

Ich schleuderte die Tonskulptur in ihre Richtung. Im Ernst? Das tat ihnen leid? Dass sie mich nicht erkannt hatten? Wie wäre es, wenn sie bereuten, dass sie dieses Ding überhaupt erst heraufbeschworen hatten? Oder, keine Ahnung, dass sie ein Treffen zum Mittagessen mit uns vereinbart und dabei zu erwähnen vergessen hatten, dass wir der Hauptgang waren?

»Du lieber Himmel«, keuchte Rafael kaum hörbar. »Das wird dir direkt zu Kopf steigen.«

»Rettet ihn!«, fauchte ich sie laut an, während ich meinen Freund auf invasive Magie abcheckte. »Oder ich mache euch allen die Hölle heiß.« In seiner Schulter steckte ein kleiner Rest der seltsamen Magie, den ich sofort im Keim erstickte, aber das änderte nichts an dem physischen Schaden, und der war schlimm genug.

Die Gruppe brach in eine hektische Diskussion aus. Sie hatten keinen Heiler da, waren also allesamt nutzlos, aber immerhin gab es unter ihnen einen Teleporter. Hatte ich’s doch gewusst.

Wir landeten vor dem Hauptgebäude von House Pacifica, das eine exzellente Ärztin und einen Heiler beschäftigte. Baals Magie hatte ich bereits aus meinem Arm entfernt, und auch wenn der nicht mehr schwarz verfärbt war, pochte er weiterhin verdammt schmerzhaft.

Die Gigis standen im Kreis um uns herum, während ich mit Rafael in den Armen auf dem kalten Asphalt des Gehwegs saß. Ich würde ihn jetzt ganz bestimmt nicht loslassen.

»Miles Berenbaum«, wies ich sie an. »Holt ihn.«

Zwei deuteten eine Verbeugung an und rannten in Windeseile ins Gebäude. Vielleicht hatte diese Anbetungssache ja sogar ihre Vorteile. Hatte ich endlich die Hauselfen gefunden, nach denen ich so lange gesucht hatte? Ob die mir wohl die Wäsche machten?

Lux trat neben mir unruhig von einem Bein aufs andere, bis ich sie anschnauzte, dass sie gefälligst auf Abstand gehen sollte. Unterdessen machte mir ein verzückter Gabriel schöne Augen. Er sah verflucht gut aus, aber ich bevorzugte Männer, die wenigstens einen Funken Verstand besaßen. Der untersetzte Houdini war abgehauen, als wir das Amphitheater verlassen hatten.

Mit einem gemächlich schlendernden Arkady im Schlepptau stürmte Miles aus dem Gebäude. Rafael und mich musterte er nur kurz, dann ließ er seinen Blick langsamer und deutlich bedrohlicher über die kleine Versammlung schweifen. Die Groupies vermieden es, ihn anzuschauen – bis auf Gabriel, der entweder keinerlei Selbsterhaltungstrieb oder aber ein sehr gesundes Ego besaß, was aufs Gleiche rauskam.

»Sollte ich die für irgendwas verhaften?«, fragte Miles.

»Fahrlässige Gefährdung, versuchter Mord – gib mir ein bisschen Zeit, dann stelle ich dir eine hübsche Liste mit Anklagepunkten zusammen«, erwiderte ich.

Rafael packte mich am Arm. »Nein. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen. Heilt mich einfach.«

Miles und ich tauschten einen Blick und hatten einen seltenen Moment von Einigkeit: Wir stimmten Rafael nicht zu, würden uns aber nicht gegen seine Wünsche stellen.

»Wenn dir irgendwas zustößt, war es das mit der Nachsicht. Miles, das hier brauchst du.« Ich schnippte mit den Fingern. »Den Golem.«

Eine schlaksige Schwarze in einem Catsuit mit strategisch platzierten Löchern entlang der Seiten drückte die Tonskulptur fester an sich.

»Jetzt«, fuhr ich sie an.

Arkady nahm ihr die Figur ab. »Golems«, hauchte er und machte damit einer Marilyn Monroe im Angesicht von Diamanten Konkurrenz. »Ooh. Du konntest mir also doch nicht lange böse sein, Pickle.«

Miles war sichtlich verärgert darüber, dass er niemanden einbuchten durfte, wuchtete sich aber Rafael über die Schulter und marschierte mit ihm davon.

