Diese Enthüllung setzte unserem geselligen Abend ein jähes Ende. Rafael wollte direkt in die Bibliothek gehen und einen Weg suchen, den Kuss des Todes zu blockieren oder zu finden, während ich ebenfalls meine Fühler nach dem Amulett ausstreckte.
Rafaels guter Rat beim Abschied? Ich sollte mich nicht von Isaac schnappen lassen. Solide Strategie.
Priya, Arkady und ich nahmen uns schweigend ein Taxi nach Hause. Den Großteil der Heimfahrt über fuhren wir hinter einem Bus her, auf dem eine weitere viel zu fröhliche Werbung für ein Golfturnier prangte.
Arkady hielt mich auf, bevor wir in unseren jeweiligen Wohnungen verschwanden. »Egal, ob du es mir glaubst oder nicht, ich passe auf dich auf, Ash. Wenn du Begleitschutz oder einen persönlichen Bodyguard brauchst, bin ich für dich da.«
»Danke.«
Priya knallte unsere Wohnungstür zu, stapfte in die Küche und murmelte vor sich hin, was sie Isaac alles antun würde, wenn er mich auch nur schief anschaute. Ich lehnte mich gegen den Küchentresen, während sie laut in den Schränken rumorte und wahllos Sachen herausnahm, bis sie sich wieder beruhigte. Wundersamerweise verschlief Mrs Hudson all das in meinem Schlafzimmer.
Ich griff nach der Erdnussbutter und der Packung Ramen. »Wird das ein neuer Essenstrend?«
Priya betrachtete die Packung mit bunten Streuseln, die noch von einem längst vergangenen Geburtstagskuchen-Backen stammte, und warf den Kopf nach hinten. »Ja. Kawaii-Tan-Tan-Nudeln.«
»Hmmm. Mit Chiba-Hühnchen-Stücken?«
Sie stopfte die Streusel zurück in den Schrank. »Halt die Klappe. Und stirb nicht.«
»Guter Plan. Ich habe außerdem fest vor, hundert Prozent meines Bluts zu behalten.« Ich räumte die Ramen-Packung weg. »Du solltest vorübergehend zu deinen Eltern ziehen. Dich aus der Gefahrenzone bringen.«
Isaac würde Talia nichts tun, weil man bei Chariot an den Leuten festhielt, die einem nützlich waren, und sie ihm dabei half, seine Position in der Anti-Nefesh-Bewegung zu behaupten.
»Fang gar nicht erst wieder mit diesem Unsinn an. In diesem Haushalt wird niemand im Stich gelassen.« Sie schnappte sich die Erdnussbutter und beförderte sie mit Schwung in den Kühlschrank.
»Okay, Adler.«
»Hör auf, mir gut zuzureden. Du bist diejenige, die Chariot im Visier hat.«
»Gibt es noch eine andere Version für diese aufbauenden Worte?« Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich hatte gehofft, länger unter ihrem Radar zu fliegen, aber es ist, wie es ist. Ich gehe ins Bett.«
Nachdem ich mir ein Schlaf-Shirt angezogen hatte, rollte ich mich unter meinen Decken zusammen. Nun, da ich nicht mehr aus den Schatten heraus agieren konnte, würde sich alles ändern. Die schützende Dunkelheit war weg. Ich zog die Decken fester um mich und wünschte mir, dass mich jemand in den Arm nehmen würde, nur für diese eine Nacht.
Ich griff nach meinem Handy auf dem Nachttisch und war stark versucht, einen bestimmten Kontakt anzurufen, stopfte das Gerät dann aber entschlossen unter mein Kopfkissen. Diese Komplikation änderte gar nichts. Isaac Montefiore hatte mir vielleicht eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt, doch wusste er auch, dass ich das Gleiche mit ihm getan hatte?
Nichts würde den Mord an meinem Vater je wiedergutmachen, aber Isaacs Träume zu zerstören, würde meine Rachefantasien ein bisschen befriedigen. Das fiel sogar unter die Definition von Gerechtigkeit in meiner Jobbeschreibung. Ich klopfte mein Kissen zurecht, bis es die perfekte Fluffigkeit zum Schlafen hatte.
Mit Visionen von umfassender Vergeltung und einem Lächeln auf den Lippen döste ich weg.
