KAPITEL 11

Die Münze brachte mich direkt in mein Wohnzimmer.

Priya schrie erschrocken auf und ließ den Löffel in ihr Müsli fallen, woraufhin Milch auf ihren Schlafanzug spritzte. »Wo zum Teufel warst du?«

Ich blinzelte und starrte das Zuckerstangen-Muster auf ihrem Schlafanzug ein bisschen dümmlich an. »Den hattest du heute Morgen noch nicht an.«

»Führst du etwa Buch über meine Schlafanzüge? Such dir ein neues Hobby, Holmes. Und nein, gestern Morgen hatte ich den noch nicht an, aber gestern Abend habe ich ihn angezogen. Es ist Sonntag. Ich habe dich seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr gesehen.«

Ich runzelte die Stirn. Das war nicht möglich.

»Warum hast du auf keine meiner Nachrichten geantwortet?« Priya rubbelte über den Milchfleck. »Du kannst mir nicht sagen, dass Chariot weiß, wer du bist, und mich dann einfach ignorieren.« Ihre Stimme wurde immer höher.

Ich schaute auf mein Handy und entdeckte dort sieben zunehmend ängstlicher klingende Nachrichten von ihr. »Die habe ich nicht bekommen.«

Mrs Hudson kam mit Pinky in der Schnauze ins Wohnzimmer gerannt und sprang an meinen Beinen hoch, was mich nach hinten auf die Couch beförderte. Dann hüpfte sie neben mir auf die Sitzfläche und drängte ihren Kopf unter meine Hand.

Ich kraulte den Hund hinter den Ohren, während ich Priya die Sache mit dem Bücherwurm und der Vision erzählte, die ich durchlebt hatte, nachdem ich die Datenwolke berührt hatte.

Priya hörte mir ruhig zu, doch eine ihrer Hände zuckte kurz zu ihrem Bauch, als ich ihre Schwangerschaft erwähnte. Als ich meinen Bericht beendet hatte, stellte sie die nun leere Müslischüssel auf dem Couchtisch ab. »Ich würde nie zulassen, dass du meinem Kind das Stricken beibringst.«

Ich vergrub das Gesicht in einem Sofakissen. »Irgendwas in mir hat sich noch dumm an die Hoffnung geklammert, aber das mit mir und Levi ist wirklich vorbei.«

Priya gab einen unbestimmten Laut von sich und streichelte mir über den Rücken. »Tu, was du am besten kannst: arbeite. Und dazu gehört, Antworten von dem Bücherwurm zu bekommen. Wie willst du mit der Frau umgehen?«

Ich ließ das Kissen sinken und atmete erschöpft aus. »Eins nach dem anderen. Erst mal muss ich herausfinden, ob sie gegen ihren Willen festgehalten wird. Wenn ja, kann ich sie nicht dortlassen. Egal, wie die Königin sich dafür rächen wird.«

»Hoffentlich bekommt Isaac ihre Wut ab«, meinte Priya fröhlich. »Wie willst du erreichen, dass diese Frau ansprechbar wird?«

»Blank.« Eine Designerdroge, die inzwischen exklusiv für House Pacifica hergestellt wurde, seit Levi davon erfahren hatte, dass eine ihrer Nebenwirkungen in der Unterdrückung von magischen Fähigkeiten bestand. Eine Dosis reichte für vierundzwanzig Stunden, was mir mehr als genug Zeit geben würde, den Bücherwurm nach Beweisen für die Geldwäsche zu befragen und der Frau zur Flucht zu verhelfen, sollte sie das wollen. Wenn nicht, bekam sie ihre magischen Fähigkeiten ohne Langzeitfolgen zurück.

Ich warf Pinky für Mrs Hudson quer durch den Raum und tätigte dann einen Anruf. Zur Begrüßung senkte ich die Stimme zu einem heiseren Raunen. »Ist da Kilo McSchnupfs Drogenimperium? Ich brauch dringend Stoff, Mann.«

»Es ist Sonntag, Cohen«, erwiderte Miles am anderen Ende der Leitung. »Der Tag, an dem ich meine Ruhe habe. Vor dir.«

»Was bist du denn für ein schlechter Jude, Berenbaum? Dein Sabbat war gestern. Ich hoffe, du hast ihn genossen. Aber zur Sache: Wie komme ich an etwas Blank für einen Fall?«

»Welchen Fall?«

»Der Bücherwurm.«

»Rede mit Levi«, sagte Miles.

