Erst am Montagabend kehrte ich auf den verlassenen Jahrmarkt in Hedon zurück. Ich hatte eine Tasse Kaffee zu viel intus und versuchte immer noch, mir über meine Gefühle zu dem klar zu werden, was Levi mir über Illusionen und Entscheidungen gestanden hatte.
Das bedeutete, dass ich mich maximal auf mittlerem Leistungslevel befand – oder auf einem ganz passablen, wenn ich mich großzügig bewertete –, als ich erneut das Schloss des Gitters vor dem Liebestunnel knackte. Hoffentlich brachte ich damit nicht Operation »Ab mit dem Kopf« auf den Weg.
»Du bist wirklich masochistisch veranlagt«, meinte Adam.
Ein Tag auf dem Rummel war nicht perfekt ohne die Illusion des eigenen toten Dads. »Hallo, Fake-Vater. Du hättest mir wenigstens Zuckerwatte mitbringen können.«
»Du warst ein Albtraum auf zu viel Zucker.«
Ich versetzte dem Gitter einen derart harten Stoß, dass das Klappern auf dem ganzen Jahrmarkt widerhallte. »Was willst du?«
»Die Antwort auf diese Frage solltest du kennen.«
»Tue ich aber nicht. Wenn mein Verstand dich erschafft und nicht Hedon, nenn mir einen guten Grund, warum ich das tun sollte. Mir fällt nämlich keiner ein.«
Adam kratzte sich am Kinn und schaute zum Himmel hinauf, ganz genau, wie er es immer getan hatte, wenn ich ihn mit einer meiner unzähligen Fragen bombardierte, auf die er nicht sofort eine Antwort hatte. Dafür wollte ich ihn am liebsten umarmen, zugleich wollte ich ihm aber auch eine reinhauen.
»Du hast deinen Vater geliebt«, sagte er schließlich. »Vielleicht ist es ja einfach nur das. Wir leben unser Leben wie eine Geschichte, und ich muss in deiner eine bestimmte Rolle spielen. Eines Tages brauchst du die nicht mehr.«
»Offensichtlich ist heute nicht dieser Tag«, erwiderte ich und spähte in den dunklen Tunnel.
Hatte Levi seinen Vater in Hedon vor sich gesehen? Welche Rolle spielte sein Vater hier für ihn?
»Ich muss los«, meinte ich. »Und mir wäre es lieber, wenn du nicht mit in den Tunnel kommst.« Beim letzten Mal hatte ich ihn sterben sehen müssen. Meine innere Geschichtenerzählerin hatte wohl doch zutiefst masochistische Züge.
»Sei vorsichtig«, sagte Adam und verschwand.
Ich beäugte den Tunnel noch einen Moment lang und versuchte, die psychischen und physischen Gefahren abzuschätzen, die darin auf mich lauerten. Kam ich dieses Mal vielleicht ungeschoren daran vorbei? Mit der Goldmünze in der Hand stellte ich mir das rosafarbene Schlafzimmer in allen Einzelheiten vor. Ich spürte einen Zug, als würde die Münze kurz stottern, doch dann wurde ich in den Raum teleportiert.
Dieses Mal saß der Bücherwurm im Schaukelstuhl statt auf dem Bett, aber sonst hatte sich nicht viel verändert. Sie war noch immer in Trance, von der Wolke umgeben und hatte einen milchigen Film über den Augen.
Im heutigen Wörterfluss war ein Auszug aus einem Stephen-King-Roman enthalten, gefolgt von einem langen Traktat in Hindi und dann dem Satz »Bitte achten Sie auf den Abstand zwischen Bahngleis und Zug«.
Ich holte das Blank aus meiner Tasche. »Hallo. Erinnerst du dich an mich? Ich möchte dir helfen. Ich habe etwas dabei, das deine Magie unterdrückt und dich wieder zu Bewusstsein kommen lässt. Es wirkt nur einen Tag lang, aber das reicht, um dich hier rauszuholen, wenn du gegen deinen Willen festgehalten wirst.«
»Und du denkst, dass das funktioniert?« In den Worten lag die pure Verachtung.