* * *
Als ich am Samstagmorgen aufwachte, hatte Priya gute Neuigkeiten für mich und servierte sie mir zusammen mit einem Kaffee, den ich dringend brauchte. Vor etwa zehn Jahren hatte Deepa Anands Firma großflächig expandiert, und währenddessen hatte sie auch ihrer Cybersicherheit ein Upgrade verpasst. Das dafür beauftragte Unternehmen stellte sich als Strohfirma heraus, doch Priya war der Spur bis zu Lockdown Cybersecurity gefolgt, dessen Eigentümer ein gewisser Isaac Montefiore war.
Das war ein weiterer Hinweis darauf, dass Deepa zu Chariot gehörte, wenn auch kein stichhaltiger Beweis.
An der Erpresserfront erwies sich Talias Handy leider als Sackgasse. Wir mussten es also mit einem anderen Ansatz versuchen, aber es war gut, dass wir immerhin etwas über Deepa in der Hand hatten. Dafür belohnte ich Priya mit Hundegesellschaft für den heutigen Tag.
Außerdem war mein geplanter Besuch in Hedon nicht unbedingt hundegeeignet.
Bevor ich losfuhr, schickte ich Rafael noch eine Nachricht.
Ich: Noch am Leben. Bist du stolz auf mich?
Dobby: Mein Entzücken ist grenzenlos.
Ich: Irgendwas Neues?
Dobby: Ich durchsuche alle Aufzeichnungen. Bin noch optimistisch, dass es eine Lösung gibt.
Ich: Was machen die Kopfschmerzen?
Dobby: Sind immer noch da. Mache trotzdem weiter.
Ich: Du schaffst das.
Ich verabschiedete mich von Pri und Mrs Hudson, machte einen kurzen Abstecher zu Muffin Top und schaffte es sogar, ein kleines Zeitfenster abzupassen, in dem in der Bäckerei nicht so viel los war.
Der kleine Miguel entdeckte mich als Erster und wippte fröhlich glucksend auf und ab. Seine Mutter Beatriz, die Ladenbesitzerin, hatte das Baby in einem Tragetuch vor der Brust. Sie lächelte liebevoll, als ich eine Runde »Kuckuck« mit ihrem Sohn spielte, was ihn hell auflachen ließ.
»Das will er jetzt den ganzen Tag über machen, vielen Dank auch.« Sie drohte mir spielerisch mit einem Finger.
»Meine Arbeit hier ist vollbracht. Als Belohnung hätte ich gerne …« Ich betrachtete die Auswahl an Leckereien in den glänzenden Glaskästen. Die Türklingel kündigte einen weiteren Kunden an.
»Ich habe frische Gelee-Donuts auf dem Abkühlgitter liegen«, meinte Beatriz.
»Dann stellt sich die Frage gar nicht erst. Einen bitte.«
Sie steckte einen der Donuts mit der Zange in eine Tüte und trat dann zur Kasse.
»Wenn Sie noch einen dazutun, zahle ich sie beide«, sagte der Kunde hinter mir.
Ich schaute über die Schulter zu Levi. »Auf deiner Seite der Stadt gibt es auch Bäckereien, Montefiore.«
»Das ist deine Schuld«, erwiderte er und zog seinen Geldbeutel aus der Tasche. »Du hast mich auf diesen Laden aufmerksam gemacht. Also kannst du nicht erwarten, dass ich nicht herkomme, wo ich doch genau weiß, wie gut die Sachen hier sind.«
Beatriz reichte uns unsere Tüten und Levi sein Wechselgeld.
Cohen Investigations war vor ein paar Monaten von einer Mordverdächtigen verwüstet worden, und Levi hatte mein komplettes Büromobiliar ersetzt und dazu noch gerahmte Drucke von Sherlock-Buchcovern an den Wänden anbringen lassen, um dem Raum eine persönliche Note zu verleihen. Als Dankeschön für sein unglaublich aufmerksames Geschenk hatte ich ihm mit drei Dutzend Gelee-Donuts von Muffin Top einen Zuckerschock verpasst.
Levi kannte mich verdammt gut, doch umgekehrt galt dasselbe. Vielleicht waren wir deswegen so gut darin, uns gegenseitig zu verletzen.
Ich verabschiedete mich ebenso zurückhaltend von Beatriz und Miguel, wie ich mich bei Levi für den Donut bedankte.
»Wegen neulich …« Ich kniff die Augen gegen das helle Sonnenlicht zusammen und klopfte meinen Donut gegen die Innenseite der Tüte, um den überschüssigen Zucker loszuwerden.