»Warum sollte ich das tun, wo du doch problemlos in der Lage bist, mir was von dem Zeug vom Chemiker zu besorgen?«

»Weil Levis Laune, die in den letzten beiden Monaten ohnehin schon beschissen war, seit gestern noch beschissener geworden ist. Was auch immer du gemacht hast, bring es wieder in Ordnung.«

»Oh mein Gott, Miles. Hör auf, mich jedes Mal dafür verantwortlich zu machen, wenn Seiner Lordschaft irgendwas quersitzt.« Unser Aufeinandertreffen in der Bäckerei war nicht spurlos an Levi vorbeigegangen? Warf es ein schlechtes Licht auf mich, dass mich das mit Selbstzufriedenheit erfüllte? Ha.

Miles schwieg bedeutungsschwanger.

»Na schön«, gab ich nach. »Ich hole mir das Blank von Levi. Zufrieden?«

»Wenn er mal wieder lächelt, benenne ich ein Sandwich nach dir.« Damit legte er auf.

Wenn Levi noch miesepetriger wurde, würde Miles mich umbringen. Auf der anderen Seite setzte mir die Drohung meines baldigen Ablebens eine Deadline für den Abschluss meiner Fälle, und ich arbeitete sehr gut unter Druck.

»Hatte ich erwähnt, wie sehr ich Miles hasse?«, fragte ich.

»Bestimmt schon seit einer Woche nicht mehr«, entgegnete Priya.

Ich warf mein Handy aufs Sofa und ließ mich müde nach hinten sacken. Ich hätte auf uns vertrauen müssen. Ich habe dich so sehr vermisst. »Wie soll ich Levi gegenübertreten, wo ich die Versprechen dieser anderen Version von ihm noch im Ohr habe? Es ist vorbei, das wusste ich, aber der Kerl hat alles gesagt, worauf ich gehofft habe. Ich habe es gesehen, es gehört, und jetzt soll ich es einfach vergessen, weil nichts davon real war?« Ich sortierte das Durcheinander auf unserem Couchtisch zu kleinen Stapeln. Wenn nur alles im Leben so leicht zu ordnen wäre. »Weißt du, was das Schlimmste ist? Selbst wenn es der reale Levi gewesen wäre, würde ich ihm nicht glauben.«

»Ihm nicht glauben oder ihm nicht vertrauen?«

Ich zuckte hilflos die Schultern.

Priya schnappte sich ihre leere Müslischüssel. »Soll ich die Drogen für dich holen gehen?«

Ich schenkte ihr ein schiefes Grinsen. »Danke, aber nein. Ich habe die Jezebel-Karte gezogen, da kann ich mich jetzt nicht vor der Verantwortung drücken.«

Sherlock Holmes hatte mal gesagt: »Das Lernen ist nie beendet, Watson. Es ist eine Reihe von Lektionen, und die größte kommt zum Schluss.« Bisher war dieser Lehrplan verwirrend und schmerzhaft gewesen, und diese sogenannte größte Lektion könnte mein Untergang sein. Andererseits hatte er an anderer Stelle gesagt: »Arbeit ist das beste Mittel gegen Kummer, mein lieber Watson.« Wenn mir also etwas über mein gebrochenes Herz hinweghelfen konnte, dann ein ordentliches Rätsel.

Ausgerüstet mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen für neutrale Treffpunkte, die eine möglichst kurze Verweildauer ermöglichten, rief ich Levi an, der ziemlich niedergeschlagen klang. Er fragte, ob wir stattdessen am Spanish Banks Beach spazieren gehen könnten, um zu reden.