Ich fuhr herum und sah mich der Königin gegenüber. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und es juckte mich in den Fingern, meine Rüstung heraufzubeschwören, doch das würde die Sache zu schnell eskalieren lassen. »Das sollte es.«
Ihre Hoheit pirschte auf mich zu, ein Raubtier in rotem Leinen. Ich rührte keinen Muskel. »Wenn du ihre Magie unterdrückst, bekommt sie danach vielleicht keinen vollen Zugriff mehr auf sämtliche schriftlichen Informationen der Welt«, sagte sie.
Ich machte eine Geste hin zum Bücherwurm. »Sie ist ein menschliches Wesen, Hoheit, kein Werkzeug für Ihren unstillbaren Durst nach Wissen. Sie verdient ein Leben und nicht, hier als Ihre Gefangene festgehalten zu werden.«
Das ließ die Königin stutzen. »Ah, blanquita .« In ihren Worten lag so viel Trauer, dass die Haut in meinem Nacken kribbelte. »Isabel ist nicht meine Gefangene.« Sie zögerte kurz. »Sie ist meine Tochter.«
Meine Rüstung manifestierte sich auf einen Schlag, mit extravielen Stacheln um meinen Hals. Ich war hier eingebrochen und hatte versucht, das Kind dieser tödlichen Frau zu stehlen, indem ich ihm Drogen anbot. Damit steckte ich so tief in der Scheiße, dass ich vermutlich nie wieder Tageslicht sehen würde.
»Wie hast du sie gefunden?«, wollte die Königin wissen.
Wer A sagte, musste auch B sagen. Immerhin konnte ich nur einmal geköpft werden, nicht wahr? »Als ich Sie nach dem Bücherwurm gefragt habe, habe ich Ihre Magie gerochen. Warum hätten Sie Ihre Kräfte zum Einsatz bringen sollen? Doch nur, weil Sie sich bedroht fühlten. Dann habe ich die Goldmünze benutzt, und die hat mich auf den Jahrmarkt gebracht.«
»Du bist klüger, als gut für dich ist, chica .« Sie setzte sich aufs Bett und sah zum ersten Mal, seit wir uns kannten, erschöpft aus, und älter, als sie tatsächlich war.
»Warum ist sie hier? Wäre sie im Palast nicht sicherer? Dort wäre sie vom Gesetz der Schwarzen Herzen geschützt.«
»Das war Vespa auch. Und wie sicher war Vespa letztlich?« Sie schüttelte den Kopf. »Isabels Magie ist zu selten. Es gab bereits drei Entführungsversuche, da war sie noch nicht einmal fünf.«
»In Hedon?« Wer wäre so selbstmörderisch veranlagt, sich derartig gegen die Königin zu stellen? Doch dann fiel der Groschen. »Deswegen haben Sie diese Welt übernommen, nicht wahr? Es ging nie ums Herrschen. Sondern darum, für die Sicherheit Ihrer Tochter zu sorgen.«
Die Königin lachte. »Ich bin keine Heilige. Ich wollte definitiv herrschen, aber ja, es war von größter Wichtigkeit für mich, ein Gebiet unter meine Kontrolle zu bringen. Die Entführungsversuche rissen jedoch trotz des Gesetzes der Schwarzen Herzen nicht ab, also habe ich diesen Ort aus ihren Erinnerungen an eine glückliche Zeit erschaffen.«
»Verborgen im Herzen des Liebestunnels, sicher unter dem Schutz ihrer Mutter. Und außerdem geschützt durch tödliche Illusionen und einen Auftragskiller.«
»Animator-Magie auf einer Schaufensterpuppe«, erwiderte die Königin. »Meine Mitarbeiter sind nicht ganz so entbehrlich.« Sie rückte einen Teddybären zurecht, der zwischen den Kissen auf der Seite lag. »Du hättest den Einbruch in den Tunnel nicht überleben dürfen.« Der Blick aus ihren violetten Augen war scharf. »Niemand sonst hat das getan.«
Abbruch! Ich ließ meine Rüstung verschwinden und griff nach der Goldmünze an meinem Hals.
»Kannst du ihr wirklich helfen? Wir haben bisher nichts gefunden.« Sie musterte mich skeptisch, doch in ihren Worten schwang auch Hoffnung mit.
