KAPITEL 8

Divine Rod hatte das Flirten mit dem Publikum zu einer Kunstform erhoben. Er zwinkerte den Leuten zu, stolzierte über die Bühne und warf mit sehr doppeldeutigen, sexuell aufgeladenen Sprüchen um sich, wenn er nicht gerade perfekt gesungene Interpretationen aktueller Popsongs zum Besten gab oder die anderen Dragkings des heutigen Abends vorstellte.

Ich brüllte und jubelte laut mit den anderen mit, doch dann bemerkte ich, wie Rafael schmerzerfüllt das Gesicht verzog, und beugte mich zu ihm rüber. »Geh nach Hause. Ich kann auch alleine mit ihm reden.«

Rafael schüttelte den Kopf. »Ich will dabei sein.«

Er biss die Zähne zusammen, doch ihm war überdeutlich anzusehen, wie schlecht er sich fühlte. Priya sagte etwas zu ihm, wahrscheinlich forderte sie ihn ebenfalls auf, zu gehen, wenn ich sein Kopfschütteln richtig deutete. Sie starrte einen Moment lang auf den Tisch, dann fügte sie noch etwas hinzu. Rafael blinzelte ein paarmal, bevor er bedächtig nickte und sich mit dem Stuhl so drehte, dass er ihr den Rücken zuwandte. Mit langsamen Bewegungen massierte Priya ihm den Kopf.

Arkady schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch ich zuckte die Schultern. Inzwischen hatte ich ein paar Monate Zeit gehabt, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Priya und Rafael Interesse aneinander hatten. Außerdem litt der arme Mann, und Priya war wirklich gut in Kopfmassage. Diese Technik mit ayurvedischen Wurzeln hatte sie von ihrer indischen Großmutter gelernt.

Etwa bei der Hälfte der Show war ich längst auf den Beinen und jubelte Lucky Strike zu, einem Silberfuchs-Dragking, der eine wirklich grandiose Performance von Tom Jones’ »It’s Not Unusual« ablieferte. Arkady stieß mich mit der Hüfte an und zwinkerte mir zu. Ich erwiderte die Geste grinsend und vergaß für einen kurzen Augenblick, dass ich ihn verdächtigte, ein doppeltes Spiel zu treiben.

Ich wünschte, ich könnte wieder zu dem Zeitpunkt zurückkehren, zu dem Arkady und ich uns angefreundet hatten und er mich mit seinen direkten, unverblümten Neckereien für sich eingenommen hatte. Damals, als alles noch nicht so kompliziert gewesen war. Als meine Freundschaft mit Priya noch nicht ständig auf die Probe gestellt worden, Levi nur mein Erzfeind gewesen war und ich gedacht hatte, dass mein Vater noch irgendwo lebte.

Ich hatte mich immer als einsame Wölfin gesehen, aber so schwer wie heute Abend, inmitten dieser Menschenmenge, hatte das noch nie auf mir gelastet. Wie viel einsamer würde mein Leben als Jezebel wohl noch werden?

Ich griff nach meinem Glas, musste jedoch feststellen, dass es leer war.

Die Show endete mit zwei Zugaben. Bei der ersten sangen alle Dragkings zusammen »Hanky Panky«, das aus dem alten Dick-Tracy -Film stammte, wie Arkady mich aufklärte. Dann beschloss Divine Rod den Abend allein auf der Bühne mit einer Darbietung von »Save a Horse, Ride a Cowboy«. Er stolzierte und posierte und ging voll in der affektierten Männlichkeit auf, die uns ein Grinsen aufs Gesicht zauberte und alle beim Refrain mitsingen ließ.

Die aufgeputschte Stimmung übertrug sich nach der Show auf die Tanzfläche. Arkady und Priya mischten sich lachend und mit sehr zweideutigen Bewegungen unters Volk.

»Nette Massage gehabt?«, fragte ich.

Rafael warf mir einen misstrauischen Blick zu und zog die inzwischen halbwegs entspannten Schultern langsam wieder zu den Ohren hoch.

