Schweißgebadet setzte ich mich auf. Mein Blinddarm war verschont geblieben, aber meine komplette rechte Seite fühlte sich an, als hätte mich ein Stier gerammt. Ich nahm mir die Zeit dafür, gründlich zu überprüfen, ob ich etwas von der komplexen Magie in mir fand, die die Gigis erschaffen hatten, aber ich war sauber. Außerdem litt ich nicht unter den Kopfschmerzen, die Rafaels Verwandlung vorausgegangen waren. Entweder hatte ich Glück gehabt, oder meine Kräfte widerstanden den Auswirkungen. Ich zwang mich zum Aufstehen und entschied, dem geschenkten Gaul nicht ins Maul zu schauen, sondern nach draußen zu hinken. Bei jedem Schritt schoss brennender Schmerz durch meinen Körper.
Der Abend war nieselig und kalt, und ich fröstelte in meiner zerrissenen Jeansjacke. Wo auch immer ich hier war, es war deutlich später als in Vancouver.
Die Tür zur Bibliothek schlug hinter mir zu. Sie befand sich in einem kleinen Lagerhaus mit der Aufschrift Broughton Manufacturing , also waren wir offenbar in einem englischsprachigen Land. Das rechteckige Gebäude war vollkommen unauffällig und hatte mehrere Laderampen sowie kleine, vergitterte Fenster hoch oben an den Wänden. Interessant – die Bibliothek war ein viel kleinerer, runder, fensterloser Raum.
Beim Verlassen des Gebäudes spürte ich das Kribbeln von Magie auf der Haut. Ich ließ den Blick noch einmal über das Lagerhaus wandern, und mich überkam der starke Drang, irgendwo anders hinzugehen. Er ebbte ab, kehrte jedoch sofort wieder. Rafael hatte eine Art »Nicht hinsehen«-Zusatz in die Schutzzauber eingebaut, die das Gelände bewachten, doch dieser musste von Chariot zum Teil entfernt worden sein, sonst würde das Gefühl nicht kommen und gehen.
Links von mir die Straße runter befanden sich weitere gut beleuchtete Lagerhäuser, aber mehr gab es in diesem Industriegebiet nicht. Ich war mir ziemlich sicher, dass Rafael nicht in diese Richtung gelaufen war, und wandte mich in die andere, hin zu einer unbebauten Fläche. So schnell ich konnte, marschierte ich vorwärts und lauschte dabei auf Geräusche, die mir Rafaels Aufenthaltsort verrieten.
Als die Gigis die Tonfigur des Golems mit Magie vollgepumpt hatten, hatten sie diese mit dem unbelebten Objekt verwoben wie bei jedem anderen Artefakt. Dann hatte die Baal-Manifestation Rafael aufgespießt und damit die Magie in meinen Sekretär transferiert. Dank der Bannweber-Magie, die die Grundlage der Kreatur bildete, konnte sich die Mischung aus unterschiedlichen Kräften mit Rafael verbinden. Tragischerweise wurde die Situation noch zusätzlich dadurch verkompliziert, dass mein Sekretär seine eigene Magie besaß, die keine Nefesh-Magie war.
Ich konnte die beiden nicht einfach voneinander lösen, wie ich es wie ich es bei Mrs Murphy und den anderen Welpen gemacht hatte, die wir befreit hatten, weil ich die vielschichtige Nefesh-Magie nicht einmal zu fassen bekam. Sie war nun ein Teil des stillen Sees. Irgendwie musste ich die beiden Magietypen voneinander trennen, um den Nefesh-Teil zu zerstören, aber wie? Und wie lange hielt Rafael noch durch, bevor er sich entweder völlig darin verlor oder es ihn umbrachte?
Das Geräusch von zerbrechendem Glas durchschnitt die Stille. Es kam aus einem frei stehenden, halb verfallenen Gebäude auf einem großen Grundstück, das von einem Maschendrahtzaun umgeben war. Ich kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was sich dahinter befand. Das war kein weiteres Lagerhaus, sondern der ehemalige Showroom einer Baufirma. Am Zaun hing ein verwittertes, teilweise verrottetes Holzschild, das auf eine Baugenehmigung des Bezirks Saint-Boniface der Stadt Winnipeg hinwies, dem Datum nach jedoch schon ziemlich alt war.