Ich hielt in der Bewegung inne. »Ja. Ich habe Blank schon selbst genommen, es unterdrückt Magie. Levi ist der Einzige, der Zugriff auf die Produktion hat, und er würde Ihnen so viel geben, wie Isabel braucht.«
»Dann soll ich dir und Levi das anvertrauen, was mir wichtiger ist als alles andere.« Sie ging zu ihrer Tochter rüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Wörter formten sich um Isabels Kopf, größer und heller als die andern. »›Ich hatte eine Mutter, die las mir seit je / Geschichten von Piraten und ihren Taten auf See.‹«
Die Königin streichelte ihrer Tochter übers Haar. »Es wäre einfacher, dich umzubringen.«
»Meine Leiche zu entsorgen, wäre ziemlich aufwendig. Superviel Knorpelmaterial.« Ich hielt ihr die Phiole hin. »Sie wissen, wo ich wohne, falls ich Sie je hintergehen sollte. Nicht, dass ich das vorhabe. Ich war bereit, mir Ihren Zorn zuzuziehen und Isabel zu retten, als ich dachte, dass sie gegen ihren Willen festgehalten wird, und ich würde ihr nie etwas tun. Sie wollten nur Ihr Kind beschützen.«
»Mag sein, dass du ihr nichts antun willst , aber du befindest dich auf deiner eigenen gefährlichen Mission, und ich weiß nicht, wie lange du unter Folter durchhalten würdest.«
Okay, das war ein wirklich deprimierendes Gespräch. Ich zuckte die Schultern, zu müde, um mich aufzuregen. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Hoheit.«
Die Königin stützte sich mit einer Hand auf der Rückenlehne von Isabels Schaukelstuhl ab und schaute zwischen ihrer Tochter und mir hin und her. »Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich nach all den Jahren der vergeblichen Suche nach Hilfe auf eine junge Frau traf, deren Magie von einem starken Bannzauber unterdrückt wurde.«
Ich wollte mich damit brüsten, dass diese Tatsache sie überrascht hatte, aber jetzt war nicht der Moment dafür. »Haben Sie versucht, einen Van Gogh für Isabel zu finden?«
»Ja, doch trotz meiner vorsichtigen Recherchen habe ich keinen mit dieser Fähigkeit ausfindig machen können.«
»Dafür dürfen Sie sich bei Chariot bedanken. Die haben Yitzak ermordet«, sagte ich.
»Es ist wohl auch besser so. Ich wollte ihr so verzweifelt helfen, aber gleichzeitig konnte ich unmöglich etwas Dauerhaftes ohne ihre Zustimmung tun. Du hättest ihr die Magie nehmen können«, fügte sie dann wie nebenbei hinzu.
»Niemals«, gab ich hart zurück.
Sie nickte, als hätte ich ihr damit etwas bestätigt. »Gib ihr das Blank.«
Ich öffnete die Phiole und hätte beinahe die Hälfte verschüttet, als Moran wie aus dem Nichts mit gezücktem Schwert neben mir auftauchte. »Ich gebe ihr einen Tropfen unter die Zunge«, erklärte ich. »Die Wirkung tritt in etwa einer halben Stunde ein und hält für ungefähr einen Tag an.«
Die Königin nickte, was wohl bedeutete, dass ich weitermachen sollte. Moran äußerte sich nicht dazu, aber er köpfte mich auch nicht. Musste vermutlich reichen.
Ich verabreichte Isabel die Droge und gab der Königin die Phiole mit dem Rest der Flüssigkeit.
»Und die Goldmünze, por favor. «
Ich händigte sie ihr aus, ohne den Holzring zu erwähnen.
»Und jetzt warten wir«, meinte sie.
Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken an das Bücherregal, während ich mich mental auf die längste halbe Stunde meines Lebens vorbereitete.
»Du hast den Hund nicht mitgebracht«, sagte Moran sichtlich angefressen. Ja, all das war nichts als eine Intrige, um dich um dein Spieldate zu bringen.
»Sie regt sich bei Gefängnisausbrüchen immer so auf. Nächstes Mal wieder.« Noch neunundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden.
Die Königin blieb bei ihrer Tochter, und ich schrak jedes Mal auf, wenn Isabel zuckte oder auch nur anders atmete. Das Schweigen dehnte sich aus.