Levi tat genau das Gleiche. Ich wusste nicht, ob ich die Augen verdrehen oder lächeln sollte.
»Könnten wir für den Moment einfach nur diese Donutbomben genießen?«, fragte er.
»Wohl eher Bombendonuts.« Ich lachte, doch Levi zog nur fragend eine Augenbraue nach oben. »Den verstehst du nicht.«
»Ich verstehe vieles nicht, Ashira.«
»Okay.« Ich leckte mir über die Lippen. »Versprich mir, dass du Rafael nicht sagst, dass ich dir das erzählt habe.«
Er schob das Wachspapier zurecht, mit dem er den Donut festhielt, so sorgsam darauf bedacht, keinen Zucker auf seinen teuren Anzug zu krümeln. Gerade sah er aus wie ein kleines Kind, das beweisen wollte, dass es cool genug war, um in den Insiderwitz eingeweiht zu werden.
Und ja, es war nicht okay, aber ich erzählte es ihm trotzdem. Einen Augenblick lang wurden seine Augen groß, und um sie herum zeigten sich kleine Fältchen, als würden wir Geschichten über die peinlichen Sachen austauschen, bei denen wir die Betreuer in Camp Ruach erwischt hatten. Wie damals, in den Momenten, in denen wir keine Feinde gewesen waren. Ich zwang ihn, absolute Geheimhaltung zu schwören, und für kurze Zeit war alles beinahe normal.
Ich wischte mir die klebrigen Finger an einer Serviette ab. »Ich fühle mich wie Sam und Ralph aus diesem alten Looney-Tunes-Cartoon.«
»Der Wolf und der Hütehund?«
»Ja, die kamen auch wunderbar miteinander aus, solange sie nicht eingestempelt hatten. Ab da herrschte Krieg.« Ich warf meine Tüte in den Müll. »Ist wohl Zeit zum Einstempeln.«
»Ja.« Er klang resigniert. »Man sieht sich, Ralph.«
»Warum bin ich dumme Wolf in diesem Szenario?«
»Der Hütehund ist wie Watson«, antwortete er. »Der moralische Kompass. Ergo …« Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er davon.
»Dieser Vergleich hinkt!«, rief ich ihm nach.
Ich blieb noch ein paar Minuten lang einfach nur im Hier und Jetzt, bis ich die Rückkehr in die Realität nicht länger aufschieben konnte. Dieses Zwischenspiel änderte nichts. Ich war Levis verbrannte Erde, und er war meine.
In einer Straße mit Wohnhäusern ein paar Blocks von Muffin Top entfernt benutzte ich den Goldmünzen-Express nach Hedon. Die Ramen-Schüssel-Leuchtreklame schwebte über der Suppenküche im Geschäftsviertel und hob sich mit ihrem jadegrünen Glühen vom ewig dunklen Nachthimmel ab. Ihr haftete etwas Beständiges an, wie einem Anker in dieser Welt, und ich winkte der fröhlichen Imbissbetreiberin zu. Anstelle von Spitzhacken wurden nebenan nun hinterlistig lächelnde Vogelscheuchen verkauft. Sie hingen unbeweglich an ihren Ständern, alle bis auf eine, die an einem blutgetränkten Strohhalm saugte. Ihr Blick folgte mir, als ich am Stand vorbeiging.
Ich zog den Kopf zwischen die Schultern und beschleunigte meine Schritte. Um die Steampunk-Katze, die einen Stand mit den verschiedensten Giften betrieb, machte ich einen großen Bogen. Damit hatte ich schon so meine Erfahrungen gesammelt. Allerdings erwog ich an einer winzigen Bude kurz den Kauf von Lederhandschuhen, die ein Talent zum Taschendiebstahl versprachen, das es mit dem des listigen Schlitzohrs aus Oliver Twist aufnehmen konnte. Dann sah ich, dass die Finger des vorherigen Besitzers noch immer drinsteckten. Ruhet in Frieden, tote Körperteile.
Ich hielt auf das Martiniglas mit der grünen Olive zu, das ein Stück weiter am Himmel leuchtete. Das Green Olive war nach dem Brand vor zwei Monaten inzwischen wieder aufgebaut worden. Als ich die schwere Holztür aufzog, stutzte ich beim ersten Blick ins Innere. Wo früher die opulente, aber betagte Einrichtung an längst vergangene Zeiten erinnert hatte, sah es jetzt wie in einer altertümlichen Apotheke aus, in der Barkeeper in weißen Laborkitteln Drinks aus antiquierten Medizinflaschen einschenkten.