Hatte unser Intermezzo in der Bäckerei ihm Klarheit verschafft bezüglich seiner Überlegung, mir die Unterstützung von House Pacifica zu entziehen? Shit. Er würde mich feuern. Ich wechselte das Handy zum anderen Ohr und wischte mir meine schwitzigen Hände an der Jeans ab. Am besten, wir brachten das möglichst schnell hinter uns. Ich stimmte zu, mich in zwei Stunden mit ihm am westlichsten Parkplatz des Strands zu treffen.

Ich hatte so viel zu tun gehabt, dass ich bislang noch keine Zeit dafür gefunden hatte, in Deepa Anands Privatleben herumzuschnüffeln, also schnappte ich mir jetzt meinen Laptop. Die Informationen, die ich online fand, waren relativ oberflächlich. Sie hatte kürzlich eine Tochter bei einem tragischen Autounfall verloren und hinterließ einen Ehemann und einen Sohn. Fotos von ihr vor ihrem Verlust zeigten eine Frau, die viel lächelte und zahlreiche gesellschaftliche Anlässe besuchte, insbesondere Kricket-Turniere. Das änderte sich nach dem Tod ihrer Tochter. Beim U19 Cricket World Cup, der in Neuseeland stattgefunden hatte, war sie nur gewesen, weil ihr Sohn für das indische Nationalteam spielte, aber das war’s auch schon an Kricket-Events in letzter Zeit.

Nichts davon führte mich irgendwie zu Chariot. Ich ging noch einmal meine Notizen zu ihr durch. Deepa war eine Weltige gewesen, die in Indien ein Geldverleihunternehmen namens D21 Personal Loan geführt hatte. Laut Priya bezog sich der Name auf das Alter, in dem Anand die Firma gegründet hatte. Sie war beruflich über Isaacs Cybersecurity-Unternehmen mit ihm verbandelt gewesen und war auf einer Pilgerreise zu einem Hindu-Heiligtum gestorben. Heutzutage waren nicht alle Mitglieder der Zehn notwendigerweise Juden, also war ihre Religion kein Ausschlusskriterium für eine Beteiligung an Chariot. Was mich eher störte, war diese Reise an sich. Wenn Deepa in Chariot mit dringesteckt hatte, hatte sie es wie die anderen auf Unsterblichkeit abgesehen. Wie passte das mit einer Pilgerreise zusammen, auf der man nach einer höheren Ebene der Spiritualität suchte?

Ich überflog ein paar weitere Einzelheiten. Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie sich in Char Dham in Nordindien befunden. Durch meine Recherche erfuhr ich, dass es sich bei Char Dam genau genommen um vier Tempel an verschiedenen Orten in Indien handelte, die Hindus besuchten, um sich von ihren Sünden zu reinigen. Das sollte ihnen dabei helfen, Moksha zu erreichen. Der Begriff sagte mir nichts, aber ich fand schnell heraus, dass er mit dem hinduistischen Glauben an Reinkarnation in Verbindung stand. Hindus gingen davon aus, dass die Seele einen Kreislauf von aufeinanderfolgenden Leben durchlief, ein Lebensrad namens Samsara. Jede Reinkarnation war jedoch davon abhängig, wie man das Leben davor gelebt hatte, womit wir beim Karma waren.

Moksha war die Erlösung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Hatte Deepa das Bedürfnis verspürt, Moksha in Vorbereitung auf die Unsterblichkeit zu erreichen? Es war unmöglich nachzuvollziehen, inwiefern sich ihre Ziele bei Chariot mit ihren religiösen Überzeugungen vermischt hatten.

Ich ließ einen Stift über meine Fingerknöchel tanzen. Deepa war ermittlungstechnisch eine Sackgasse. Für den Moment war mein bester Ansatzpunkt, den Kuss des Todes zu finden.

Wenn das Amulett wirklich ein mächtiges Aschera-Artefakt war, konnte ich vielleicht bei den Gigis ansetzen. Wer waren diese Leute überhaupt? Warum war Lux so ohne Weiteres bereit, unschuldige Menschen opfern, um Aschera zurückzuholen? Wenn sie machthungrig war, hätte sie nicht fast schon unterwürfig reagiert, als sie herausfand, wer ich war. Was war also ihr Antrieb, dass sie sich so verzweifelt nach der Präsenz ihrer Göttin sehnte?