»Sie wird heller.« Moran deutete auf die Datenwolke.
Ich seufzte. Da ging sie hin, meine beste Spur zu Olivias Versicherung und die einzige Möglichkeit, herauszufinden, ob ich damit Wu zu Fall bringen konnte. Ich wünschte mir für Isabel, dass das Blank funktionierte, aber ich hatte auch eine Verpflichtung Levi gegenüber, und dieses Gesetz musste gestoppt werden.
»Du hattest eine Frage an Isabel, oder?«, wollte die Königin wissen.
»Ja.«
Sie winkte mich heran. »Bevor ihre Magie komplett unterdrückt ist: Leg ihr eine Hand auf die Schulter, und denk an das, was du sie fragen willst. Bücherwürmer können entweder das Wissen für dich beschaffen, wenn sie wach genug dafür sind, oder dich durch eine mentale Verbindung dahin leiten, wohin du gehen musst. Stell deine Frage. Berühr aber nicht die magische Wolke, die sie umgibt. Die Auswirkungen können gefährlich und unberechenbar sein.«
Ich schnaubte. Die lustige Version meines alternativen Lebens fiel definitiv in beide Kategorien.
Es gab da diesen einen Moment, auf den ich nicht stolz war. Beinahe hätte ich gefragt, wie man Rafael heilen konnte, anstatt Levi zu helfen. Nach Chariots Schriftrolle hätte ich mich ohne Zögern erkundigt, wenn Rafael nicht so vehement betont hätte, dass Chariot peinlich genau darauf achtete, das Wissen darum vor Bücherwürmern zu verbergen. Hier bot sich die Möglichkeit, meinem Freund zu helfen, und ich sehnte mich danach, sie zu ergreifen.
Ich legte meine Hände auf Isabels Schultern und tat das Richtige. Hat Olivia Dawson einen physischen Beweis hinterlassen, der Jackson Wus illegale Aktivitäten belegt?
Der helle, summende, grelle Laut, den ich bei meinem letzten Besuch schon gehört hatte, bohrte sich in mein Hirn. Ich versuchte, mir die Ohren zuzuhalten, konnte die Hände aber nicht von Isabels Schultern lösen.
Die Königin beobachtete mich mit besorgt gerunzelter Stirn, schien aber selbst keine Schmerzen zu haben. Blut rann mir aus einem Nasenloch, und ich schwankte, als die Welt sich um mich herum drehte und zur Seite kippte. Ein Wörterbataillon bombardierte mich, und Serifen stachen auf mich ein, während runde Bs und Ds mir seitlich gegen den Kopf schlugen. Diese verräterischen kleinen Mistkäfer waren nicht mal annähernd so weich, wie sie klangen.
Ich würde also durch das Alphabet sterben. Wie banal.
Das schreckliche Geräusch verstummte, und das rosa Schlafzimmer verschwand. Ich befand mich an einem blauen Ort, der in einem weichen Licht schimmerte. Um mich herum strömten rückwärts geschriebene Wörter, die silbern vor einem rosigen Schein glänzten.
Ich drehte mich voller Staunen um die eigene Achse. »Ich bin in der Kumuluswolke.«
»Ja. Ich bitte um Entschuldigung. Der Übertritt kann ein wenig verwirrend sein.« Isabel hatte die Hände vor dem Körper gefaltet, und auf ihrem Gesicht lag ein gelassener Ausdruck.
»Du bist sehr …«
»Zurechnungsfähig?«
»Ich wollte ›gefasst‹ sagen, aber dein Vorschlag ist besser.«
Sie machte eine Geste, die den Ort einschloss. »Ich hatte jahrelang Zeit dafür, mir einen Gedankenpalast mit verschiedenen Räumen zu erschaffen, um Ordnung in das Chaos zu bringen und nicht darin zu ertrinken. Zumindest hier drinnen. Dort draußen?« Sie zuckte die Schultern. »Das steht auf einem ganz anderen Blatt. Ich versuche, mich aus dem Strom zu lösen, weil ich nicht dauerhaft damit verbunden sein kann, aber das ist auch der Moment, in dem ich am wahrscheinlichsten von der schieren Menge an Informationen überflutet werde, die ich aufnehme.«
»Bin ich wirklich hier?« Ich stupste eine Reihe mathematischer Symbole an, die an mir vorbeischwebten. Sie fühlten sich kühl an, und ein goldener Schimmer huschte über sie hinweg, bevor sie ihren normalen Fluss wieder aufnahmen.