Unsere Bibliothek befand sich in Manitoba, einer der Prärieprovinzen Kanadas. Kein Ort, an den man auf Anhieb dachte, aber genau das war ja der Sinn der Sache.
Ich wischte ein wenig trockene Erde von der Aufschrift und erfuhr, dass auf diesem Grundstück die Laurier Mall entstehen sollte. Dann schnappte ich mir eine Ecke des kaputten Zauns und zog ihn beiseite, aber bevor ich mich darunter durchschlängeln konnte, fiel mir ein französischer Satz auf dem Schild ins Auge.
»La vie est triste, mais …« , gefolgt von der Eröffnungsankündigung des neuen Einkaufszentrums.
Triste mit e. Talias Erpresser hatten kein Problem mit Rechtschreibung.
Sie sprachen Französisch.
Ich sog scharf Luft ein, als sich die Puzzlestücke auf einmal zu einem wunderbaren, schrecklichen Bild zusammenfügten. Montreal. Arkadys Lüge.
Du dreckiger Mistkerl. Ich bohrte meinen Absatz in den Boden. Du steckst vielleicht nicht dahinter, aber ich gehe jede Wette ein, dass du weißt, wer es ist.
Wieder zerbrach irgendwo Glas, gefolgt von einem lang gezogenen, traurigen Heulen. Ich schürzte die Lippen, atmete langsam und zittrig aus und machte mich dann auf in Richtung des verwahrlosten Gebäudes. Arkady stand für mich gerade nicht an erster Stelle, doch das bedeutete nicht, dass ich ihn weniger von meinem Zorn spüren lassen würde, wenn ich ihn in die Finger bekam. Erst mal musste ich aber Rafael davon abhalten, das zu zerstören, was auch immer er gerade zerstörte.
Ich seufzte. Die Männer in meinem Leben ließen ganz schön zu wünschen übrig.
Rafael war eifrig damit beschäftigt, jedes Fenster des Showrooms zu zerschlagen. Dabei hatte er eine Blutspur hinterlassen, der ich einfach folgen konnte – zumindest, bis ich zu dem bewaldeten Bereich hinter dem Gebäude kam.
Wehe, wenn dieser Trottel sich bei seinem Hulk-Anfall Tetanus holte. Oder die Tollwut.
Schließlich fand ich ihn mit inzwischen freiem Oberkörper vor, wie er, zornig mit einem Fuß scharrend, versuchte, ein sehr verwirrt aussehendes, doch zutrauliches Reh zu fassen zu bekommen – hoffentlich, um es zu essen. Das Tier hüpfte auf ihn zu, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen, tänzelte dann aber wieder weg, sobald Rafael sich bewegte. Das Spiel schien dem Reh Spaß zu machen, regte den ohnehin schon wütenden Rafael jedoch nur weiter auf. Die Stichwunde an seiner Seite blutete immer noch.
Ich schlich mich von Schatten zu Schatten, bis ich direkt hinter ihm stand. Aus seinen Nasenlöchern stoben Rauchwolken, und er spannte die Muskeln, um sich auf seine Beute zu stürzen, doch ich nutzte den Moment, um ihm mit meiner rüstungsverstärkten Faust eins über den Schädel zu ziehen. Wie ein gefällter Baum ging er bewusstlos zu Boden. Sein Puls fühlte sich jedoch gleichmäßig an. Hoffentlich verschaffte ihm das ein paar Bombenträume.
Ich riss mir die Jeansjacke vom Leib, drückte sie auf seine Wunde und rief Miles an.
»Was?«, fuhr er mich scharf an.
»Zwei zum Beamen, Scotty«, erwiderte ich.
»Pickle, du störst gerade unseren intimen und interaktiven Moment!«, rief Arkady aus dem Hintergrund.
In seinem frechen Tonfall schwang eine gewisse Anspannung mit. Ärger im Paradies? Ich weigerte mich, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, und erinnerte mich an meine Erleuchtung bezüglich seiner Lügen. Da stand zeitnah eine Unterhaltung an, aber ich wollte das Überraschungsmoment nicht verspielen, bevor ich ihn wirklich konfrontierte, also konzentrierte ich mich auf den nervigen Kerl, dessen Hilfe ich brauchte.
»Miles, tust du etwa schmutzige Dinge an einem Sonntag?«, wollte ich gespielt schockiert wissen. »Wie provokant.«
»Du bist die Strafe für das, was auch immer ich in meinem vorherigen Leben verbrochen habe«, sagte er.