Lange brauchte ich nicht, um die Antwort auf einem Foto vom letztjährigen Black and White Ball der Lungenkrebsstiftung zu finden. Die Bildunterschrift lautete: Brustkrebs-Überlebende Emma McIntyre mit ihrer Ehefrau Eileen »Lux« Emmerson, stark wie eh und je und atemberaubend in Weiß.

Von der Gala, die ich zwei Monate zuvor besucht hatte, gab es keine Fotos mit den beiden. Ich machte mir einen Vermerk, dass ich direkt nach dem Treffen mit Levi mit Lux sprechen würde.

Ein bisschen hasste ich mich ja dafür, dass er mir noch wichtig genug war, dass ich ihm unter die Nase reiben wollte, was er verloren hatte, aber ich ging duschen, suchte mir ein hübsches Shirt und eine passende Hose raus und verwandelte meine Haare in eine wilde Lockenmähne. Ich trug sogar ein leichtes Make-up und Lippenstift auf und drehte mich vor dem Spiegel von einer Seite zur anderen.

Mrs Hudson bellte zustimmend.

»Nicht wahr?«, fragte ich sie. »Er soll ruhig sehen, was er verpasst. Denk immer daran, falls die Sache mit dir und Pinky nicht klappt.«

Und nun erhob ich tatsächlich die Spielzeug-Kuh in den Stand einer Lebenspartnerin. Reiß dich zusammen, Cohen.

Ich schnappte mir eine Jeansjacke, die Hundeleine, und wenig später saßen wir beide in Moriarty. Auf dem Weg durch Ost-Vancouver kam ich am Science-World-Museum vorbei, dessen Halbkugelbau silbern in der Sonne glänzte. Auf dem False Creek dahinter rasten Drachenboote übers Wasser, doch ich hatte nur einen flüchtigen Blick für sie übrig, weil ich im Kopf schon alle denkbaren Szenarien für das Treffen durchging und überlegte, wie ich möglichst gelassen auf sämtliche Eventualitäten reagieren konnte.

Entlang der West Fourth Avenue tummelten sich zahlreiche Shoppingwütige und besuchten die vielen Cafés und Restaurants, um die müden Füße auszuruhen oder Zeit mit Freunden zu verbringen. Dann kam ich am Jericho Park vorbei, einer riesigen Grünanlage, in der jedes Jahr das Vancouver Folk Festival stattfand, und bog anschließend auf den Northwest Marine Drive ab. Dieser zweispurigen, gewundenen Straße folgte ich bis zum Strand.

Sobald sich in Vancouver die Sonne zeigte – egal, wie kalt das Wetter auch sein mochte –, strömten die Einwohner in Scharen zum Joggen oder Fahrradfahren an die Promenade oder wagten sich wahlweise hinaus aufs Wasser zum Segeln und Stand-up-Paddling. Der heutige Tag bildete da keine Ausnahme. Der Jericho Beach war schon gut besucht, und das war nur der erste der Strandabschnitte, die sich zu Füßen der University of British Columbia befanden.

Ich gehörte zum anderen Teil der Einwohner unserer schönen Stadt: zu denen, die eher Après-Sport-Aktivitäten genossen und gern mit einem Drink auf Restaurantterrassen saßen, ohne sich vorher groß angestrengt zu haben.

Auf dem Parkplatz am Spanish Banks Beach standen nur ein paar Autos. Levi saß auf der Motorhaube seines Teslas, den Blick aufs Wasser gerichtet. Sein Gesicht wurde halb von der Krempe seines Huts, den er tief in die Stirn gezogen hatte, und einer großen Pilotenbrille verdeckt, sodass ich seine Augen nicht sehen konnte.

Das würde kein »Einfach nur im Moment sein«-Aufeinandertreffen werden.

Mrs Hudson zerrte mich praktisch hinter sich her.

»Wir wollten das eigentlich mit Würde erledigen, Hund«, tadelte ich sie. »Verhalte dich gefälligst angemessen.«

Sie pupste und watschelte schneller voran.