»Dein Körper befindet sich dort draußen.« Sie deutete auf den rosafarbenen Schein. »Aber was auch immer du hier erlebst, wird draußen reflektiert. Wenn du dich schneidest, blutest du. Wenn du hier stirbst … Du weißt, was ich meine.«
»Nicht sterben. Verstanden. Und du? Geht es dir gut?«
Ihr Lächeln brachte ihre violetten Augen zum Strahlen. Die Farbe hatte ich zuvor wegen der Datenwolke und des milchigen Films nicht erkennen können. Darum war mir die Familienähnlichkeit bisher entgangen.
»Ja.«
»Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich.«
»Gracias. Wie geht es Mama? Du bist gerade mit ihr hier, oder? Bist du ihre Freundin?«
»Freundin wäre ein bisschen zu viel gesagt. Es ist kompliziert.«
»Das ist alles, was mit meiner Mutter zu tun hat.«
»Da gebe ich dir recht. Bei ihr ist aber alles okay. Hör mal, ich habe dir eine Droge namens Blank verabreicht, die deine Magie unterdrücken wird. Tut mir leid, dass ich dich nicht erst um Erlaubnis fragen konnte.«
»Du hast es versucht. Ich habe dich gehört. Sie wird mir helfen, klar genug zu denken, um zu entscheiden, wie ich mein Leben leben will.« Langsam ging sie im Raum auf und ab und ließ die Finger dabei durch eine Abfolge von deutschen und italienischen Wörtern gleiten, die in hellen Farben aufleuchteten und ein leises, melodisches Klingeln von sich gaben. »Was, wenn ich es nicht weiß?«
»Dann bekommst du die Zeit, es herauszufinden.«
»Es wäre schön, wieder mehr mit Mama zusammen zu sein.« Sie lächelte erneut, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Jahre ihres Lebens waren ihr von der Magie und einem wohlmeinenden Elternteil geraubt worden. Jeder Weg, den sie ab jetzt einschlug, würde voller Herausforderungen sein.
»Weißt du etwas zu meiner Frage?«, erkundigte ich mich.
Sie schloss kurz die Augen. »Wenn es existiert, ist es in Privatbesitz und steht nicht in einem Regal in einer Bücherei oder ist sonst wie öffentlich zugänglich. Dann befindet es sich in der Präsenzabteilung. Beschränkter Zugang.« Ihre Stimme hatte einen tieferen, leicht mechanischen Klang angenommen, der mir einen Schauder über den Rücken jagte.
»Hast du darauf Zugriff?«
»Jetzt, wo du hier bist?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn dieser Teil des Gedankenpalasts intakt bleiben soll. Was er muss, weil dein Gehirn sonst unter der Masse an Informationen zerquetscht wird. Die Droge dämpft meine Fähigkeiten, und mir läuft die Zeit davon. Ich habe allerdings noch genug Magie, um dich reinzubringen.«
Die Datenwolke färbte sich sturmgrau, und die Temperatur fiel. Eine dünne Eisschicht breitete sich auf den Innenseiten der Wörter aus, und mein Atem kondensierte in der Luft.
Ich schlang die Arme um mich, in dem Versuch, mich warm zu halten. »Aber?«
Ihre violetten Augen waren groß und voller Sorge. »Ich werde dich nicht wieder herausholen können.«
Der Boden grummelte und bebte, die Wörter um mich herum rauschten nach unten. Ich schnappte erschrocken nach Luft und streckte die Arme aus, um durch die Erschütterungen nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während meine Rüstung sich schützend um mich legte.
Isabel stand ruhig inmitten des Chaos, unbeeindruckt und unerreichbar.
»Gibt es einen Ausgang?«, fragte ich.
»Ja.« Sie deutete auf meine Blutrüstung und musterte mich von oben bis unten. »Wenn du die bist, für die ich dich halte, kannst du dich befreien, doch Wissen kann dich töten.«
Die Phrase »Carpe diem« schoss aus der Wolke, traf mich hart am Kopf und ging noch intakt zu Boden.
