Nie im Leben hätte ich erraten, was ich da vor mir sah. Mein Kinderzimmer war nicht besonders spektakulär gewesen, aber wenn ich auf Disney-Prinzessinnen gestanden hätte, hätte ich für diesen Raum wohl ohne Zögern jemanden mit einem Springseil erwürgt. Das Zimmer war wie geschaffen zum Spielen und Träumen. Die Wände waren rosa gestrichen, und das Himmelbett zierten breite Rüschen. Das Mädchen, dem dieses Zimmer gehörte, konnte sich entweder mit dem riesigen, lächelnden Teddybär einkuscheln, der auf einem Schaukelstuhl saß, oder Stunden mit dem Lesen von abgeliebten Büchern wie Alice im Wunderland und Die Chroniken von Narnia verbringen, die ordentlich aufgereiht auf den weißen Regalen standen.
Der Raum bot aber durchaus auch etwas für ältere Mädchen, die davon träumten, aus ihrem Gefängnis gerettet zu werden – tatsächlich gab es hier sogar schon eine eingeschlossene Prinzessin. Auf dem Himmelbett saß im Schneidersitz eine wunderschöne Frau mit langen dunklen Haaren. Sie war vielleicht Anfang zwanzig und ihr Gesicht vollkommen reglos.
Ein milchiger Film bedeckte ihre Augen, und ihre Lider zuckten so schnell, dass sie durch den blau schimmernden Datenstrom kaum zu sehen waren, der die Frau wie eine Kumuluswolke umgab. Statt Nullen und Einsen waberten dort Wörter und Phrasen in jeder nur erdenklichen Sprache, die immer heller wurden, bevor sie verglommen und in einer Endlosschleife neue Wörter bildeten.
Chemische Gleichungen verwandelten sich in arabische Schriftzeichen und dann in IKEA-Aufbauanleitungen und einen Auszug aus Pu der Bär. Das Ganze war surreal schön, aber vom schieren Ausmaß der Magie in diesem Raum bekam ich eine Gänsehaut.
Ich hatte ein ungutes Gefühl dabei, sie einfach so um ihre Hilfe zu bitten, wo sie doch hier gefangen gehalten wurde, doch sie war meine einzige Hoffnung darauf, mehr über Olivias Versicherung zu erfahren. Langsam ging ich auf die Frau zu, aber sie reagierte gar nicht auf meine Anwesenheit. So musste es wohl den Bittstellern vor dem Orakel von Delphi ergangen sein.
»Hallo. Ich heiße Ash. Darf ich dir eine Frage stellen?«
Hätte ich eine Opfergabe mitbringen sollen? Eine Rose? Einen Apfel? Mein Netflix-Passwort? »Ich versuche, einen schriftlichen Beweis für gewisse kriminelle Aktivitäten zu finden.«
Weder der Bücherwurm noch die Wörterwolke zuckten auch nur.
Rafael hatte mich vorgewarnt, dass diese Menschen wegen der Informationsüberlastung nur selten klare Momente hatten. Wenn Sprechen nicht half, sollte ich sie dann vielleicht berühren, um sie auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen?
Ich streckte eine Hand aus, zögerte aber.
War sie immer so – auf ewig verbunden mit dem Wissen der Welt, als würde sie an einem Tropf hängen? Oder war das das Werk der Königin? Wenn ich versuchte, sie zu retten, würde das eine sehr nützliche Partnerschaft im Kampf gegen Chariot beenden.
Ich massierte mir die Schläfen und suchte fieberhaft nach einer Lösung. »Wirst du gegen deinen Willen hier festgehalten?« Keine Reaktion. War ja klar.
Ich spielte mit der Goldmünze. Wäre der Bücherwurm in meiner Obhut besser dran? Welchen Schaden würde sie wohl nehmen, wenn ich sie hier rausholte, und wohin sollte ich sie überhaupt bringen? House Pacifica kam nicht infrage. Von Levis möglichem Ausstieg aus Team Jezebel mal ganz abgesehen, konnte er sich nicht so offen gegen die Königin stellen.