»Ich will dich nicht veräppeln. Das war nur eine Beobachtung.«

Er überlegte sichtlich, was er antworten sollte. »Es hat geholfen.«

Wir gaben Divine Rod zwanzig Minuten Zeit zum Erholen und hielten dann auf den Türsteher zu, der den Zugang zum Backstagebereich bewachte, um ihn um ein Treffen mit dem Künstler zu bitten. Ich zeigte ihm meine Ermittlerlizenz, fügte hinzu, dass es um einen Fall und nicht um ein Autogramm ging und dass Lux uns geschickt hatte.

Fünf Minuten später wurden wir in einen vollgestopften Raum geführt, in dem es schwach nach Rasierwasser und Klebstoff roch. Auf einem klapprigen Tisch lag ein ganzes Arsenal an Bühnenschminke, daneben stand ein Krug mit Eiswasser. Divine Rod saß entspannt auf einem Stuhl, immer noch im Kostüm, aber ohne das Jackett. Die Beine hatte er ausgestreckt, und seine Krone saß schief auf einem Styroporkopf.

»Danke, dass wir uns mit Ihnen unterhalten dürfen«, sagte ich. »Ihre Show war großartig.«

Rod neigte dankend den Kopf.

»Ich bin Ashira Cohen, das ist Rafael Behar. Sollen wir Sie lieber Rod oder Divine Rod nennen?«, erkundigte ich mich.

»Rod reicht.« Seine Stimme klang heiser. Er räusperte sich ein paarmal, trank sein Glas Eiswasser aus und stellte es anschließend auf den Tisch. »Lux hat Sie schon angekündigt. Sie brauchen meine magischen Fähigkeiten?«

»Ja.« Auch wenn uns immer noch nicht wirklich klar war, worin die eigentlich bestanden. »Wir haben gehofft, dass Sie uns bei der Suche nach einem geschlossenen Heiligtum unterstützen können, das möglicherweise mit der Göttin Aschera oder dem Engel Raziel in Verbindung steht. Vielleicht liegt es irgendwo erhöht, auf einem Berg zum Beispiel. Uns ist bewusst, dass das auf alles Mögliche zutrifft, aber eventuell können Sie die Möglichkeiten für uns eingrenzen?«

Rod kratzte sich über die Bartstoppeln. »Wenn es um so etwas wie einen Ring ginge, würde ich Sie auffordern, sich das Objekt vorzustellen, und den Suchradius entsprechend verkleinern. Aber Sie wissen nicht, wie der Gegenstand Ihrer Suche aussieht.« Er holte einen schmalen Kasten aus einem Kleidersack, der auf der Innenseite der Tür hing. Darin befand sich ein gegabelter Ast, der an eine große Wünschelrute erinnerte. Ein sehr vertrauter Duft nach Honig und Butter stieg davon auf. »Die Erfolgsaussichten sind gering, aber ich würde es gerne versuchen.«

Ich lehnte mich nach vorn und atmete tief ein. »Ist das Mandelholz?«

Der Dragking hielt die Wünschelrute hoch. »Gutes Näschen. Ja. Im Mittelalter bevorzugten professionelle Magier Zauberstäbe aus Mandelholz, und das Orakel von Delphi nutzte solche Wünschelruten, um versteckte Wertsachen zu finden.«

»Faszinierend«, erwiderte Rafael und warf mir einen warnenden Blick zu.

»Konzentrieren Sie Ihre Gedanken auf dieses geschlossene Heiligtum«, wies Rod uns an. »Fügen Sie alle wichtigen Einzelheiten hinzu, egal wie klein sie erscheinen. Und passen Sie auf, dass Sie mich nicht berühren.«

Rafael und ich gingen auf Abstand zu ihm. Den Blick fest auf die Wünschelrute gerichtet, konzentrierte ich mich auf Aschera, die Jezebels und das Sefer Raziel HaMalakh .

Rod umfasste sein Werkzeug an den gegabelten Enden und hielt es auf Armeslänge von sich weg. Die Enden des Holzes lagen auf seinen Handballen auf, und er schloss die Augen. Allmählich begann die Rute golden zu glühen und bewegte sich schwankend zwischen Rafael und mir.

Ein Kribbeln schoss meine Wirbelsäule hinauf, und ich konzentrierte mich noch stärker. Die Rute leuchtete heller und heller, Rods Arme zitterten unter der Anstrengung, sie festzuhalten. Er machte einen Schritt auf mich zu, dann noch einen. Ich hielt den Atem an und wünschte mir mit aller Macht eine Antwort von ihm.