Ich verdrehte die Augen. »Tu es.«
»Viel Glück, und … es wäre besser, wenn du meinen Namen nicht erwähnst.« Isabel schnippte mit den Fingern.
»Entschuldigen Sie«, hörte ich eine Frauenstimme in scharfem Ton hinter mir. »Sie haben keine Zugangsberechtigung für die Bibliothek.«
Ich drehte mich um und machte einen Satz zurück. »Ach du Scheiße.«
Die Riesin war locker vier Meter groß, trug eine rote Hornbrille und hatte ihre blonden Haare zu einem strengen Dutt gebunden. Sie stützte die knorrigen Hände in die breiten Hüften. Die Absätze ihrer Schuhe hätte man problemlos dafür verwenden können, Vampire zu pfählen. Es war ja auch echt dringend nötig, dass sie sich noch größer machte. »Sie sind überaus unhöflich.«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich hatte nicht erwartet, dass jemand außer mir hier ist.« Als ich ihr eine Hand reichte, die sie zögerlich schüttelte, schickte ich einen fast unsichtbaren roten Magiestrom in sie hinein. Hoppla. Sie wurde nur von Magie zusammengehalten, musste also ein Konstrukt sein, das Isabel geschaffen hatte. Was sie allerdings nicht weniger gefährlich machte.
»Wo bin ich hier eigentlich?«, fragte ich.
Sie warf den sich ins Unendliche ausdehnenden Regalreihen mit sauber geordneten Büchern einen unbeeindruckten Blick zu. »Raten Sie mal.«
»In einer Bibliothek. Ja, so viel habe ich schon mitbekommen.«
»Wenigstens das«, erwiderte die Riesin. »Ihre mentalen Fähigkeiten sollten also auch dafür ausreichen, selbstständig den Ausgang zu finden, weswegen ich vorschlage, dass Sie genau das tun.« Sie deutete auf das entsprechende, in einem nachdrücklichen Rot blinkende Schild.
»Warten Sie. Bitte.« Ich musste joggen, um sie einzuholen, weil einer ihrer Schritte etwa zweieinhalb von meinen entsprach. Der gewaltige Schlüsselring, der an ihrer Taille hing, klimperte bei jeder Bewegung. »Ist das hier die Präsenzabteilung?«
»Selbstverständlich nicht. Man kann dort nicht einfach hineinspazieren und … Moment mal.« Sie blieb so abrupt stehen, dass ich ein Stück zurücklaufen musste. In einer ihrer Hände erschien eine überdimensionale Keule. »Hat sie Sie geschickt?«
Ich riss die Augen unschuldig auf. »Wer?«
Wenn sie Isabels Werk war, lebten die beiden wirklich begeistert die dysfunktionale Beziehung von Dr. Frankenstein und seinem Monster aus.
Die Riesin klatschte sich die Keule in die breite Pranke. »Woher wissen Sie dann von dieser speziellen Abteilung?« Sie verzog das Gesicht. »Sie sind doch nicht etwa eine von denen , oder?«
»Kommt drauf an. Könnte schon sein.« Die Bibliothek war besser ausgestattet als Rafaels. Er würde ganz aus dem Häuschen sein, wenn ich ihm davon erzählte. Ob Isabel sich wohl bereit erklärte, geführte Touren durch ihren Gedankenpalast anzubieten?
»Eine Bittstellerin«, stellte die Riesin fest.
Ich verspürte jetzt keinen besonderen Drang danach, um etwas zu betteln, aber ich war dem auch nicht grundsätzlich abgeneigt. »Ja. Ich bin Ashira, die Bittstellerin.«
Sie schürzte die Lippen. »Wir hatten hier noch nie eine Jezebel-Bittstellerin. Leute wie Sie bleiben für gewöhnlich unter sich.«
»Sie wissen, was ich bin?« Ich schüttelte den Kopf. Natürlich tat sie das, wenn Isabel es wusste. »Ich bin eine neue Art von Jezebel für ein neues Zeitalter.«
»Wie schön für uns alle«, entgegnete sie trocken. Sie schlüpfte hinter den riesigen, u-förmigen Tresen und verstaute die Keule darunter. An den Seiten war das Schreibtischmonstrum sicher jeweils fünfzehn Meter lang, und dazu war es vollgestellt mit haushohen Bücherstapeln. Halb gefüllte Bücherwagen reihten sich daneben auf.