Aber ich konnte diese Frau auch nicht einfach hierlassen, selbst wenn ich damit dem Zugriff der Königin sie ein Ende setzte und mir deren Zorn zuzog.
»Ich kann dir helfen, hier rauszukommen.« Sie antwortete nicht.
Ich näherte mich ihr weiter, bis meine Knie gegen die Matratze stießen. In diesem Moment wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass das hier nicht in Ordnung war. Wer diese junge Frau auch sein mochte, sie verdiente ein normales Leben, wie auch immer das für sie aussah. Niemand verdiente es, in einer seltsamen Jahrmarktsattraktion festzusitzen, und schon gar nicht in dieser.
Ich massierte mir die Nasenwurzel. Was bedeutete ein normales Leben für mich? Ich war mir im Moment nur sicher, dass ich diesen vierhundertjährigen Krieg mit Chariot beenden musste, weil … Welchen Sinn hätte sonst das, was ich bereits hatte ertragen müssen? Ich rieb mir über die Narbe an meinem rechten Oberschenkel. Alle glaubten, dass ich auf Rache aus war, wo ich doch eigentlich nur nach einem tieferen Sinn suchte.
Aber um ehrlich zu sein, hatte ich auch Angst, dass es irgendwann vorbei war. Ein Ende bedeutete einen Abschluss, nicht mehr. Wenn ich nicht mehr Chariot als Ziel vor Augen hatte, wenn es keine losen Enden mehr zu verknüpfen gab, was blieb mir dann noch?
»Kannst du in irgendeiner Form reagieren?« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter, doch als meine Finger durch die Wolke glitten, erfüllte ein ohrenbetäubendes Geräusch den Raum. Hoch und summend und grell spiegelte es sich in der Datenwolke wider, die zuckte und heftig pulsierte. Ich versuchte, meine Hand zurückzuziehen, aber es ging nicht.
Die Frau drehte den Kopf und starrte mich an, ohne zu blinzeln. Mit dem gruseligen milchigen Film, der ihre Augen bedeckte, wirkte sie wie aus Kinder des Zorns gefallen. Sie öffnete den Mund, und ein hohes Kreischen gesellte sich zu dem Summen.
Meine Ohren klingelten. Ich kniff die Augen zusammen und wollte mit der freien Hand nach der Goldmünze tasten, konnte mich aber nicht bewegen. So blieb ich gefangen in der Kakofonie, die sich in meinen Kopf bohrte.
Der Lärm wurde immer lauter, und als ich schon dachte, dass mir jeden Moment der Schädel platzen würde, löste sich meine Hand von ihrer Schulter, und ich verschwand.
Dann war ich zurück auf dem Jahrmarkt – oder einer Variante davon. Bunte Lichter erhellten die Nacht, Besucher umringten die Fahrgeschäfte, und fröhliche Jahrmarktsmusik tönte aus den Lautsprechern. An den Buden wurden pastellfarbene Zuckerwatte, Pommes und riesige Hotdogs auf Spießen verkauft. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Bratfett.
Ich stand mitten in der Menschenmenge, ein Felsbrocken im Fluss der Leute, und versuchte, mich zu sammeln, während von den Fahrgeschäften begeistertes Kreischen zu mir herüberwehte.
Wo war ich?
»Hereinspaziert! Ein Spektakel erwartet Sie!«, hörte ich eine Stimme von irgendwo über mir.
Die Menge bewegte sich in eine Richtung und zog mich mit sich zu einem Torbogen in Form einer riesigen Herzkönigin-Karte. Auf der anderen Seite befand sich nur ein einziges Zelt, vor dem ein blonder Teenager stand und mich zu sich heranwinkte.
»Lassen Sie sich von Serafina ins Herz blicken«, sagte er mit russischem Akzent.
»Moran?«
Er warf mir einen verständnislosen Blick zu, als hätte ich ihn mit dem falschen Namen angesprochen. »Zwei Marken für den Eintritt.«
»Ich habe keine …« Die Marken lagen in meiner Hand, und ich schloss die Finger fest darum. Es war noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, wenn die Königin mir ins Herz geblickt hatte.