Arkady reichte mir die Hand zum Aufstehen, doch Gabriel drängelte sich an ihm vorbei. »Darf ich?« Er zog mich mit so viel Schwung auf die Beine, dass ich prompt nach vorn kippte.

»Regel Nummer eins der Jezebel-Verehrung: Finger weg von der Jezebel.«

Arkadys Augenbrauen verschwanden beinahe in seinem Haaransatz. »Sie wissen Bescheid?«

»Anhänger von Aschera. Sie wissen es.« Arkady schob sich neben mich und ging an meiner Seite zum Hauptgebäude. Dabei vertrieb er Gabriel, der sich diese Ehrenposition offensichtlich hatte sichern wollen. »Das heißt nicht, dass zwischen uns alles wieder okay ist«, meinte ich.

»Ach ja? Willst du dich prügeln?«

Ich versuchte, die Hand des verletzten Arms zur Faust zu ballen, doch ich konnte die Finger nicht bewegen. »Du kommst für den Moment noch mal davon.« Dann senkte ich die Stimme und lehnte mich zu ihm rüber. »Wird Rafael wieder?«

»Er ist in guten Händen.« Arkady schaute kopfschüttelnd über die Schulter zu unserem Gefolge. »Das wird eine grandiose Nachbesprechung.«

Bis wir in der entsprechenden Etage angelangt waren, hatten die Ärztin und der Heiler Rafael bereits in einen anderen Teil der Krankenstation gebracht.

Heilermagie war keine Abkürzung für ein Medizinstudium. Nightingales stimulierten die natürlichen Selbstheilungskräfte und verstärkten sie. Eine gebrochene Rippe? Ab zum Heiler. Ebenso bei einer Infektion, wenn man nicht gerade zur Anti-Nefesh-Fraktion gehörte. In diesem Fall standen ein Besuch beim Arzt und die normale Einnahme von Antibiotika an. Bei einer Verletzung, die einen komplizierten Eingriff und jede Menge Präzision erforderte, wie etwa mein zertrümmerter Oberschenkelknochen damals, war ein Mediziner nötig. Theoretisch konnte auch ein Nightingale eine gebrochene Nase richten, aber wenn er nicht gerade Level vier oder fünf hatte – Letzteres war ohnehin sehr selten –, war die Gefahr groß, dass es unsauber zusammenwuchs und ein Chirurg sie zu einem späteren Zeitpunkt erneut brechen musste, um das zu korrigieren.

Zu Levis Team gehörte beides, und jetzt untersuchten sie Rafael. In der Zwischenzeit pumpte mich ein Pfleger mit Antibiotika voll und nähte die Wunde. Als ich schließlich fertig war, arbeitete man immer noch an meinem Sekretär, und nachdem ich Miles und Arkady einen Abriss der Ereignisse geliefert hatte, bat ich sie zu gehen.

Miles brummelte vor sich hin, weiterhin unzufrieden, weil er die Gigis nicht hatte verhaften dürfen, verließ den Raum aber sonst kommentarlos.

»Er wird für den Rest des Tages ein wahrer Sonnenschein sein«, meckerte Arkady und drohte mir mit dem inaktiven Golem.

»Gern geschehen.«

Wenn die Gigis sich schon nicht für ihre Taten verantworten mussten, sollten sie sich besser noch als nützlich erweisen.

Auf Nachricht über Rafaels Zustand zu warten, war die pure Folter. Also verbrachte ich die Zeit damit, Lux und Gabriel zur Schnecke zu machen. Die beiden waren die einzig verbliebenen Gigis und weigerten sich, mir von der Seite zu weichen. Wir saßen in dem kleinen Wartebereich, der mit bequemeren Stühlen ausgestattet war, als ich sie je in einem Krankenhaus erlebt hatte.

»Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht?«, fragte ich.

»Lux …«, setzte Gabriel an.