»Oh, gut. Da es dir ein Bedürfnis ist, Buße zu tun … Ich hätte da ein kleines Problem.« Ich erklärte meine Lage, ließ dabei jedoch die Bibliothek aus. Sekretäre vertrauten niemandem ihren Standort an, nicht mal den Jezebels, also würde ich ihn sicher nicht preisgeben.
»Ein kleines Problem?«, fragte Miles, als ich fertig war.
»Könnte schlimmer sein«, meinte ich.
»Wie denn?«
»Rafael hätte das Reh erwischen können.«
»Verdammt noch mal. Bleib, wo du bist«, wies Miles mich an.
»Du meinst, ich soll meinen Plan verwerfen, Rafaels großen, schweren Pseudogott-Körper aus Jux und Tollerei durch den Wald zu schleifen?« Ich korrigierte die Position der Jacke auf Rafaels Stichwunde und drückte fester zu. »Nie darf ich Spaß haben.«
»Cohen.« Miles’ Stimme glich eher einem Knurren.
»Bleib locker. Ich gehe nirgendwohin.«
Eine halbe Stunde später war Rafaels Wunde versorgt und er in einer magieneutralisierenden Zelle im Keller von House Pacifica untergebracht. Zu diesem Flügel hatten aus Sicherheitsgründen ab sofort nur noch Agenten des House Zutritt, also wusste noch nicht einmal die Nefesh-Polizei, deren Revier sich ebenfalls im Hauptgebäude befand, was hier abging.
Rafael rüttelte an den Gitterstäben. »Lasst mich raus!«
»Das geht nicht.« Ich stand etwa drei Meter von der Zelle entfernt hinter der weißen Linie, in der für Magie sicheren Zone. »Nur so können wir dafür sorgen, dass es nicht noch schlimmer wird.«
»Wenn ihr meine Magie ausschaltet, spüre ich es nicht, falls Chariot sich Zugriff zur Bibliothek verschafft.«
»Du hast gesagt, dass die Schutzzauber stark sind.«
»Ja, für den Moment, aber wenn ich von Chariots Rückkehr nichts mitbekomme, haben sie alle Zeit der Welt, um daran zu arbeiten, ohne dass ich die Schwachstellen reparieren kann. Was, wenn sie den Kuss des Todes finden und einfach damit reinmarschieren?« Rafael raufte sich die Haare. »Ich muss hier raus. Wir dürfen die Schriftrollen nicht unbewacht lassen.« Der Satz endete in einem halben Schluchzen.
»Werden wir nicht. Ich kann jemanden anheuern, der eine Alarmanlage mit Bewegungsmelder außerhalb des Lagerhauses installiert, damit ich sofort benachrichtigt werde. Niemand muss wissen, was sich tatsächlich im Haus befindet. Wenn Chariot auch nur einen Fuß auf das Grundstück setzt, um die Schutzzauber zu bearbeiten, werden wir es erfahren, und ich kann direkt hin.«
Rafael legte die Hände auf die Gitterstäbe. »Was, wenn sie an das Amulett gelangen?«
»Sie können ohne mein Blut nicht rein, weißt du noch?«, erwiderte ich leise.
»Stimmt. Habe ich vergessen.« Er setzte sich auf die Matratze in einer Ecke der Zelle und schlang die Decke um sich. Meinem Blick wich er dabei konsequent aus.
Natürlich wusste ich, dass ich nicht unfehlbar war, aber das änderte nichts daran, dass ich mich unglaublich schlecht fühlte, weil ich ihn enttäuscht hatte. Ich kratzte mich am Arm. In mir war gerade so viel Trauer und Wut, dass ich mich am liebsten wie eine Schlange gehäutet hätte, um das alles abzustreifen. Ich hatte geschworen, dass ich das für Rafael wieder in Ordnung bringen würde, aber er glaubte mir nicht. Immerhin hatte ich ihm zuvor auch versichert, dass sich keine fremde Magie in ihm befand. Und ehrlich gesagt hatte ich mit diesem Versprechen in letzter Zeit so oft um mich geworfen, dass die Worte sogar in meinen eigenen Ohren langsam hohl klangen.
»Verschwinde!«, brüllte Rafael.
Es wäre ihm gegenüber grausamer gewesen, zu bleiben, als seinen Wünschen zu entsprechen, also ging ich.