»Lassen Sie uns doch einfach die nächsten sechs oder sieben sarkastischen Kommentare überspringen. Ich habe eine Frage, und in dieser Bibliothek gibt es vielleicht eine Antwort darauf. Wie bringen wir beides zusammen?«
Die Riesin nahm ein Buch vom nächstgelegenen Stapel – wobei, genau genommen waren es eher mehrere Papyrusstücke, die von einer ausgefransten Kordel zusammengehalten wurden. Zu seiner Zeit war das garantiert ein Bestseller gewesen. Sie scannte es und legte es in einen Bücherwagen. »Zuerst erzählen Sie mir, wonach Sie suchen, und ich überprüfe, ob Sie die Kriterien erfüllen oder nicht.«
Ich unterbreitete ihr mein Anliegen.
Die Riesin seufzte, was bei ihr klang, als würde die Luft aus einem Dudelsack entweichen. Sie scannte das letzte Buch aus dem Stapel. »Sie scheinen geeignet zu sein.«
»Hervorragend. Nur fürs Protokoll: Was waren die Anforderungen? Meine unstillbare Neugierde? Mein Durchhaltevermögen und meine Entschlossenheit?«
»Eine Herausforderung. Ihre Anfrage ist ziemlich weit hergeholt, aber Wissen schätzt eine gute Herausforderung.« Das klang wie ein Spruch aus einem Glückskeks.
»Die sind meine Spezialität.« Ich klatschte in die Hände.
Sichtlich angewidert öffnete die Riesin eine Schublade und reichte mir eine laminierte Karte mit der Aufschrift »Kurzbesucher« und einem Barcode. Dann deutete sie auf eine blaue Tür. »Scannen Sie die Karte. Sie verschafft Ihnen Zutritt zur Präsenzabteilung, wo Sie Ihre Antwort finden sollten.« Ein weiteres Buch wanderte in den Wagen. »Wissen wird Sie töten.«
Isabel und ihre Kreation hatten wirklich nicht viel Vertrauen in mich. Oder sie hielten mich für unfähig.
»Ich komme schon klar.«
Der Scanner schaltete auf ein freundliches Grün um, als ich die Zutrittskarte benutzte, und die Tür öffnete sich. Ich betrat einen Wald aus unglaublich hohen Mammutbäumen, die von Sonnenstrahlen in ein weiches Licht getaucht wurden. Ich reckte mein Gesicht der Wärme entgegen und musste gegen den Drang ankämpfen, mich für ein Nickerchen hinzulegen.
Stattdessen schlenderte ich zwischen Farnbüscheln hindurch und sog tief den Geruch nach Erde und verrottendem Moos ein. Selbst der kleinste Baum war sicher dreißig Meter hoch, und jeder Stamm wies eine gewölbte Öffnung auf, in der man ein Auto hätte parken können. Ich legte eine Hand auf die dicke, raue Rinde von einem davon und spähte durch den Holzbogen hinein. Ein leises Aufkeuchen entwich mir.
Im Inneren befanden sich Unmengen von Büchern, die spiralförmig bis oben hin angeordnet waren. Schnell schaute ich in ein paar der anderen Bäume nach, wo sich mir das gleiche Bild bot. Das war ja atemberaubend.
Und unmöglich. Es gab Dutzende von Bäumen mit Tausenden von Büchern. Wie sollte ich hier jemals meine Antwort finden?
Auf einmal hörte ich den Ruf einer Eule. Weise alte Eule. Verstanden. Ich folgte dem Laut durch den Wald, den Blick nach oben in die Baumkronen gerichtet, bis ich den Vogel auf einem Ast entdeckte. Geduldig wartete er auf mich. Ich betrat die Öffnung dieses Mammutbaums. Auf einem Podium aus dicken, gedrehten Ranken, dessen Ablagefläche ein breites Blatt war, lag ein unauffälliges schwarzes Kassenbuch.