»Wir wollten Aschera sehen«, unterbrach ihn Lux. »Egal, wie ergeben wir ihr all die Jahre waren, nichts konnte sie herbeibeschwören. Wir sind davon ausgegangen, dass unser Glaube allein offenbar nicht ausreicht, aber das Geschenk der Präsenz ihres Geliebten sie vielleicht überzeugt.«

»Das war aber nicht ihr Geliebter. Das war ein Golem, den ihr mit einer wilden Mischung aus verschiedenen Magietypen vollgepumpt habt. Habt ihr echt gedacht, dass sie den Unterschied nicht bemerkt? Selbst ich konnte sehen, dass er kein Gott war.«

»Er besaß noch nicht seine volle Macht«, erwiderte Lux. »Das Ritual war unvollständig. Unser Baal wäre zum Gott geworden.«

Ich massierte mir die Schläfen. Unterschiedliche Magietypen in einem belebten Artefakt, das zu immer größerer Stärke anwachsen konnte, wenn man es nur entsprechend fütterte. Diese Knallköpfe waren beinahe so schlimm wie die Zehn von Chariot und deren Jagd nach Unsterblichkeit.

»Es war extrem komplex, und die einzelnen Komponenten mussten auf die Sekunde genau abgestimmt werden. Das war echt gute Arbeit.« Gabriel strahlte mich praktisch an.

»Möchtet ihr jetzt ein Kopftätscheln und einen Keks?«, fragte ich. »Wenn Baal seine volle Macht erreicht hätte, hättet ihr ihn nie unter Kontrolle halten können. Das Ausmaß der Zerstörung wäre katastrophal gewesen.«

»Er hätte sich nicht befreien können«, entgegnete Gabriel. »Ich besitze Barriere-Magie auf Level vier.« Ja, alles klar, du Held . Er warf seine Haare nach hinten. »Aber ehrlich, nach alldem sollte man mich wirklich hochstufen, finde ich.«

Ich faltete die Hände im Schoß, damit ich ihm keine verpasste. »Habt ihr sonst noch jemanden an ihn verfüttert?«

Lux biss sich auf die Unterlippe. »Ihr wart die Ersten.«

»Da lasse ich dich mal einen Tag allein.« Auf einmal stand Levi mit verschränkten Armen im Türrahmen.

»Wer sind Sie denn?«, wollte Gabriel wissen und stand auf.

Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, um mein Grinsen zu verbergen, weil Levi ihn vollkommen perplex anstarrte.

»Levi Montefiore«, erwiderte er und schaffte es tatsächlich, auf Gabriel runterzuschauen, obwohl sie in etwa gleich groß waren. »Das Oberhaupt von House Pacifica.«

Gabriel zuckte die Schultern. »Ach so. Der.«

Ich verschluckte mich an meinem Lachen und musste prompt husten.

Levi deutete auf die Tür. »Raus, oder ich lasse Sie wegen versuchten Mordes verhaften. Und ziehen Sie sich was an.«

Gabriel ließ die Hand auf sein Sixpack klatschen, das sich keinen Millimeter bewegte. »Nicht nötig.«

Lux packte ihn am Ellenbogen. »Wir gehen.«

»Einen Moment noch.« Ich hielt eine Hand hoch. »Eine geschlossene bamah . Wisst ihr, wo die sein könnte?«

Lux und Gabriel schüttelten die Köpfe.

Ich rieb mir resigniert übers Gesicht. Rafael war schwer verletzt, ich war todmüde, und das alles war umsonst gewesen.

»Divine Rod könnte helfen«, sagte Lux.

Ich hob den Kopf. »Eine göttliche Rute?«

»So ähnlich. Geh heute Abend einfach um zehn ins Just Dandy , dann wirst du schon sehen«, empfahl sie mir.

Der Name kam mir bekannt vor. Ein Schwulenclub? Hm.

»Können wir dir sonst irgendwie behilflich sein, Jezebel?«, fragte sie.

»Na großartig«, murmelte Levi.

»Ihr dürft gehen, aber wenn ihr so etwas noch einmal versucht, werdet ihr meinen Zorn zu spüren bekommen.« Ich ließ mir Lux’ Telefonnummer geben, und Gabriel reichte mir seine ungefragt und ungewollt. »Wenn ich euch noch einmal brauche, rufe ich an. Betet, dass Rafael sich wieder erholt.«

Lux nickte und machte dann, dass sie davonkam. Gabriel griff nach meiner Hand und drückte einen Kuss darauf. »Ich freue mich auf unser Wiedersehen.«

In Levis Augen blitzte etwas Wildes auf.

Ich lächelte Gabriel strahlend an und widerstand dem Drang, mir die Hand abzuwischen. »Ich mich auch.«

Er ging rückwärts aus der Krankenstation wie ein Schauspieler, der nach der Zugabe nur ungern die Bühne verließ.