Ich stand gerade auf dem Gang und klärte mit einer Sicherheitsfirma in Winnipeg die Installation der Alarmanlage, als Arkady eintraf.
»Wie geht’s Rafael?«, fragte er, nachdem ich aufgelegt hatte.
»Bescheiden.«
»Miles hat dafür gesorgt, dass rund um die Uhr Agenten vor der Tür stehen, um den Gang zu sichern und falls Rafael was braucht.«
»Das ist gut.«
Arkady öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. »Okay, dann … Wenn du hier fertig bist, übernimmt Steve die erste Schicht …«
»Talia wird erpresst«, sagte ich.
»Das hast du im Meeting schon erwähnt.«
»Von jemandem, der Französisch spricht.« Ich beobachtete ihn genau, auf der Suche nach dem kleinsten Anzeichen von schlechtem Gewissen.
Er schüttelte den Kopf. »Tja, du solltest dir jemand anderen zum Übersetzen suchen, weil meine Sprachfähigkeiten nicht über Voulez-vous couchez avec moi hinausgehen.«
Dieser schnippische Arsch. »Eins ist schon interessant: Die Erpresser drohen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, dass Talia ihre unregistrierte Tochter deckt, wenn sie ihre Position bei der Reinheitsallianz nicht aufgibt. Sie haben sogar Videomaterial von dem Galaabend im Aquarium, als sich meine Kräfte zum ersten Mal manifestiert haben. Ist das nicht ein komischer Zufall? Ich meine, wer sollte mich – eine verbriefte Weltige – damals schon im Visier gehabt haben, sodass genau dieser Moment aufgezeichnet wurde?«
Arkady behielt seinen Gesichtsausdruck höflicher Neugierde bei, doch er wippte auf den Fersen und brachte so mehr Abstand zwischen uns. Und er kreuzte ein Bein übers andere – ein nonverbaler Hinweis darauf, dass er sich von meiner Frage möglicherweise bedroht fühlte.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er.
»Das wirkt ziemlich persönlich. Das ist niemand, dem es um Ideologie geht, sondern jemand, der etwas speziell gegen meine Mutter hat, meinst du nicht? Deiner professionellen Meinung nach.«
»Ja, schon.«
»Und dann ist da noch die Tatsache, dass du dich verplappert hast. Erst sagst du, du musst heim nach Ottawa, gibst aber im Jetlag zu, dass du in Montreal warst.«
Er breitete die Arme aus. »Ich habe dir doch erzählt, dass meine Großmutter da wohnt. Sie ist alt. Sie ist mir wichtig. Ich habe sie besucht.«
»Und sie wohnt tatsächlich da.« Ich imitierte seine Geste. »Was ich natürlich überprüft habe.«
»Natürlich.«
»Aber jetzt kommen wir zum Knackpunkt – und korrigier mich bitte, wenn ich falschliege –, denn es gibt noch einen anderen Grund, nach Montreal zu fahren. Einer, der perfekt in dieses Szenario passt. Du arbeitest für meine Großeltern. Deswegen wolltest du nicht, dass ich vor dem Besuch bei Onkel Paulie der Spur zu Dads Familie nachgehe, mit der er keinen Kontakt mehr hatte. Nicht, weil es mir zu schaffen machen würde, sondern weil du damit aufgeflogen wärst.« Mein Tonfall wurde härter. »Wie nah bin ich dran?«
Arkady verkrampfte die Hände und verschränkte die Finger zu einem V. Langsam bewegte er sie vor und zurück. Ein klassischer Hinweis darauf, dass etwas jemandem zu schaffen machte. »Du liegst falsch.«
»Tue ich nicht.« In meinem Lächeln schwang die kalte Zufriedenheit einer Person mit, die die Becher beim Hütchenspiel immer wieder angehoben hatte, nur um nichts darunter zu finden, und die jetzt endlich den mit der Kugel gewählt hatte.
»Deine Großmutter ist vor einem halben Jahr gestorben«, sagte er. »Ich arbeite nur für deinen Großvater.« Ich stutzte und entlockte Arkady damit ein bitteres Auflachen. »Du hast nicht erwartet, dass ich es zugebe, oder?«
Blut rauschte in meinen Ohren, und gleichzeitig machte sich ein seltsames Gefühl der Erleichterung in mir breit, weil das Geheimnis gelüftet war. Arkady hatte mich hintergangen und meine Mutter damit in Gefahr gebracht. Er hatte Priya benutzt, um an mich heranzukommen, und sich ins Leben der Menschen eingeschleust, die mir etwas bedeuteten. Jetzt war der Ball in meinem Spielfeld.