Ein Funken stob knisternd aus dem Ast und ließ mich zusammenzucken.

Rod ließ die Rute fluchend fallen, fing sie jedoch auf, bevor sie auf dem Boden aufkam. Er schüttelte seine Hände aus. »Tut mir leid. Ihre Kriterien sind zu vage.«

Ich schluckte meine Enttäuschung runter.

»Sind Sie sich sicher, dass Sie mir nicht mehr Anhaltspunkte geben können? Was genau hat man Ihnen gesagt?« Rod schnappte sich einen Lappen aus dem Kasten und polierte das Holz.

»Die Person, die mir das erzählt hat, hat erst das Wort chiuso und nicht ›geschlossen‹ benutzt«, sagte ich. »Aber sie hat es für mich übersetzt.«

Rod schaute mit einem Ruck auf. »Chiuso? Das bedeutet nicht nur ›geschlossen‹.«

»Sie ist Italienerin«, erwiderte ich. »Also sollte das stimmen.«

Er verstaute die Rute und schloss den Kasten. »Tut es auch, aber man kann es in anderen Kontexten auch mit ›eingefasst‹ oder ›umschlossen‹ übersetzen. Eine comunità chiusa ist zum Beispiel eine eingezäunte oder bewachte Wohnanlage.« Er tippte sich gegen den Kopf. »Italienisch als Hauptfach.«

Rafael war leichenblass geworden und stand wie erstarrt da.

»Alles okay?«, fragte ich.

»Danke«, meinte er zu Rod und packte mich am Ellenbogen. »Sie haben uns wirklich geholfen.«

»Stets zu Diensten.« Rod winkte nur ab, als ich ihn bezahlen wollte, was auch gut war, denn Rafael zerrte mich bereits mit sich nach draußen.

Wir gingen zurück in den Club, wo ich mich von ihm losmachte. »Was ist denn plötzlich los?«

Rafael blieb nicht stehen, also musste ich ihm nachrennen. »Ich bin so dumm. Ich habe mich auf das Heiligtum konzentriert. Den Ort an sich.«

»Ich verstehe kein Wort.«

Eine Frau mit vollen Gläsern in den Händen stieß im Vorbeigehen mit Rafael zusammen.

»Ich kann hier nicht reden.« Er bedeutete mir, ihm einen kurzen Flur hinunter zu folgen, in dem ein altes Münztelefon hing, dem der Hörer fehlte, und öffnete mit einem Ruck die Tür zum Männerklo.

Das Dekor war auf dem Höhepunkt der Achtzigerjahre stehen geblieben und wurde dominiert von den bunten Dreiecksfliesen auf dem Fußboden und einem roten Waschtresen mit Rissmuster, auf dem gerade zwei Männer Kokain schnupften.

»Raus«, befahl Rafael. Auf seinem Gesicht lag ein gruselig kalter Ausdruck – wie kurz bevor er Avi Chomsky in den Fuß geschossen hatte, den Auftragskiller, der meinen Vater ermordet hatte.

Die Männer drehten sich um, schnappten sich wortlos ihre Drogen und machten sich vom Acker. Ich wäre auch abgehauen, wenn ich gekonnt hätte. Rafael hatte einen gehetzten Blick in den Augen, und die Atmosphäre fühlte sich seltsam bedrückend an.

»Es gab überall bamahs «, sagte er. »Die Heiligtümer befanden sich nicht nur an erhöhten Orten, sondern auch in Tälern oder Gebäuden. Was sie miteinander verbunden hat, war eine Plattform. Ein Altar, und sei es nur ein Haufen Erde, der geweiht war. Diese ›geschlossene bamah ‹ ist ein Code für ein mächtiges Steinamulett, das unter dem Namen ›Kuss des Todes‹ bekannt ist. Angeblich wurde es im Schatten des Tors der Dunkelheit – eines der Tore des Tempelbergs in Jerusalem – aus dem Steinaltar der echten Isebel aus dem Alten Testament erschaffen.«

»Zugegeben, bei Namen wie ›Tor der Dunkelheit‹ und ›Kuss des Todes‹ denkt man jetzt nicht sofort an Kätzchen und Regenbögen, aber wie schlimm kann es schon sein?« Ich spielte mit dem Holzring, der an einer Kette um meinen Hals hing.