Die Goldmünze und der Holzring hingen immer noch an der Kette um meinen Hals. Vielleicht würde mich eins von beidem hier rausbringen, aber ich war neugierig. Kurz bevor ich die Datenwolke berührt hatte, war ich in Gedanken bei einem normalen Leben gewesen. Wenn Adam der Geist meiner Vergangenheit war, war das hier eine Vision meiner Zukunft?
Ich reichte dem jungen Moran die Marken. Er zog den Perlenvorhang am Zelteingang beiseite und bedeutete mir mit einer ausladenden Geste, dass ich eintreten durfte.
In einer Ecke spendete eine Stehlampe schummriges Licht, ansonsten war das Zelt komplett leer.
»Hallo?«
Hinter mir raschelte Stoff. Ich fuhr herum – und stand in meinem Büro.
Mit einem Finger strich ich über das gerahmte Foto von mir und Priya am Tag unseres Uniabschlusses und betrachtete dann stirnrunzelnd den Computerbildschirm, auf dem in einem Versicherungsdokument eine Passage farbig hervorgehoben war. Die Sherlock-Buchcover hingen noch an der Wand, aber die Dartscheibe und der zweite Schreibtisch waren verschwunden. Die Besucherstühle standen an ihrem Platz.
»Ash, meine geschätzte Meisterdetektivin«, begrüßte Rafael mich jovial, während er in den Raum schlenderte. Sein britischer Akzent war noch da, klang aber wesentlich weniger hochgestochen.
Blinzelnd betrachtete ich das grellblaue Polohemd, das er über der khakifarbenen Stoffhose trug. Außerdem hatte er keine Brille auf, und seine Haare waren streng nach hinten gegelt.
»Nettes Shirt«, meinte ich.
»Ich habe ihnen gesagt, dass die Farbe furchtbar ist, aber die Firma hat darauf bestanden, dass wir die zum großen Abschlag heute Morgen tragen müssen.« Er setzte sich breitbeinig auf einen der Besucherstühle. »Du hast dich ja mit Arbeit vor dem Benefizgolfturnier gedrückt, also hatte ich immerhin eine Chance auf den Pokal.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Es gab keine Illusion, kein Paralleluniversum und kein sonst wie durchgeknalltes Szenario, in dem ich Golf spielte – und schon gar keines, in dem ich auch noch gut darin war. Als Freizeitaktivität rangierte das bei mir zwischen »sinnlos« und »langweilig«.
»Wie ist es gelaufen?«
»Miller hat mich geschlagen, aber es war knapp. Na ja, alles für einen guten Zweck. Hör mal …« Er lockerte den Kragen seines Hemds ein wenig. »Ich muss leider den Cooper-Fall übernehmen. Sie wollen Klage gegen unsere Entscheidung zu der Lebensversicherungspolice einreichen, und die Zentrale will einen Vergleich erzielen. Tut mir leid. Ich weiß, wie lange du daran gearbeitet hast.«
Ja, ich hatte wahrlich große Opfer erbracht. »Der Fall gehört dir, und du hast meinen Segen.«
Er machte schwungvolle Pistolengesten mit beiden Händen, und ich presste die Lippen aufeinander, um mir einen spöttischen Laut zu verkneifen. »Danke, du bist die Beste.«
Glaubte die Königin, dass meine größte Angst darin bestand, dass die Lüge über meine Arbeit für ein Versicherungsunternehmen Wirklichkeit wurde?
Wohl kaum. Mir blieben trotz allem meine Nefesh-Magie und viele faszinierende Fälle.
Ich warf einen Blick zur Tür, und ein heißer Blitz durchzuckte mich.
»Wo ist sie?«
»Was?«
»Die Aufschrift Cohen Investigations. «
»Die Detektei hast du doch vor Jahren dichtgemacht, weil du exklusiv für uns arbeiten wolltest«, erwiderte Rafael. »Alles in Ordnung?«
»Sie war aber immer noch da. Und ich habe für House Pacifica gearbeitet.«
Rafael kratzte sich am Kopf. »Was sollten die denn von dir wollen?«
»Meine …« Meine Jezebel-Magie, um Meryem und die anderen vermissten Teenager zu finden. Meine Bekanntschaft mit Mayan, wegen der es mir auffallen würde, wenn sie sich seltsam verhielt. Meine Beziehung zur Königin, um den Bücherwurm zu finden.