Ich schubste ihn an die Wand und presste einen Arm gegen seine Kehle. »Du verdammter Arsch hast so getan, als wärst du mein Freund. Warum hast du das gemacht?«
Arkady trat mir die Beine unterm Körper weg. Ich landete hart auf dem Rücken, und er hob abwehrend seine Steinfäuste. »Ich will dir nicht wehtun.«
»Bisschen spät dafür.« Ich beschwor meine Blutrüstung herauf und stemmte mich auf die Beine.
Die Anspannung wuchs, als wir uns wie zwei Haie umkreisten.
»Bekomme ich die Chance, es zu erklären?«, fragte er. »Oder überspringst du Richter und Geschworene einfach und gehst direkt zum Henker über?«
Ein Teil von mir schrie mich an, dass ich sofort Vergeltung wollte, die Antworten konnten auch bis später warten. Aber wie wollte ich danach noch in den Spiegel schauen? Insbesondere wo es um jemanden ging, den ich als Freund betrachtet hatte, selbst wenn das gar nicht stimmte? Ich blinzelte ein paarmal, um die Wut zurückzudrängen, und brachte meine Magie wieder unter Kontrolle.
Arkady musterte mich einen weiteren Moment lang misstrauisch, bevor er den Stein wieder in Haut verwandelte. Dann ließ er sich an der Wand nach unten gleiten, bis er auf dem Boden saß. »Ich habe nie vorgegeben, dass du mir wichtig bist.«
»Mein Fehler«, gab ich unterkühlt zurück.
Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht und fluchte leise. »Das ist nicht … Was auch immer du über mich denken magst, die Freundschaft war echt.« Er schlug den Kopf ein paarmal nach hinten gegen die Wand. So aufgelöst hatte ich ihn noch nie erlebt.
Ich setzte mich ihm gegenüber auf die andere Seite des Gangs und entschied, ihm eine Chance zu geben. »Rebecca ist tot?«
Von den Eltern meines Vaters wusste ich kaum mehr als die Namen. Ich hatte nie auch nur ein einziges Foto von ihnen gesehen. Die Neuigkeiten stürzten mich nicht in Trauer, doch in meiner Brust zog sich dennoch etwas zusammen.
»Ja. Herzprobleme. Sie ist friedlich eingeschlafen, wenn dir das hilft. Ich schwöre, ich habe versucht, Nathan aufzuhalten, und er hat mir versprochen, dass er diesen dummen Plan nicht in die Tat umsetzt.«
»Er hat sein Wort gebrochen«, stellte ich fest.
»Was du nicht sagst. Damit erlischt für mich auch alle berufliche Loyalität, zu der ich ihm gegenüber verpflichtet war. Ich erzähle dir alles, was du wissen willst.«
»Wenn du mir vor der Gala schon hinterherspioniert hast, musstest du doch wissen, dass ich keine Magie besessen habe. Was wolltest du dann? Und warum? Hat er dich gut dafür bezahlt?«
»Ich wurde überhaupt nicht dafür bezahlt. Nathan war Beamter und kennt meinen Vater aus diplomatischen Kreisen.« Er spielte an einem ausgefransten Flicken auf seiner Jeans herum. Arkadys Vater hatte als kanadischer Botschafter in Russland gearbeitet, und die Familie war immer wieder in neue Länder und auf neue Kontinente gezogen, als Arkady noch klein gewesen war. »Nathan hatte von meiner militärischen Ausbildung gehört und davon, dass ich hierhergezogen bin. Deswegen hat er mich kontaktiert, damit ich einen kleinen Job für ihn erledige.«
»Wollte er, dass du mich findest?« Auch wenn sie jahrelang keinen Kontakt mehr gehabt hatten, hatte mein Vater seinen Eltern zu meiner Geburt sicher zumindest eine Karte mit »Mazel tov , ihr habt eine Enkelin« geschickt. Ich zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum.