»Unsere Bibliothek ist auf Ascheras Magie abgestimmt. Jeder, der sie nicht besitzt und versucht, sich hineinzuteleportieren, wird sofort gegrillt. Ebenso ergeht es einem, wenn man durch die Eingangstür kommt oder versucht, eine der Säulen zu öffnen.«

»Okay.«

»Die Jezebels vor dir konnten kommen und gehen, ohne den Alarm auszulösen, der ihre Sekretäre über ihre Anwesenheit informierte, weil wir durch unsere Bindung immer wussten, wo sie waren. Dein Davidstern-Tattoo hat deine Magie beeinträchtigt. Du kannst nur mithilfe des Rings meines Vaters in die Bibliothek gelangen, also erhältst du zwar sicheres Geleit, weil die Schutzzauber deine von Aschera verliehenen Kräfte erkennen, aber ich werde trotzdem über deine Anwesenheit informiert, als wärst du ein Eindringling. Ich finde bei meinem Eintreffen nur keine Leiche vor.«

Ich ließ den Holzring los, als hätte ich mich verbrannt. »Und dir ist nie in den Sinn gekommen, mir gegenüber mal zu erwähnen, dass die Möglichkeit besteht, dass ich als Leiche in der Bibliothek ende?«

Rafael richtete seine Fliege. »Warum dir Angst machen, wo du dich gerade in deinem neuen Job zurechtfindest?«

Eine Frau öffnete die Toilettentür.

»Geh aufs Frauenklo«, wies ich sie an.

»Da ist eine Schlange«, gab sie zurück und zog einen Schmollmund.

Ich riss den Seifenspender von der Wand. »Tja, hier ist aus Mangel an Sanitärmitteln geschlossen.«

Sie fasste sich erschrocken an die Brust und legte den Rückwärtsgang ein. »Die Schlange war gar nicht so lang.«

Ich stellte den Seifenspender auf dem Waschtresen ab. Er funktionierte noch einwandfrei. »Sprich weiter.«

»Der Kuss des Todes wurde ursprünglich genutzt, um die allererste Rolle zu stehlen, die unsere Seite in ihren Besitz gebracht hat.« Rafael nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Saum seines Hemds. Er wirkte vollkommen erschöpft. »Er verschaffte Chariot Zugriff auf Aschera-Magie, und somit konnten sie die Schutzzauber sicher umgehen.«

»Was?! Chariot hatte den Kuss des Todes?«

»Leider ja. Chariot hat zum letzten Mal vor hundert Jahren versucht, das Amulett zu benutzen, bei Nikolia und ihrem Sekretär Vitalis. Unser Feind griff an, es gab einen Kampf, und das Amulett ging verloren.«

»Wenn Chariot das Ding seitdem nicht wiedergefunden hat, warum sind sie dann jetzt plötzlich so scharf darauf?«, fragte ich.

Rafael setzte die Brille wieder auf und blinzelte ins kalte Licht des Toilettenraums. »An diesem Altar nahm Isebel Kontakt mit ihrer Göttin auf. Selbst ein Bruchstück davon ist eine mächtige Reliquie, durchsetzt von der Präsenz der Göttin. Das nutzt ein Meisterbannweber für einen Zauber, der dem Träger unsere Magie verschafft, wenn er mit einem sehr speziellen Katalysator kombiniert wird. Dieser muss allerdings bei jedem Träger erneuert werden.«

Ich griff wieder nach dem Seifenspender und wedelte damit herum. »Okay, dieser Zugang zu unserer Bibliothek ist beunruhigend, aber warum sollte ich mir darüber mehr Sorgen machen als sonst? Der Katalysator ist doch wahrscheinlich unheimlich schwer zu bekommen, oder?«

»Das ist er.« Rafael lehnte sich gegen den Handtrockner.

»Raus damit, Kumpel.«

»Es ist das Blut einer lebenden Jezebel. Wenn Isaac die Suche also wieder aufgenommen hat, kann das nur eins bedeuten.« Rafael wirkte auf einmal um Jahre älter. »Chariot weiß, wer du bist.«

Der Seifenspender, den ich eben noch in der Hand gehalten hatte, fiel klappernd zu Boden.