Über all das wachte Alfie, ein kleiner, rundlicher Mann mittleren Alters, dessen Markenzeichen ein Nadelstreifenanzug mit roten Hosenträgern war. Seine Gamaschen hatte er jedoch gegen schwarze, auf Hochglanz polierte Budapester eingetauscht. Er machte die Runde durch den Raum, in Begleitung einer kurvigen Asiatin mit warmen braunen Augen, die übers ganze Gesicht strahlte.
Als Alfie mich entdeckte, winkte er und eilte auf mich zu. »Bring der Lady einen Drink.«
Ich machte jedoch eine abwehrende Geste in Richtung des Barkeepers. »Da, wo ich herkomme, ist es Vormittag, aber vielen Dank. Kann ich mit dir reden?«
»Ja, ja, aber erst muss ich dir noch Mabel vorstellen.« Alfie winkte seine Begleiterin herüber und legte den Arm um sie. »Mabel, das ist Ash.«
»Oh, was bist du doch für eine Hübsche.« Ihr ausgeprägter Südstaatenakzent war nicht zu überhören. »Du hast mein großes Bärchen gerettet, Liebes.«
»Ich mach nur meinen Job, Ma’am.« Alter, wo hatte ich denn auf einmal den Fake-Akzent her?
»Du bist hier jederzeit willkommen, Herzchen. Deine Drinks gehen immer aufs Haus.«
Jackpot! »Das nehme ich gerne an.«
Alfie gab Mabel einen Kuss seitlich auf den Kopf und führte mich zu einem freien Tisch. »Sie war Gunters Vergeltung wert, was?«
Der rachsüchtige Geist eines Verstorbenen, der von Levis Ex-Freundin Besitz ergriffen hatte, war hinter Alfie her gewesen, weil der ihm Mabel ausgespannt und das Green Olive abgeluchst hatte. Also war seine Aussage entweder unfassbar weltfremd oder das Süßeste, was ich je gehört hatte. »Das ist sie.«
Wir setzten uns, und ich schaute mich kurz um, um sicherzugehen, dass wir nicht belauscht wurden. »Kennst du jemanden, der auf mächtige übersinnliche Amulette spezialisiert ist?«, fragte ich.
Alfie kratzte sich am Kinn und gab sich große Mühe, geheimnisvoll auszusehen. »Könnte sein.« Er wippte mit einem Bein. »Okay, ja, tue ich. So was von. Die Allerbeste. Sie hat nur manchmal einen Hang zu Gewalt gegenüber Fremden.«
»Von welcher Art von Gewalt sprechen wir?«
»Na ja …« Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Die Polizei in ihrer Heimatstadt in Portugal hat den letzten Zwischenfall als Wolfsangriff verbucht.«
Ich zog die Augenbrauen weit nach oben.
»Aber alles ist gut gegangen«, versicherte er mir. »Sie haben alle Körperteile und keins der Messer gefunden, die sie benutzt hat.«
»Welch eine Erleichterung«, murmelte ich.
»Wenn du dir Sorgen machst, kann ich gerne für dich mit ihr reden.«
»Ich will dich nicht in Gefahr bringen.«
»Oh, Mamã wird mir nichts tun.« Mamã? So oft und gerne ich mich auch über Talia beschwerte, wenigstens machte sie keinen auf Freddy Krueger. »Wonach suchst du denn?«, wollte er wissen.
Normalerweise würde ich bei dieser Sache nicht das Risiko eines Mittelsmanns eingehen, aber Alfie war ein offenes Buch, und dass ich ihm das Leben gerettet hatte, hatte mir seine Loyalität erkauft. Sherlock hatte seine Straßenjungen, und Alfie passte definitiv in diese Kategorie von Informanten, auch wenn er kein Kind mehr war. Außerdem sprachen wir hier von seiner Mutter, und ich war nicht gerade dicke mit Händlern von übernatürlichen Antiquitäten.
»Man nennt es den Kuss des Todes.« Ich erklärte ihm den Ursprung des Amuletts und dass es mächtig war, ließ aber das kleine Detail aus, dass Jezebel-Blut dem Träger Aschera-Magie verschaffte.
Alfie nahm meine Visitenkarte entgegen und versprach mir, mich anzurufen, wenn er etwas erfuhr.