»Wundervolle Menschen«, sagte ich, nachdem beide schließlich weg waren.

»Offensichtlich«, erwiderte Levi. »Meine engsten Freunde erschaffen auch immer falsche Götter, die mich auf die Krankenstation befördern.«

»Apropos …« Ich stand auf. »Ich sollte nach Rafael sehen.«

»Setz dich, Ashira.« Levi ließ sich auf einen Stuhl fallen und bedachte mich mit einem kalten Lächeln. »Wir müssen erst noch ein paar Dinge besprechen.«

Ich tat, wie mir geheißen, schlug die Beine übereinander und wippte sorglos mit dem Fuß. »Sicher. Wie war die Demo? Ist deine Rede gut angekommen?«

»Meine Reden kommen immer gut an. Aber ich will mit dir darüber reden, wieso du diese radikalen Blitzbirnen in die Suche reingezogen hast, auf die dich meine Mutter geschickt hat.«

»Eigentlich musst du dich dafür bei Rafael bedanken. Und wir wollen mal nicht vergessen, dass es uns zu einer potenziellen Spur geführt hat.«

»Es war schon schlimm genug, dass du so unbedacht mit dem Wohlergehen meiner Mutter gespielt hast«, sagte er. »Aber dazu noch ein so hohes Risiko? Wozu? Für deinen eigenen kleinen Fanclub?«

Ich neigte den Kopf zur Seite, einen Finger gegen meine Wange gedrückt. »Ich bin verwirrt. Rache ist jetzt also okay, dafür ist mein Ego das Problem?«

Levi hakte einen Fuß in meinen Stuhl ein und zog mich ruckartig zu sich heran. »Das alles ist das Problem.«

»Dann erklär mir doch bitte mal genau, inwiefern ich Nicola damit noch mehr in Gefahr gebracht habe. Sofern du es niemandem erzählt hast, wissen nur wir beide, Priya und Rafael, dass sie mich angeheuert hat.« Ich stützte mich mit den Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab. In mir machte sich ein Gefühl unendlich großer Trauer breit. Levi war nicht mehr der Mann, für den ich ihn gehalten hatte. »Auf wen bist du wirklich wütend? Auf mich, weil ich im Fall von Chariot jeder Spur nachgehe, wie ich es immer gesagt habe, oder auf dich selbst, weil dich dein berüchtigtes Verantwortungsbewusstsein im Stich gelassen hat, als es hart auf hart kam und du von der Beteiligung deines Vaters erfahren hast? Und du in diesem Moment wieder zu dem verängstigten Kind geworden bist, das sich vor ihm kleinmacht?«

Die Wände zerbarsten in scharfe Splitter und gingen mit einem Krachen zu Boden. Ich kauerte mich mit einem Aufschrei zusammen, als Teile der Decke auf uns herunterregneten. Auf meiner Zunge lag der Geschmack von Putz, und fliegende Brocken trafen mich wie abgefeuerte Kugeln an den Beinen. Glühbirnen explodierten über uns und klangen dabei wie Schüsse.

Levi saß ungerührt da wie eine Eisstatue, und seine Augen wirkten vollkommen ausdruckslos. Er schloss sie und lockerte die zu Fäusten geballten Hände.

Stille breitete sich aus. Der Raum war intakt und unzerstört. Mit wild klopfendem Herzen musterte ich Levi. Ich wartete nur darauf, dass seine Selbstbeherrschung wieder versagte und seine Magie die Realität erneut kippte.

Er schaute auf seine nun leicht zitternden Hände hinunter und stopfte sie rasch in seine Hosentaschen. »Du warst schon vieles, Ash, aber noch nie grausam.«

»Grausam oder ehrlich?«, fragte ich leise.

Über die Jahre hatte ich viele Seiten von Levi kennengelernt. Er war intelligent, hatte einen unglaublich ausgeprägten Beschützerinstinkt, war nett und humorvoll. Doch das hier war wirklich beunruhigend. Ich hatte das nicht gesagt, um ihn zu verletzen. Ich sehnte mich nach dem echten Levi, und ich wollte, dass er zurückkam. Dass er nicht mehr dieser Schatten seiner selbst war, der solche Angst vor jedem notwendigen Schritt hatte.