Levi schaute auf, als wir uns ihm näherten, und rutschte von der Motorhaube. »Wollen wir ein Stück gehen?«

Sicher, wenn das Herausreißen meines noch schlagenden Herzens nicht zur Auswahl stand. Oh, Moment mal, vielleicht lief dieses Treffen ja aufs Gleiche hinaus. Der andere Levi war eine Illusion gewesen. Es war vorbei, und ich musste darüber hinwegkommen, weil ich jetzt schon seit zwei Monaten in diesem Schwebezustand festhing.

»Können wir«, erwiderte ich.

Wir ließen den Bereich um den Imbiss und das Beachvolleyballfeld und damit auch die meisten Leute hinter uns.

»Miles hat gesagt, dass ich mit dir über eine Dosis Blank für den Bücherwurm reden soll.« Ruhiger Tonfall, nicht zu viel Blickkontakt beim Sprechen, aber auch nicht so wenig, dass er das Gefühl bekam, ich würde es vermeiden. Volle Punktzahl, Ash.

»Du hast den Bücherwurm gefunden?«

»Ja, aber es gibt ein Problem mit der geistigen Klarheit der Frau.« Und auch mit ihrer Gefangenschaft auf einem Jahrmarkt der Königin, aber wir fingen mal lieber im Nichtschwimmerbereich an, bevor wir uns ans tiefe Ende vorwagten.

»Ich lasse den Chemiker mehr herstellen und es dir dann liefern. Könnte ein paar Tage dauern.«

Er wollte nicht mal, dass ich es persönlich im House abholte? Würde ich vom Sicherheitsdienst aus dem Gebäude eskortiert werden, wenn ich dort auftauchte? Oder durfte ich es noch betreten, nur um dann von einem x-beliebigen Mitarbeiter nervös abgefertigt zu werden?

Ich hätte auf uns vertrauen müssen. Ich habe dich so sehr vermisst.

»Damit wäre der geschäftliche Teil erledigt«, gab ich ein wenig harsch zurück. »Warum spuckst du nicht aus, was du zu sagen hast, damit wir beide mit unserem Leben weitermachen können?«

»Du meinst ›mit unserem Tag‹.«

»Meine ich das?«, fragte ich honigsüß.

Seine Finger zuckten, doch er stopfte die Hände in die Hosentaschen. »Ich habe meine Mutter zum Weinen gebracht.«

Ich stieß einen Pfiff aus und kickte einen Zweig den Gehweg entlang. »Wow, klingt ganz schön arschig. Was ist passiert

Er zuckte die Schultern, scheinbar unbeteiligt, doch die Anspannung in seinem Gesicht war nicht zu übersehen. »Spielt das eine Rolle?«

»Wahrscheinlich nicht.«

Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Wollte er Trost von mir? Vergebung? Ich hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet und presste die Lippen zusammen, während die Dunkelheit in mir immer weiter nach oben stieg.

»Ich war ohne jeden Grund gemein zu ihr. Wie er «, sagte Levi. Er nahm die Brille ab, um mir einen Seitenblick zuzuwerfen, doch meine Kehle war vor Zorn so eng, dass ich kein Wort herausbrachte. »Ich bin wütend geworden und habe sie angeschrien, weil sie bis jetzt damit gewartet hat, sich zu wehren.« Um seine Lippen legte sich ein höhnischer Zug. »Ich wollte wissen, wie schlimm es ist und warum sie zu dir und nicht zu mir gekommen ist. Zu ihrem eigenen Sohn. Tolle Leistung, was?« Er verließ den Weg und setzte sich auf eine Bank.

Ich nahm am anderen Ende Platz und klammerte mich so stark an der detailreich gearbeiteten schmiedeeisernen Armlehne fest, dass ich sie verbog.

Mrs Hudson probierte immer wieder, zu ihm zu gelangen, doch Levi war nicht in der Stimmung zum Spielen, also gab ich ihr ein paar Bacon-Leckerli und versuchte, die Armlehne wieder gerade zu biegen. Hatte sie zunächst wie ein abgebrochener Ast ausgesehen, wurde sie jetzt zu einem undefinierbaren Klumpen.