Damit war ich nun frei für den eigentlichen Grund meines Besuchs in Hedon. Ich umfasste die Goldmünze und dachte an einen Bücherwurm.
Die Münze teleportierte mich zu einem verlassenen Jahrmarkt. Die Holzachterbahn schimmerte im Mondlicht wie das Gerippe eines gestrandeten Leviathans. Langsam suchte ich mir einen Weg zwischen den Ruinen des Parks hindurch. Mein Atem klang unnatürlich laut in meinen Ohren, und zwischen meinen Schulterblättern breitete sich ein Kribbeln aus.
Ein rostiges Fahrgeschäft mit langen Metallarmen und glänzenden Autos warf verzerrte Schatten auf den Boden, während an einer zerstörten Bude ein gemalter Clown grinsend Zuckerwatte von der Konsistenz und Farbe von Dämmstoff-Fasern futterte. Ich sprang über abgerissene Kabel, wich einem Pferd aus, das von einem Karussell heruntergebrochen war und dessen Lächeln eher einer Grimasse glich. Vorsichtig ging ich einen Schritt darauf zu. Waren das Fangzähne?
Seit ich meine Allianz mit der Königin geschlossen hatte – oder besser gesagt, seit ich Moran mit Hundezeit bestach –, hatte er mir ein bisschen von der Geschichte Hedons erzählt. Wie die Königin an die Macht gekommen war, verschwieg er dabei jedoch stets.
Das Geschäftsviertel war der ursprüngliche Teil von Hedon, der vor etwa sechzig Jahren einfach nur als Schwarzmarkt für die magisch begabte kriminelle Unterwelt erschaffen worden war. Unter den Architekten-Magiern, die Hedon kreiert hatten, war auch der junge Abraham Dershowitz gewesen. Über die Jahre hinweg hatte man weitere Teile hinzugefügt – weil die Nachfrage da war, aber auch einfach, weil man es konnte. Einige Ideen hatten besser funktioniert als andere, doch bislang war ich noch nie in einem derart verlassenen Teil wie diesem Jahrmarkt gewesen.
Der Größe der Fläche nach hatte es hier nicht mehr als maximal ein Dutzend Fahrgeschäfte gegeben. Etwa die Hälfte war abgebaut worden, und es zeugten nur noch schwarze Flecken auf dem aufgerissenen Asphalt davon, wo sie einmal gestanden hatten. Auf den ersten Blick wirkte dieser Jahrmarkt vielleicht wie eine Sackgasse, aber die Königin war in einer Schaustellerfamilie aufgewachsen, und sie hatte in Bezug auf den Bücherwurm gelogen. Also gab es möglicherweise doch versteckte Hinweise.
Ich umrundete das Piratenschiff, dessen Holzbohlen mittlerweile durchgerottet waren, und blieb dann abrupt am Eingang eines langen Tunnels stehen, der von großen, pinken Holzherzen eingefasst wurde. Ein solides schmiedeeisernes Gitter hinderte Besucher am Zutritt. Ich machte einen großen Schritt über das Unkraut, das in Büscheln davor wuchs, und in das ausgetrocknete betonierte Flussbett hinein, das unter dem Gitter hindurchführte.
Von einem kleinen Schild erfuhr ich, dass der Liebestunnel bis auf Weiteres geschlossen war.
»Liebestunnel?«, sagte auf einmal eine Männerstimme hinter mir. »Ich dachte, das gibt es nur in alten Cartoons.«
Ich fuhr mit einem Seufzen herum. »Hallo, passabler Dad-Doppelgänger.«
Adam grinste, und um seine Augenwinkel bildeten sich Lachfältchen. Er trug Jeans, abgenutzte Turnschuhe und sein Lieblings-Beatles-Bandshirt. Genau dieses Outfit hatte er auf dem Foto an, das wir bei unserem letzten Ausflug in den Freizeitpark von Vancouver gemacht hatten.
Ich hatte meinen Dad gleich zweimal verloren: einmal, als er uns verließ, und das zweite Mal, als ich erfuhr, dass Isaac Montefiore ihn hatte ermorden lassen. Diese leere Illusion spendete mir kaum Trost, und dennoch schlang ich die Arme um mich selbst, damit ich ihn nicht umarmte.
»Alles in Ordnung, kleiner Schatz?« Der Kosename tat weh.