Selbst die Königin hatte mich für Omars Fall angeheuert, weil sie jemanden brauchte, der als Weltige in den Akten geführt wurde.
Keinen dieser Jobs hatte ich aufgrund meiner Fähigkeiten als Ermittlerin bekommen. Ich hatte keinen Kundenstamm, es gab keine Mundpropaganda, und ich konnte mir aus den Fällen, die ich gelöst hatte, auch kein Portfolio aufbauen. Wo stand ich damit, wenn alles vorbei war?
Wie betäubt reichte ich Rafael die fragliche Akte. Mit einer weiteren Runde Pistolengesten ging er und nickte auf dem Weg nach draußen höflich Priya zu, die gerade hereinkam.
Der riesige Klunker, der an ihrem Finger neben dem Ehering prangte, war eine Sache, ihr unübersehbarer Schwangerschaftsbauch dagegen eine ganz andere. »Guck mal, Würmchen, da ist Tante Ashira.« Sie streichelte sich über den Bauch. »Sag Hallo zu deiner Nichte.«
Ich tätschelte ihren Bauch vorsichtig und schob ihn dann ein Stück von mir weg. »Das ist kein Richtmikrofon, Pri. Hm, hi, Baby-Dings.«
»Baby-Dings?« Sie schnitt eine Grimasse. »Was ist aus ›supersüßes Lieblingsscheißerchen‹ geworden?«
Äh, ich hatte mich keiner Lobotomie unterzogen, und diese Worte würden mir nie im Leben über die Lippen kommen?
Priya stützte sich an den Armlehnen des Stuhls ab und machte eine komische Rückwärtsbewegung, bis ihr Hintern auf der Sitzfläche landete. »Habe ich noch Knöchel?«
Ich schielte über die Tischkante. »Du hast Füße an den Beinen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wie geht’s dir und dem supersüßen Lieblingsscheißerchen denn?«, fragte ich und versuchte, dabei nicht an Kinderkacke zu denken.
Sie plapperte munter über seltsame Essenskombinationen, griff dann jedoch nach meiner Hand. »Du musst bei der Geburt dabei sein, also sorg dafür, dass dein Terminkalender leer ist, ich brauche dich. Du hast mich dazu ermuntert, schwanger zu werden, du Babyfreak. Du wirst mit dem Würmchen in den Park gehen und ihm das Stricken beibringen, wie du es versprochen hast.«
Wow, sie konnte ganz schön fest zupacken.
»Versprochen ist versprochen. Das wird sicher großartig.« Wenn es hart auf hart kam, konnte ich der Kleinen mithilfe der Stricknadeln den grundlegenden Umgang mit Stichwaffen vermitteln. Oder mir selbst die Augen ausstechen.
»Juhu, Liebes«, trällerte Talia und rauschte in mein Büro. Trug meine Mutter etwa Yogapants mit Blumenmuster? Hoppla. Sie gab Priya einen Kuss auf den Kopf, beugte sich über den Bauch, um das Baby zu begrüßen, und umarmte mich dann fest. »Du siehst so gut aus. Ich könnte dich auffressen. Schmatz, schmatz, schmatz.«
Ich zwickte mich selbst, wachte aber nicht aus meinem Zuckerkoma auf. »Okay, Talia.«
»Talia? Ich bin deine Mutter, du kleine Nervensäge. Diesen Titel habe ich mir mit sechzehn Stunden Wehen verdient, weil du schon in meinem Bauch so stur warst. Zeig mal ein bisschen Respekt.« Sie zwinkerte mir zu und stellte ihre riesige Handtasche mit einem leisen Rums auf meinem Schreibtisch ab.
Eine Mutter, die mich bedingungslos liebte.
Eine beste Freundin, die mich zur Tante machte.