»Interessante Gestaltungsästhetik«, meinte Levi. »Sehr minimalistisch.«

Ich fixierte ihn mit einem kalten Blick. »Ich bin nicht dein Therapiehund, Levi.«

»Nein, wir hatten ja schon festgestellt, dass du der Wolf bist.« Er schenkte mir ein beschwichtigendes Lächeln.

»Ich meine es ernst. Du kannst mich nicht einfach benutzen, wenn es dir in den Kram passt, und mich dann wegwerfen. Zumal du nicht mal mehr unsere berufliche Vereinbarung aufrechterhalten willst.« Dass ich die Bank nicht aus ihrer Verankerung riss und sie ihm über den Kopf zog, war die größte mizwa meines Lebens.

Er massierte sich die Nasenwurzel. »Du hattest mir gerade vorgeworfen, dass ich ein kleines Kind bin, das Angst vor seinem Vater hat, und ich war wütend. Ich habe mir jahrelang eingeredet, dass ich unverwundbar bin, und wegen dir musste ich einsehen, dass meine Festung auf Treibsand gebaut ist.«

Ein kleines Mädchen mit feuerrotem Helm zischte auf ihrem Fahrrad an uns vorbei. Ihr Vater rannte ihr hinterher und rief, dass sie langsamer machen sollte.

Levi beobachtete sie mit einem Schmunzeln, das jedoch verblasste, als sie sich entfernten. »Wer hat dir das Radfahren beigebracht?«

»Mein Dad.«

»Mir meiner auch.« Er erschuf eine kurze Illusion von einem sehr jungen Abbild von sich selbst, das breit grinsend etwas wackelig mit seinem Fahrrad zum Stehen kam und dafür seinen Vater abklatschen durfte. »Isaac hatte seine guten Momente. Auch seine schlechten, aber wie tief das geht, hätte ich nie vermutet. Wenn mein eigener Vater verbergen konnte, dass er zu Chariot gehört, und wenn er es fertiggebracht hat – noch schlimmer –, all die Jahre mit Adams Blut an seinen Händen zu leben, bedeutet das, dass diese manipulative Bosheit auch in mir existiert? Die ganze Welt denkt, dass er ein toller Kerl ist, obwohl er sich öffentlich an einer schrecklichen politischen Kampagne gegen seinen eigenen Sohn beteiligt. Was, wenn ich genauso bin wie er? Verdammt, ich habe meine Mutter zum Weinen gebracht.«

»Dann entschuldige dich bei ihr. Mein Dad war ein Charismat, der den Leuten den freien Willen rauben konnte, wie ich ihnen ihre Magie. Das bedeutet nicht, dass du und ich von Haus aus schlechte Menschen sind. Hör auf, dir alles so festgelegt vorzustellen, und fang an, an so etwas wie Wahlmöglichkeiten zu glauben.« Ich schlang die Arme um mich selbst. »Aber ich bin nicht mehr der Mensch, mit dem du über so etwas reden solltest.«

Sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich, und er richtete seine Aufmerksamkeit aufs Meer. »Ja.«

Mein Handy vibrierte wie wild von mehreren eingehenden Nachrichten.

Dobby: Chariot

Dobby: Bibliothek

Dobby: Hilfe

Ich drückte Levi hastig die Hundeleine in die Hand. »Könntest du Mrs Hudson zu Priya bringen?«

Die Mopsdame sprang begeistert um ihn herum und wedelte ganz außer sich vor Begeisterung mit dem Schwanz. Levi warf einen fragenden Blick auf mein Handy, sagte dann aber bloß: »Natürlich. Nur … sei vorsichtig.«

Ich nickte abgelenkt, streifte mir den Holzring über den Finger und verschwand. Erst in diesem Moment ging mir auf, dass Levi kein Wort darüber verloren hatte, ob unsere beruflichen Absprachen noch galten.