»Solltest du nicht zusammen mit deinem realen Gegenstück endgültig begraben sein?« Ich kickte einen Stein in seine Richtung. »Du bist tot. Ich mache mir keine Hoffnungen mehr, dich zu finden, also warum gehst du mir hier immer noch auf die Nerven?«
»Dafür bist du dann wohl selbst verantwortlich, schließlich existiere ich nur in deinem Kopf. Bonbon?« Er bot mir Zitronenbonbons aus einer runden Metalldose an.
Ich nahm mir eins und spitzte die Lippen, als der saure Geschmack auf meiner Zunge explodierte. »Das geht nicht auf meine Kappe. Du bist eine Nebenwirkung von Hedon. Die gefälschte Handtasche in Vaterform.«
Adam steckte die Dose wieder ein. »Ich glaube, das stimmt schon seit einer Weile nicht mehr.«
»Ich beschwöre dich nicht absichtlich herauf. Warum sollte ich? Unsere Treffen sind im besten Fall rätselhaft und im schlimmsten traumatisierend. So masochistisch bin ich nicht veranlagt.«
»Du vermisst mich.«
»Ich vermisse meinen echten Vater.« Es war wie der Phantomschmerz beim Verlust eines Körperteils, nur dass es etwas in meinem Herzen war, was fehlte. »Ob du da bist oder nicht, ist mir egal. Letzteres würde ich allerdings bevorzugen.«
»Dann weiß ich es auch nicht«, gab Adam zurück. »Könnte es vielleicht eine Art Verdrängungsmuster sein?«
»Oder ich bin etwas auf der Spur, von dem die Königin nicht will, dass ich es finde, und deshalb schickt sie mir noch einen Mindfuck. Aber wo du schon mal hier bist, kannst du dich auch nützlich machen. Wo finde ich einen Bücherwurm?«
Er kaute auf seinem Bonbon herum. »Wenn ich dir das sage, musst du die Antwort darauf ja schon kennen.«
Mistkerl. Ich ging zurück auf den Rummelplatz, hatte aber bereits alles gesehen, was es dort zu sehen gab. Auf keinem der Fahrgeschäfte befand sich ein Bücherwurm, und die einzigen abgeschlossenen Einheiten waren die Zuckerwattebude und der Liebestunnel. Ich verzog das Gesicht. In die Höhle des Zuckerwatte verhökernden Psychoclowns einzubrechen, würde ich mir gern als Plan B vorbehalten.
Auf dem Tunnel lag kein Schutzzauber. Ich sprang wieder in das trockene betonierte Flussbett, knackte das Schloss am Gitter und schob es ächzend nach oben. Drinnen war es stockdunkel, und es roch durchdringend nach Schimmel.
»Du zuerst«, sagte ich. Wenn ich gerade auf einer Rutschpartie in den Wahnsinn war, konnte die Ausgeburt meiner Fantasie dabei gerne als Erstes draufgehen.
Adam machte ein paar Schritte in den Tunnel hinein. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir bei der Ausstellung im Science-World-Museum waren, in diesem Labyrinth, wo man seinen Weg mit verbundenen Augen suchen musste? Da warst du etwa sechs.«
»Vage. Das drehte sich doch irgendwie darum, dass sich die anderen Sinne verstärken oder so.«
»Du hast stur darauf bestanden, als Erste zu gehen, auch wenn du deshalb mehrfach gegen Wände gelaufen bist, weil du dich geweigert hast, meine Hand zu nehmen.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Worauf willst du hinaus?«
Adam hielt mir eine Hand hin.
»Ich bin achtundzwanzig und besitze Magie. Ich muss mich nicht mehr von meinem Fake-Dad an die Hand nehmen lassen. Du bist mein Frühwarnsystem. Los geht’s.«
Er schüttelte den Kopf, und in seinen Augen stand eine fast schon schmerzliche Enttäuschung, doch er gab nicht nach. »Wann bist du so hart geworden, kleiner Schatz?«
»Diamanten entstehen unter Druck«, gab ich zurück und drängelte mich dann an Adam vorbei in die Dunkelheit.
Ich atmete sehr flach. Der Tunnel schluckte nach einigen Metern alles Mondlicht, und die Finsternis lastete schwer auf mir. Ich lauschte angestrengt auf das kleinste Anzeichen von Gefahr und setzte langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Mit einer Hand tastete ich mich dabei an der Wand entlang. Ich verzog jedes Mal das Gesicht, wenn ich in etwas Schleimiges fasste.