Ich rieb mir die schmerzende Brust. Von dieser Zukunft hatte ich nie geträumt, aber das Gefühl war trotzdem irgendwie angenehm. Meine Beziehung mit der echten Talia war entweder von Geheimnissen und Lügen belastet, oder wir stritten uns ganz offen, und meine Freundschaft mit Priya glich in den letzten Monaten eher einem Minenfeld.
Alles wegen meiner Jezebel-Magie. Würde sich das ändern, wenn meine Mission beendet war? War das der Preis, den ich zahlen musste? Meine persönlichen Beziehungen verbesserten sich, aber meine Karriere ging den Bach runter? Warum sollte ich mich auf diesen Deal einlassen?
»Ich habe dein Make-up mitgebracht«, sagte Talia.
Priya klatschte in die Hände. »Umstyling!«
Nur über meine Leiche. Das hier waren eindeutig doch keine Visionen von dem, was sein könnte. Es war ein Albtraum-Trip in eine Dämonendimension mit obligatorischer Folter.
Die beiden Frauen stürzten sich praktisch auf mich.
»Ich muss arbeiten«, protestierte ich und schob ihre Hände von mir weg. »Das ist total unprofessionell.«
»Dir Gedanken um dein Aussehen zu machen, ist auch auf beruflicher Ebene immer klug«, erwiderte Priya. »Eine konservative Versicherungsgesellschaft weiß es sicher zu schätzen, wenn ihre Vertragskräfte gut und gepflegt aussehen.«
Es war einfacher, mich nicht gegen diese beiden wild entschlossenen Frauen zu wehren, als sie von meiner tatsächlichen Situation zu überzeugen.
»Da ist ja unsere superhübsche Prinzessin«, meinte Pri und verpasste meinen Wimpern eine letzte Schicht Mascara.
Meine Mutter wühlte in ihrer Handtasche herum. »Aha!« Sie hielt mir einen kleinen Handspiegel hin.
Ich sah gar nicht mal so schlecht aus. Sie hatten mir Smoky Eyes und einen roten Schmollmund verpasst. Meine Haare waren von Talia zu einem ordentlichen, hohen Pferdeschwanz zusammengefasst worden, der meine Wangenknochen betonte. Es gab nur ein Problem. »Das ist nicht bloß gepflegt. Das ist ein Partylook. Seit wann gehört es denn zu meinem Job, die Betrüger so heißzumachen, dass sie alles gestehen, wenn ich sie erwische?«
Priya und Talia tauschten einen wissenden Blick miteinander.
Ich verengte die Augen. »Was ist los?«
»Das Leben dreht sich nicht nur um Arbeit«, meinte Talia.
»Hi.«
Ich fuhr zu Levi herum, der nervös mit einer kleinen Geschenktüte in der Hand im Türrahmen stand. Unwillkürlich sog ich seinen Anblick in mich auf, von seiner Jeans über den dunkelgrünen Pullover, der seine Schultern umschmeichelte, bis hin zu seinen rabenschwarzen Haaren, die ihm locker ins Gesicht fielen. Seine tiefblauen Augen richteten sich auf mich, als wäre ich der einzige Mensch auf Erden.
Oh. Die anderen Besucher waren also nur zum Aufwärmen gewesen, bevor die eigentliche Folter begann. Ich grub die Finger in die Armlehnen meines Bürostuhls.
»Wir sollten gehen«, murmelte meine Mutter.
Klar, putzt mich raus, werft mich ihm zum Fraß vor und haut dann ab.
Priya zupfte an meinem Pferdeschwanz. »Ich rufe dich morgen an.«
Talia küsste mich auf die Wange, und dann wechselten beide auf dem Weg nach draußen noch ein paar leise Worte mit Levi.
Er kam vorsichtig auf mich zu. »Ist es in Ordnung, wenn ich …?« Er deutete auf einen der Besucherstühle.
»Tu dir keinen Zwang an.«
Er setzte sich und reichte mir die Tüte.
Ich zupfte das gelbe Seidenpapier beiseite. Darunter fand ich eine Schachtel mit einem Gelee-Donut vor. »Gleich zweimal an einem Tag«, murmelte ich.