In der Bibliothek herrschte heilloses Chaos. Bücher und Handschriften lagen überall verteilt, Möbel waren umgeworfen worden. Von einem Stuhl war lediglich ein Haufen Trümmer übrig, der an einer Wand lag.

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Hatte Chariot uns tatsächlich gefunden? Die Säulen waren noch intakt. Vier leuchteten, eine war dunkel, also hatten sie die Schriftrollen nicht erbeutet.

»Rafael?«

Ein dunkles Grollen ertönte aus dem Schatten unter dem Tisch. Ich ging in die Hocke, blieb aber auf Abstand. Meine Magie kribbelte unter meiner Haut, und mir entfuhr ein erschrockenes Keuchen. Rot gesprenkelte Augen glühten mich an.

»Baal?«

»Nein.« Die Stimme war so heiser, dass ich sie kaum verstand, doch der britische Akzent war unüberhörbar. »Chariot hat die Bibliothek gefunden. Sie haben mit einem Bannweber versucht, die Schutzzauber außer Kraft zu setzen, aber er war nicht gut genug. Sie konnten nicht rein.«

Sie hatten eine Level-fünf-Bannweberin an der Hand gehabt, doch die war umgebracht worden. Ich fühlte mich schlecht, weil ich froh darüber war.

»Wie viele waren es?«

»Weiß ich nicht. Ich bin drinnen geblieben und hab die Schutzzauber verstärkt, aber … die Aufregung oder das Adrenalin … ich bin … oh Gott.«

»Kannst du … Komm raus, ja?« Ich wich ein Stück zurück.

Als Erstes erspähte ich zwei kleine Hörner auf einem Kopf mit kurzen braunen Haaren, gefolgt von breiten Schultern, an denen Stofffetzen mit Argyle-Muster hingen. Ich schlug mir die Hand vor den Mund.

Rafael stand auf. Er war größer geworden, aber sein Gesicht hatte sich nicht in das einer Ziege verwandelt, und seine Augen waren normal. Noch.

In meinem Kopf schwirrten tausend Fragen durcheinander, doch alles, was ich rausbekam, war: »Was ist passiert

Er warf mir einen ausdruckslosen Blick zu.

»Unmöglich. Ich habe dich auf Rückstände von Magie durchgecheckt, nachdem Baal dich aufgespießt hat. Da war nichts.«

Er nahm seine verbogene Brille ab. »Sie war da. Sie ist da. Du, ich, der Nightingale, wir haben sie alle übersehen.« Rafael zermalmte die Brille in seiner Faust, und die zerbrochenen Gläser fielen als glitzernder Staub zu Boden.

»Wie? Die Gigis haben den falschen Baal komplett aus Nefesh-Magie erschaffen.«

»Aus vielen verschiedenen Magietypen, darunter auch Webermagie.« Schmerz huschte über seine Gesichtszüge. »Sie verbindet sich mit meiner Aschera-Magie und wird dadurch unsichtbar.« Mit einem Aufschrei, der mich wie ein Schlag traf, griff er sich an den Kopf.

Ich blieb, wo ich war, und würde weder meine Rüstung noch Waffen manifestieren, bevor es nicht absolut notwendig war. Rafael war mein Freund. Er hatte Schmerzen und Angst und war echt am Arsch. Wenn die Nefesh-Magie nicht mehr von seinen Aschera-Kräften zu unterscheiden war, wie sollte ich ihm dann helfen?

Er beugte sich mit zusammengebissenen Zähnen nach vorn, und sein Körper wand sich unter Krämpfen. »Ich kann es nicht aufhalten.«

Ich zwang mich, einen Schritt auf ihn zu zu machen. »Lass mich sehen, was ich tun kann. Jetzt weiß ich ja, worauf ich achten muss.«

Zwar ging ich nicht davon aus, dass ich irgendwas ausrichten konnte, aber das Schicksal schuldete mir was, und ich musste es wenigstens versuchen. Also packte ich ihn an den Oberarmen, die sich unter meinen Händen wie kleine Felsbrocken anfühlten, und schickte einen dünnen Strahl seidig roter Magie in ihn.