Plötzlich ertönte ein Ploppen, ich roch Schwefel, und der linke Ärmel meiner Lederjacke fing Feuer. Fluchend klopfte ich die orangeroten Flammen an den Betonwänden aus.
Meine stachelige Ganzkörperrüstung manifestierte sich gerade noch rechtzeitig, als plötzlich eine Bewegung von links auf mich zukam. Ein Fuß traf mich hart am Kopf und ließ mich ein paar Schritte nach hinten stolpern. Benommen schüttelte ich mich und nahm die Fäuste hoch, aber ich sah immer noch rein gar nichts.
Ein Flammenball schoss aus der Dunkelheit auf mich zu, und ich warf mich zur Seite. Er erwischte mich dennoch an der rechten Schulter, und die Flammen tanzten ein paar Sekunden über die kurzen Stacheln meiner Rüstung, bevor sie verloschen.
Ich schätzte die Position meines Angreifers ab und stürzte mich auf die ungefähre Stelle – doch mein Griff ging ins Leere. Zwei scharfe Dolche erschienen in meinen Händen.
»Komm raus, komm raus, wer immer du auch bist«, trällerte ich.
Nirgendwo rührte sich etwas, dafür wurde der Tunnel stetig enger und heißer. Der beißende Schwefelgestank verstärkte sich, bis mir die Augen tränten und ich das Gefühl hatte, als wäre der Sauerstoff komplett aus der Luft gesaugt worden. Ich streckte die Hände zur Seite aus, um mich zu vergewissern, dass sich die Wände nicht auf mich zubewegten, und holte tief Luft, bekam aber nicht genug davon in die Lunge, weil meine Rüstung irgendwie geschrumpft zu sein schien und mir jetzt den Brustkorb zerquetschte. Wenn ich sie jedoch aufgab, war ich schutzlos. Der Druck wurde immer stärker, und ich fiel erst auf die Knie, dann nach vorn, bis meine Stirn den Beton berührte.
Mit einem ohrenbetäubenden Rauschen, das von den Wänden widerhallte, schoss Wasser durch das Flussbett und riss mich durch einen gewundenen Kanal mit sich. Halb ertrinkend nahm ich kaum noch etwas um mich herum wahr außer Finsternis. Ich drängte die Panik zurück, die mich zu überwältigen drohte, und suchte an den Wänden verzweifelt nach Halt.
Meine Finger fuhren über einen Draht, und ein psychedelisches Lachen hallte durch den Tunnel. Blinkende pinke Lichter flammten in einem epilepsieverursachenden Rhythmus auf, während das Wasser zunehmend langsamer floss. Ich krachte gegen eine Wand, eine Hand keuchend auf meine Brust gepresst.
»Tiptoe Through the Tulips«, im Falsett gesungen und begleitet von einer Elektro-Orgel, schallte durch den Raum und jagte mir kalte Schauder über den Rücken. Wenn man mir erzählt hätte, dass der Sänger ein Serienmörder war, der sich Clownskostüme aus der Haut seiner Opfer nähte und ein Folterporno-Szenario aus Luftballontieren entwarf, hätte ich nur zustimmend genickt. Das klang absolut plausibel.
Eine Gestalt setzte über mich hinweg und jonglierte dabei mit beiden Händen Feuerbälle. Vielleicht konnte ich damit ja die Wasserrinnsale trocknen, die über meine Rüstung liefen.
Die Person drehte sich um, und ich starrte in Isaac Montefiores Gesicht, das mich höhnisch angrinste. Anders als bei dem falschen Adam kam mir diese Illusion sehr gelegen. Isaac würde nie einen Fuß nach Hedon setzen und besaß auch keine magischen Kräfte. Dieser Angreifer benutzte sein Gesicht, das war alles. Ich sprang auf die Füße und rannte auf ihn zu.
Unser Kampf wurde untermalt von hektischem pinken Lichtgeflacker, das unsere Bewegungen abgehackt und eckig wirken ließ. Feuer raste in stotterigen Bahnen auf mich zu. Ich traf mein Gegenüber mit der Faust am Kinn, doch seine Reaktion auf meinen Hieb wirkte wie zeitverzögert, bevor sein Kopf schließlich doch in den Nacken geschleudert wurde. Über allem schwebte dieses hyänenhafte Lachen.