Levi erhob sich. »Ich weiß nicht, ob ich das hier noch kann.«

Eisige Taubheit machte sich in mir breit. Ich hatte den Verlust von Levi als Beziehungspartner akzeptiert, aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass er es ablehnen könnte, mir den Rücken zu decken. So gerne wollte ich ihm sagen, dass ich es ohne ihn nicht schaffen würde, doch ein Blick auf sein Gesicht verriet mir, dass ihm das egal war. Er war so sehr mit sich selbst und seiner Angst beschäftigt, dass nichts zu ihm durchdringen würde.

»Entziehst du mir die Unterstützung von House Pacifica? Das wird mich in diesem Kampf unwahrscheinlich schwächen.« Ich erstarrte. »Aber das ist dir schon klar, oder?«

»Ich brauche Zeit zum Nachdenken«, sagte er schließlich und marschierte davon.

Vor zwei Monaten hatte Levi mir das Herz gebrochen, doch ich war diejenige gewesen, die gegangen war. Zurückgelassen zu werden, war noch schlimmer.

»Das war ein furchtbarer Tag, und es ist noch nicht mal Teezeit.« Rafael stand im Türrahmen, der zum Gang in die Krankenstation führte. Sein Hemd und sein Tweed-Jackett waren durch ein Sweatshirt mit House-Aufdruck ersetzt worden, das ihm zu groß war. Rafael in grauem Jerseystoff – nahte das Ende der Welt?

Ich sprang auf und umarmte ihn fest, achtete jedoch auf seine Verletzung. »Wie geht’s dir?«

»Als hätte ein Gott meine Schulter gefickt.« Er riss die Augen auf. »Ups. Ich glaube, das sind die Schmerzmittel, die da aus mir sprechen.«

»Es war nur ein Möchtegerngott, und er hat dich eigentlich nur ein bisschen befummelt. Aber ich bin froh, dass sie dir das gute Zeug gegeben haben.«

Der Nightingale kam zu uns und versicherte mir, dass Rafael wieder in Ordnung kommen würde. Die Wunde war gereinigt und geschlossen worden, es gab keine Anzeichen einer Infektion, und er konnte die Nebenwirkungen der Medikamente einfach wegschlafen.

Ich informierte den Heiler, dass ich Rafael mit zu mir nach Hause nehmen würde. Miles hatte jemanden aus seiner Abteilung losgeschickt, um Moriarty herbringen zu lassen, der jetzt in der Tiefgarage des House stand. Offenbar schuldete ich der Mitarbeiterin eine Flasche Wein für den Stress, den mein störrisches Auto ihr bereitet hatte.

Auf dem Weg nach unten erkundigte sich Rafael danach, was Baal eigentlich gewesen war. Meine Erklärung zu dem Golem und dem Ritual ließ ihn unkontrolliert kichern.

»Gabriel ist ein Wichser.«

»Sie sind allesamt Knalltüten«, erwiderte ich.

Rafael strahlte mich an. »Oh, Ashira, das hast du aber schön gesagt. Wir bringen dich doch noch zu einer zivilisierten Ausdrucksweise.«

»Aber sicher.«

Er hakte sich bei mir unter. »Wird Levi uns wirklich fallen lassen?«

Ich zuckte die Schultern und half ihm, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, während wir das Parkdeck überquerten. »Wenn ja, hast du mich wieder ganz für dich allein. Wäre das nicht wundervoll?«

Er grinste. »Auf einer Skala von ›Einkommensteuerprüfung‹ bis ›Duschen im Gefängnis‹?«

»Depp«, entgegnete ich liebevoll. »Priya wird uns sicher weiterhin zumindest zeitweise unterstützen.«

»Das ist gut. Ich mag sie. Die Frau ist Bombe.« Er stupste meine Haare an und wirkte noch immer ziemlich daneben. »Aber echt schade um den Montefiore-Kerl.«

Wohl wahr. In meinem Brustkorb summte es heiß und unruhig. Mein halbes Leben lang war Levi Teil meiner Welt gewesen, von der spannungsgeladenen Zeit unserer Feindschaft bis hin zu dem wohligen Gefühl, von ihm begehrt zu werden. Das Weltall war ein luftleeres Vakuum, das einen umbrachte, doch Levis Abwesenheit war schlimmer, weil ich immer noch atmete.