Oberflächlich tauchten da nur Rafaels von Aschera verliehene Kräfte auf. Sie fühlten sich ähnlich an wie Nefesh-Magie, aber wenn die beiden Geschwister gewesen wären, wären die Kräfte der Göttin die älteren, stärkeren gewesen, die sich spielend leicht auf einen draufsetzen und da hocken bleiben konnten, bis man aufgab. Unsere Magie war wie ein See, dessen glatte Oberfläche die unendliche Tiefe darunter nicht preisgab. Erst als ich meine Magie tiefer schickte, spürte ich eine kleine Störung in dieser ruhigen, ausbalancierten Macht. Feine trübe Schlieren durchzogen sie, die man unmöglich herausfischen konnte.

Ich versuchte, eine davon mit einer Verästelung einzufangen, doch sie driftete immer wieder ab, als würde sie von der Flut davongetragen werden.

Rafael brüllte auf und warf mich nach hinten. Ich ging hart zu Boden, bevor mein Hirn überhaupt mitbekommen hatte, dass ich mich bewegte, und meine Magie löste sich mit einem Ruck von seiner. Japsend und nach Luft ringend lag ich auf dem Rücken, während Rafael sich auf ein Knie sinken ließ.

»Du hast mich verletzt«, fauchte er. »Warum hast du das nicht verhindert?!«

Ein Schwall Magie ergoss sich über mich. Rafaels Kräfte waren dazu da, mir zu dienen und mich zu beschützen, aber offenbar konnten seine Heilfähigkeiten auch ins Gegenteil verkehrt werden, um maximalen Schaden anzurichten.

Mein rechter Arm wurde immer heißer, und ein gewaltiger Druck legte sich auf meinen Oberarmknochen, unter dem er jeden Moment zu brechen drohte. Ich konnte meine Rüstung nicht manifestieren, weil Rafaels Magie sie blockierte. Nützlich, wenn sich eine verletzte Jezebel gegen Heilversuche wehrte, aber sehr unschön in dieser Situation.

Ich versetzte ihm einen Tritt, der ihn von mir wegbeförderte und an die Wand schleuderte. Zum Glück funktionierte meine verstärkte Körperkraft noch einwandfrei. Rafael prallte gegen die Gipskartonverkleidung, und eins seiner kurzen Hörner blieb darin hängen. Mit etwas Mühe konnte er sich befreien, und eine Staubwolke prasselte auf den Boden nieder.

Rafael pirschte sich an mich heran, und auf seinem Gesicht war kein Hinweis darauf zu sehen, dass er mich noch erkannte. Ich tänzelte zwischen den Säulen hin und her, umrundete sie, damit sie als Hindernisse zwischen uns fungierten, während ich nach meiner Rüstungsmagie tastete. Endlich erschien meine Blutrüstung.

Rafael täuschte nach links an und sprang mich dann über die dunkle Säule hinweg an. Ich schrie auf und ging erneut zu Boden. Ein triumphierendes Funkeln trat in seine Augen, die nun komplett rot waren, und meine Rüstung verschwand wieder.

Seine Magie konzentrierte sich auf meinen rechten Unterbauch und ließ ihn anschwellen.

»Rafael«, wimmerte ich. »Hör auf.« Wenn er meinen Blinddarm zum Platzen brachte, könnte ich daran sterben, bevor ich es ins Krankenhaus schaffte.

Wildes Lachen brach aus ihm hervor, und der Druck wurde noch größer. Ich kämpfte gegen den Schmerz an und es gelang mir, einen Dolch heraufzubeschwören, den ich ihm in die Seite rammte.

Er ließ ruckartig von mir ab und wich zurück. Blut strömte aus der Wunde über seine Hüfte.

»Was habe ich getan?« Rafael starrte auf seine Hände, die inzwischen mit Klauen bewehrt waren. Entsetzen machte sich auf seinem Gesicht breit, dann rannte er auf die Wand zu.

Plötzlich erschien dort schimmernd eine Tür, wo vorher noch keine gewesen war. Rafael griff schwer atmend nach dem Knauf und floh ins Dunkel der Nacht.