»Weißt du irgendwas über Adams Elternhaus?«, fragte Arkady.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«
»Was weißt du über Hexer?«
Ich brauchte einen Moment, um den Begriff richtig einzuordnen. »Ist das nicht so eine Randgruppe von Fanatikern, die für die Vorherrschaft von Magie sind?«
»Sehr gut, Pickle.«
Mein Herz zog sich zusammen, als er den Spitznamen benutzte, obwohl alles zwischen uns so kompliziert und schmerzhaft war. Das war, wie wenn man etwas golden glänzen sah, während man in einem Kackhaufen stand.
»Hexer sind deutlich weniger randgruppig und viel organisierter, als die meisten denken«, fuhr er fort. »Sie haben multireligiöse Tempel, Sommercamps für Kinder und Künstler, die ihre Botschaft verbreiten. Außerdem steckt jede Menge Geld dahinter. Das ist ein tiefes und beängstigendes Kaninchenloch, und deine Großeltern stammen aus einer langen Reihe von Hexern, auch wenn sie ihre Überzeugungen nie groß nach außen getragen haben, sondern in ähnlich denkenden Kreisen geblieben sind. Es überrascht mich nicht, dass Adam dort abgehauen ist, sobald er konnte.«
»Und für die hast du gearbeitet?« Man hörte mir deutlich an, wie sehr mich das ekelte.
»Ich habe nicht für die Hexer gearbeitet, ich habe einem Freund der Familie geholfen, der mich darum gebeten hat, seinen Sohn und seine Schwiegertochter zu finden. Ich wusste nicht mal was von ihrer Verbindung zu diesen Leuten, bevor ich zugesagt habe.«
Die Erkenntnis, dass diese Leute auch Freunde und angesehene Mitglieder der Gesellschaft waren – wie Isaac –, hätte ich liebend gerne ignoriert. Es wäre so viel einfacher, wenn man Menschen in gut oder böse einteilen könnte, aber damit würde man sie bloß unterschätzen. Das wäre mein Untergang, so wie die Tatsache, dass Isaac Nicola unterschätzte, was zu seinem Untergang beitragen würde.
»Nathans Bitte klang harmlos«, erklärte Arkady. »Dann habe ich erfahren, dass dein Dad eure Familie verlassen hat und Talia eine Weltige ist, also bin ich davon ausgegangen, dass sein Elternhaus doch noch auf ihn abgefärbt hat und er zu seinen reinblütigen Wurzeln zurückgekehrt ist. Aber ich konnte keine Spur von Adam finden. Darum habe ich Nathan berichtet, dass dein Vater euch vor Jahren hat sitzen lassen und danach verschwunden ist. Nathan war das nicht genug. Rebecca und er hatten immer Talia die Schuld daran gegeben, dass ihr Sohn nie zurückgekommen ist. Sie hassten deine Mutter und wollten sie den gleichen Schmerz spüren lassen, den sie ihnen zugefügt hat. Er musste das Rebecca auf dem Totenbett schwören.«
»Rache. So eine schöne Form, ihre Liebe aufrechtzuerhalten. Oh, Moment mal. Weißt du, wann genau sie gestorben ist?«
»Am vierzehnten Dezember, warum?«
»Nathan hat Talia zehn Tage für ihren Rücktritt gegeben. Das kam mir willkürlich und ziemlich großzügig vor.« Ich schüttelte den Kopf. »Am vierzehnten Juni ist Rebecca genau sechs Monate tot.«
»Das ist auch ein Weg, ihrer zu gedenken.«
»Warum hast du mich ausspioniert?«, wollte ich wissen.
»Deine Mutter hatte keine Leichen im Keller, und du arbeitest in einem Metier, in dem genug Leute mit zweifelhaftem Ruf unterwegs sind, wenn ich das mal so sagen darf. Ich bin davon ausgegangen, dass ich irgendwas finde, was nicht sauber gelaufen ist, doch stattdessen fand ich Magie.« Er steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich dachte, dass Nathan sich freut, wenn er erfährt, dass du eine Nefesh bist, aber er war zu verbohrt in seinem Hass auf deine Mutter.«
»Und der Trip nach Montreal?«
»Nathan war wie besessen von dem Videomaterial, und er hat mich angerufen, um mir von seinem brillanten Plan zu erzählen, mit dem er Talia zu Fall bringen wollte. Ich bin hin, um ihm persönlich zu drohen, dass ich ihm die Cops auf den Hals hetzen und alles öffentlich machen würde. Sein professioneller Ruf ist ihm wichtig, und das hätte eigentlich alles beenden sollen.«
»Hast du ihm erzählt, dass ich eine Jezebel bin?«
»Nein. Das schwöre ich. Er weiß nur von deiner verstärkten Körperkraft. Mehr wusste ich am Anfang ja auch nicht. Vom Rest habe ich erst erfahren, als ich schon Teil des Teams war.«
Ich schlang die Arme fester um meine Beine. »Du meinst, nachdem du dich längst in unser Leben eingeschlichen hattest. Wenn das alles stimmt, wie konntest du dann weiter mit mir befreundet sein, mir jedes Mal ins Gesicht sehen und gleichzeitig wissen, dass du lügst und meine Geheimnisse verraten hast?« Mir versagte die Stimme.