»Was?«
Ich schüttelte den Kopf. »Dir ist schon klar, dass ich nicht teile.«
Er deutete auf eine kleine, helle Narbe auf seiner Hand. »Was du nicht sagst.«
Las die Magie der Königin in meinen Erinnerungen oder … »Daran erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich an alles. Vor allem daran, wie du dich kaputtgearbeitet hast. Und wie ich dann …« Er gab mir einen Kuss auf die Fingerknöchel. »Es gibt keine Entschuldigung dafür, wie ich dich behandelt habe. Ich hätte auf uns vertrauen müssen, und wenn du mich zurücknimmst, wird nichts und niemand je wieder zwischen uns stehen. Ich schwöre es.«
Seit Monaten sehnte ich mich danach, diese Worte zu hören, doch jetzt lösten sie nur ein hohles Gefühl in mir aus.
»Ich habe dich so sehr vermisst«, fügte er noch hinzu.
So dumm es auch war, mir wurde unglaublich warm ums Herz bei dem Gedanken, dass Levi wieder hinter mir stand und Teil meines Lebens war. Nur war das hier nicht mein Levi. Es gab keinen »mein Levi« mehr. Doch was schadete es, noch einen Moment länger in dieser Illusion zu verweilen?
Ich breitete die Arme aus. »Komm her, Leviticus.«
Sein Piratengrinsen schickte einen heißen Lustblitz durch meinen Körper. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen lächerlichen Spitznamen noch mal höre.«
»Es war der beste Tag deines Lebens, als du mich kennengelernt hast.«
Er lachte und setzte sich so auf meinen Bürostuhl, dass ich Platz auf seinem Schoß fand. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und atmete tief ein, weil ich mich nach dem Duft seiner Magie sehnte. Doch da war nur ein Hauch von Rasierwasser.
Das Pochen in meinem Kopf wurde stärker. Alles andere an ihm fühlte sich absolut real und richtig an. »Ich habe dich vermisst.«
»Ich dich auch.«
Ich schaute zu ihm hoch. »Ja? Erzähl mir, warum, und fass dich dabei bloß nicht zu kurz.«
»Du bist intelligent, witzig, und du hast ein riesengroßes Herz. Alle Gründe aufzuzählen, würde viel zu lange dauern, Ash. Ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass ich es noch mal versuchen will. Ich weiß, dass deine Eltern es nicht geschafft haben, aber wir werden es hinkriegen. Ich musste mich vielen meiner eigenen Dämonen stellen, und du musstest mit dem klarkommen, was dein Dad dir angetan hat. Keiner von uns kann sich mehr wie ein verängstigtes Kind verhalten.«
Ich zuckte zusammen, als ich die Worte hörte, die ich dem echten Levi so herzlos an den Kopf geworfen hatte.
»Ich bin nicht Adam«, versicherte er. »Ich werde dich nicht verlassen. Du bist meine Zukunft, und ich werde dich nicht enttäuschen.«
Ich umarmte ihn noch ein letztes Mal und schwelgte ein wenig in seinen Worten, bevor ich sie wieder losließ. Das hier war keine Vision meiner Zukunft. Es war ein Weckruf. Levi und ich konnten die Realität für ein paar Augenblick verdrängen, doch abgesehen davon war das zwischen uns vorbei. Diese Version des Mannes, den ich mal geliebt hatte, existierte nur in Form eines magischen Trugbilds.
Und der Rest meiner Zukunft? Wenn ich Chariot ein für alle Mal aufgehalten hatte – wenn ich Isaac aufgehalten hatte –, würde ich nicht mehr derselbe Mensch sein wie jetzt. Über die Wünsche dieser Ash zu spekulieren, war sinnlos.
Ich löste mich von Levi und stand auf. »Es ist zu spät für uns.«
Ein verzweifelter Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Kämpf für uns, bella . Ich flehe dich an.«
Ein scharfer Schmerz durchzuckte mich bei dieser verdrehten Parodie der Worte, die ich an unserem letzten Abend gesagt hatte. Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, Ash . So sehr hatte ich darauf gewartet, dass er seinen Fehler einsah, aber das so zu hören, gab mir den Rest.
Ich legte Levi eine Hand an die Wange und umfasste mit der anderen die Goldmünze. »Mach’s gut.«