Auf den ersten paar Seiten standen nur Zahlenkolonnen, die für mich ziemlich normal aussahen, doch ein Stück weiter wurde daraus ein Code aus sauberen, winzig kleinen Blockbuchstaben. Auf der letzten Code-Seite verschwamm der untere Teil des Papiers. Die restlichen Seiten des Buchs bestanden wieder aus buchhalterischen Einträgen.
Mein Handy befand sich mit meinem physischen Körper draußen in Hedon, also konnte ich die Seiten nicht fotografieren. Ich wollte die Bibliothekarin auch nicht verärgern, indem ich etwas aus dem Präsenzbestand mitnahm, aber vielleicht wusste sie, wo es sich in der realen Welt befand, wenn ich es ihr zeigte. Dann könnten wir es dort holen und den Code knacken.
Ich verließ den Baum und hielt dem Vogel, der ein paar Meter weiter auf dem Boden saß, das Kassenbuch hin. »Danke, weise alte Eule. Du weißt nicht zufällig, wo das versteckt ist, oder?«
»Präsenzabteilung!«, kreischte die Eule und drehte den Kopf in bester Exorzist -Manier. Dann plusterte sie sich auf, bis sie doppelt so groß war wie ich und einen riesigen Schatten auf den Wald warf.
Ich schaute am scharfen Schnabel der Eule vorbei in ihre intelligenten Augen. »Wissen?«
Sie stürzte sich auf mich. Ich schaffte es gerade noch, mich zur Seite zu rollen, wobei mir jedoch das Buch aus der Hand rutschte. In hohem Bogen landete es in einem Laubhaufen. Der Schnabel des Vogels brach meine Rüstung auf, und die Platte, die meine linke Wade schützte, zerbröselte. In Gedankenpalästen herrschten offenbar andere Regeln für meine Magie.
Mit einer Rückhand – einem Rückflügel? –, die Serena Williams neidisch gemacht hätte, beförderte die Eule mich gegen einen Baumstamm und fetzte mir dann mit den Klauen den Rest meiner Schutzkleidung vom Leib.
Tipp vom Profi: Halbwissen mochte gefährlich sein, aber die volle Ladung Wissen war tödlich.
Ich prügelte das Symbol der Weisheit kurzerhand mit einer magisch erschaffenen Keule blutig und schaffte es dann, die magische Grundsubstanz der Bibliothek zu zerstören.
Ich erwachte in dem Schlafzimmer, zurück in meinem physischen Körper. Über und über mit Eulengedärm und Federn bedeckt. Ruckartig setzte ich mich auf. Offenbar hatte man mich einfach auf dem Teppich liegen lassen. Das Kassenbuch hatte ich nicht bei mir, aber ich verbuchte es trotzdem als Sieg – nun wusste ich, dass es tatsächlich existierte.
»Dieser Look schmeichelt dir nicht gerade«, kommentierte die Königin.
Keine Spur von Moran.
Ich schnippte einen klebrigen Klumpen weg, der von meinem Ellenbogen baumelte. »Ach, ich weiß nicht. Damit könnte ich vielleicht im Babyrobben-Schlächter-Verein punkten.«
Isabel hatte sich auf dem Himmelbett zusammengerollt und den Kopf auf den Schoß ihrer Mutter gelegt. Sie wirkte erschöpft, und die Datenwolke um ihren Kopf war quasi verschwunden. »Wie ich sehe, bist du zu Wissen gelangt.«
»Toller Name. Sehr witzig. Du bist echt ihre Tochter. Wer könnte denn dein anderer Elternteil sein? Hast du Russen im Stammbaum?«
Isabel lächelte verschlafen und schloss die Augen, während die Königin mich nur ausdruckslos anschaute. Ich hatte einfach fragen müssen.
»Keine Probleme mit der Droge?«, flüsterte ich.
»Nein.« Die Königin streichelte Isabel über die Haare, und der letzte Rest der Datenwolke verflüchtigte sich. Das Blank hatte seine volle Wirkung entfaltet. »Hast du deine Antwort bekommen, blanquita ?«
»Jep.« Ich spuckte eine Feder aus, die mir im Mund klebte.
»Dann geh nach Hause.« Sie reichte mir die Goldmünze. »Und Ashira?«
»Ja?«
»Es gibt nichts, was ich nicht tun würde, um meine Tochter zu schützen. Vergiss das nicht.«
Das würde ich ganz sicher nicht.