Ich duckte mich unter seiner Deckung weg, manifestierte zwei Dolche und führte einen Stich nach oben in Richtung seiner Kehle aus, um dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Licht spielte auf Isaacs Gesicht und ließ seine Augen in einem Blau erstrahlen, das an einen ruhigen Sommertag erinnerte. Die Schatten verbargen die grauen Haare an seinen Schläfen, was ihn erheblich jünger wirken ließ. Ich zuckte im letzten Moment zur Seite, und meine Klingen zischten harmlos an seinem Gesicht vorbei.
Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust. Wenn ich es nicht mal schaffte, eine Illusion umzubringen, nur weil sie Ähnlichkeit mit Levi hatte, war der echte Kampf vorbei, ehe er überhaupt begonnen hatte.
Ein weiterer großer Feuerball flog auf mich zu, aber ich hatte die Bewegung der Schultermuskeln meines Angreifers gesehen, bevor er das Ding in meine Richtung schleuderte. Ich zwang mich, alle Spuren von Levi in seinem Vater zu ignorieren, ging in die Knie und schwang mein Bein in einer ausladenden Bewegung, die Miles mir beigebracht hatte. Raffiniert. Tatsächlich erwischte ich meinen Gegner in der Kniekehle. Sein Bein gab unter ihm nach, und er stürzte hart zu Boden. Ich ließ meine Rüstung verschwinden, war mit einem Satz über ihm und schnitt ihm, ohne zu zögern, mit meinem Dolch die Kehle durch.
Blut verteilte sich in einem Rorschach-Muster in dem betonierten Flussbett. Von wilder Befriedigung erfüllt schoss ich einen roten Magiestrahl in den Isaac-Doppelgänger ab, um ihm den Rest zu geben.
Issacs Gesicht wurde zu Adams, und der Gesang verstummte abrupt. Angespannte Stille breitete sich aus. Ich trat so hastig den Rückzug an, dass ich gegen die gegenüberliegende Seite des Tunnels prallte.
Adams Blick war verschleiert, und er holte mühsam Luft. Eine Hand presste er auf seinen blutenden Hals, die andere streckte er nach mir aus. »Bleib bei mir. Bitte?«
Ich hatte das getan. Jetzt konnte ich wenigstens die Verantwortung für meine Taten übernehmen und bei ihm bleiben. Aber ich konnte nicht jemandem beim Sterben zusehen, den ich liebte. Nicht, wo ich doch immer und immer und immer wieder vom Tod meines Vaters geträumt hatte. Diese Albträume sollten im Dunkeln bleiben und mir nicht in dieses rosarote Licht folgen. War es denn so schlimm, dass ich Rache wollte? Die Göttin Aschera hatte mich dazu berufen, Chariot zu Fall zu bringen. Das war meine Bestimmung. Es war Gerechtigkeit. Und nichts, was mir wieder und wieder so viel abverlangen sollte.
»Ash?«
Meine Sicht verschwamm. »Tut mir leid«, flüsterte ich und rannte los.
Auch Seitenstechen hielt mich nicht auf. Ich lief immer weiter, bis ich plötzlich vor einer herzförmigen Tür stand. Wartete Adam noch immer darauf, dass ich seine Hand ergriff, oder war das Licht inzwischen aus seinen Augen geschwunden, und lag er tot und allein dort auf dem Boden? Ich warf einen Blick über die Schulter.
Hinter mir erstreckte sich ein gerader Tunnel bis zum Eingang, durch den das Mondlicht strömte. Tatsächlich spendeten winzige rosafarbene Glühbirnen bis auf etwa drei Viertel der Höhe der Wände schummriges Licht, doch es gab keine Windungen und keinen Adam. Überhaupt keine Leiche.
War das alles nur eine Illusion gewesen? Ich schaute auf meinen Ärmel und entdeckte dort eine schwarze Rußspur entlang des Materials, die schwach nach Rauch roch.
Illusionen plus handfeste Feuermagie waren eine ziemlich wirkungsvolle Abschreckung. Eindringlinge erst mal mit der Psycho-Tour mürbe machen, sie angreifen und dann den Flammenwerfer auspacken, um ihnen den Rest zu geben, wenn sie verletzt und wimmernd auf dem Boden lagen. Ohne meine Rüstung hätte ich eine exzellente Fackel abgegeben.
Was auf der anderen Seite der Tür war so wertvoll – oder so schrecklich?
Im Handumdrehen knackte ich das Schloss, wappnete mich innerlich und trat ein.