»Es war nie geplant, dass du mir wichtig wirst«, erwiderte Arkady leise. »Aber als es so gekommen ist, habe ich versucht, die Sache zu beenden. Ich war dir gegenüber immer loyal, und nur dir gegenüber.«
Ich zog die Oberlippe spöttisch hoch. »Warst du mir gegenüber loyal, oder hattest du Angst, Miles zu verlieren?«
»Er war loyal«, sagte Miles plötzlich. Er hätte echt einen verdammt guten Ninja abgegeben, so exzellent, wie er sich unbemerkt an private Gespräche anschleichen konnte. »Arkady hat es mir schon vor einer ganzen Weile gestanden. Er hat sich geschämt und wollte es wiedergutmachen, indem er Teil von Team Jezebel wird.«
Arkady schnitt eine Grimasse. »Verrat ihr ruhig alle meine Geheimnisse.«
Miles zuckte die Achseln. »Ich habe dir gesagt, dass es nur mehr wehtut, wenn du es ihr nicht erzählst.«
Stille breitete sich zwischen uns aus, und Arkadys Schultern hoben und senkten sich, dann seufzte er. »Es tut mir leid, Ash. Es wurde immer schwerer, es dir zu gestehen, je mehr Zeit vergangen ist. Als ich jünger war, sind wir so oft umgezogen, dass ich nie wirklich Freunde hatte, und ich wollte dich nicht verlieren. Ich habe einfach gehofft, dass ich die ganze Sache unter den Teppich kehren kann, indem ich mich beweise. Dass es so weit kommen würde, hätte ich nie gedacht.«
Ich wollte ihm glauben. Ich wollte meinen Freund zurück, aber im Moment war ich zu angeschlagen, um ihm zu vergeben. Langsam ausatmend suchte ich nach Dingen, die ich in alphabetischer Reihenfolge sortieren konnte, um mich zu beruhigen. Ash, die echt am Ende ist, beschissenes Problem, chaotisch geht alles den Bach runter, dramatisch versaute Freundschaft … Ich lockerte meine verkrampften Kiefermuskeln.
Miles reichte Arkady eine Hand und zog ihn auf die Beine. »Brauchen wir eine Mediation? Eine Pause? Tatortreiniger?«
Arkady deutete auf mich. »Deine Entscheidung, Pickle. Kommen wir darüber hinweg?«
Ich wusste es ehrlich nicht. »Arrangier ein Treffen mit Nathan«, sagte ich. »Dann sehen wir weiter.«
Miles nahm Arkady mit, weil sie noch was anderes zu tun hatten. Ich erlaubte mir einen letzten sehnsüchtigen Blick, bevor ich mich abwandte.
Meine Mutter hasste Magie, meine Großeltern hassten Weltige, und ich war irgendwie beides, also saß ich zwischen den Stühlen und wurde von meiner eigenen Familie auseinandergerissen. Die Ash aus der Illusionszukunft erschien mir immer verführerischer. Sogar mit Golf.
Ich linste noch einmal kurz durch den Türspalt zu Rafael und schrieb Lux eine Nachricht, in der ich ihr erzählte, was mit ihm passiert war und dass ich gerne mit ihr über mögliche Lösungen sprechen würde. Sie befand sich gerade auf einer Geschäftsreise, würde mir aber Bescheid geben, sobald sie wieder da war.
Rafael saß zusammengekauert mit dem Rücken zur Tür in einer Ecke der Zelle. Er hatte mir seine bedingungslose Loyalität geschenkt, wie ich es bei Arkady getan hatte. Aber anders als Arkady würde ich beweisen, dass ich dessen würdig war.