KAPITEL 15

Nach einer Dusche, die ich mir wirklich redlich verdient hatte, und einer Nacht Tiefschlaf stattete ich Lux zusammen mit Mrs Hudson einen Besuch ab.

Davor telefonierte ich noch kurz mit Miles, um ihm die Ergebnisse meiner Bücherwurm-Expedition mitzuteilen. Er stimmte mir zu, dass das codierte Kassenbuch ziemlich wahrscheinlich Olivias Versicherung war, schließlich hatte Isabels Magie es mir als Antwort auf meine Frage gezeigt. Da die Allegra Group ihre komplette Buchhaltung digitalisiert hatte und Arkady bei der Durchsuchung der Firmenräume nirgendwo auf archivierte Papierdokumentation gestoßen war, schlug ich Miles vor, dass er nach einem Lagerhaus Ausschau halten sollte, in dem das Unternehmen seine alten Akten aufbewahrte.

Nach dem Telefonat nahm ich mir ein Taxi zu der Adresse, die Lux mir geschickt hatte. Sie führte mich zu einem Pharmaunternehmen in der Innenstadt, wo ich meinen Namen am Empfangstresen nannte und mir dann einen Platz in der hellen Lobby suchte, um auf sie zu warten.

Das Göttinnen-Groupie verließ den Aufzug in einem weißen Laborkittel. Um den Hals trug sie ein Schlüsselband, und ihre Haare waren immer noch zu einem Undercut rasiert, aber anstatt des grellen Violetts hatte sie sie inzwischen in einem dunklen Blau gefärbt.

Ich ging ihr entgegen, und Mrs Hudsons Krallen klackerten auf dem Fliesenboden. Lux schlug vor, dass wir in ein Café um die Ecke gingen, also wartete ich, bis wir mit unseren Getränken und einer Schüssel Wasser für den Hund im Außenbereich saßen, bevor ich den Grund dieses Treffens ansprach.

»Dein Alltagslook überrascht mich«, meinte ich.

Sie spielte mit dem Schlüsselband. »Hast du gedacht, dass ich in meiner Freizeit aus Kristallen lese oder postapokalyptischen Schmuck herstelle?«

»Wäre beides plausibler gewesen als das hier. Du bist Wissenschaftlerin?« Ich rührte Milch in meinen Kaffee.

»Doktorin der Chemie. Ich hab einen riesigen Studienkredit laufen, und große Pharmaunternehmen zahlen nun mal gut. Auch wenn meine Seele dabei jeden Tag ein bisschen mehr zugrunde geht.« Sie nahm den Deckel von ihrem Milchkaffee und pustete auf die Oberfläche. »Es tut mir wirklich leid um deinen Freund.« Sie rutschte auf ihrem Sitz herum und zeigte alle Anzeichen von Reue.

Zu viel Reue.

»Deswegen habt ihr uns doch dorthin teleportiert, oder nicht? Ich wette, dass der Ort, den ihr durch die Illusion wie das Kolosseum habt aussehen lassen, hübsch abgeschieden liegt. Es tut dir nicht leid, dass mein Freund verletzt wurde, sondern dass euer Plan nicht aufgegangen ist.« Der Kaffee war zu bitter, also kippte ich eine großzügige Menge Zucker hinein.

Ein Funkeln trat in ihre Augen, und sie richtete sich kerzengerade auf. »Wir haben monatelang daran gearbeitet, unsere Göttin zurückzubringen, und ihr habt alles ruiniert.«

Fast wären sie damit durchgekommen – wenn sie nicht solches Pech bei der Auswahl ihrer Opfer gehabt hätten. Ihre Taten waren dumm gewesen, aber ihre Motivation war es nicht.

»Es tut mir leid, dass deine Frau Krebs hat«, sagte ich. »Wie geht es ihr?«

Lux verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Du weißt davon?«

Ich nickte.

Sie seufzte niedergeschlagen. »Nicht gut. Er hat in die Leber gestreut.«

Shit. Das bedeutete, er war unheilbar. »Können die Nightingales nichts für sie tun? House Pacifica beschäftigt einen exzellenten. Ich könnte mit Levi reden.«

»Selbst Nightingales tun sich schwer damit, Krebs zu heilen.«

»Deswegen wolltest du, dass Aschera auftaucht, oder?«

»Ich habe so viel gebetet. Und ich dachte, wenn ich sie mit einem Geschenk heraufbeschwören kann, wäre sie vielleicht bereit, Emma zu helfen.« Lux pulte am Rand ihres Pappbechers herum.

»Hätte es nicht einen weniger extremen Weg dafür gegeben?«, fragte ich sanft.

Lux warf mir einen abfälligen Blick zu. »Denkst du, das hätte ich nicht versucht? Als wir erfahren haben, dass sich der Krebs in Emmas Leber ausgebreitet hat, habe ich Gavriella um Hilfe gebeten.«

»Wirklich?« Mrs Hudson hatte es geschafft, sich an den Tischfuß zu fesseln, also lenkte ich den Hund in die richtige Richtung und lockerte die Leine. »Was hat sie gesagt?«

»Dass es keine Möglichkeit gibt, Aschera herbeizurufen, und dass ich nichts Dummes tun soll, was Aufmerksamkeit auf mich zieht, weil ich mich sonst vor ihr verantworten müsste.« Lux verzog verächtlich das Gesicht. »Ihr Jezebels seid alle gleich. Ihr denkt, dass ihr was Besseres seid als wir, die wir tatsächlich an die Göttin glauben, und ihr droht uns, um uns zu kontrollieren.«

»Ich wusste bis zehn Minuten vor unserem ersten Aufeinandertreffen nicht mal, dass es euch gibt. Also hatte ich auch keinerlei Meinung über euch.«

»Nein? Dann nennst du uns nicht Göttinnen-Groupies?«

Verdammt, Rafael. Du solltest echt subtiler sein. Und jetzt fiel mir absolut keine gute Antwort ein. »Ich … äh …«

»Was meinst du denn, woher die erste Jezebel kam? Sie war eine Gigi, wie ihr es so charmant ausdrückt.« Lux zerrupfte ihre Serviette in immer kleinere Stückchen. »Hast du tatsächlich gedacht, dass du die Einzige bist, die Aschera dient? Unser Glaube hält sie am Leben. Glaubst du überhaupt an sie? Die meisten Jezebels tun das nicht mehr. Nicht wirklich. Nicht so wie wir. Dass du ihre Auserwählte geworden bist, war einfach nur Glück.«

»Darüber, ob das wirklich ein ›Glück‹ ist, lässt sich streiten, doch ich verstehe, was du damit sagen willst, und du hast recht. Ich war kurzsichtig und engstirnig. Bloß … Gavriella war zwar wirklich nicht nett zu dir, aber sie hat nicht gelogen. Wir können die Göttin nicht heraufbeschwören. Wenn ich sie dazu bringen könnte, hier aufzutauchen und dir zu helfen, würde ich es tun.«

»Wohl eher, um das Sefer Raziel HaMalakh zu zerstören.«

»Wie viel weißt du darüber?«, fragte ich.

»Die Schöpfungsgeschichte der Jezebel wurde seit jeher mündlich unter den Gläubigen der Göttin weitergegeben. Ich weiß nicht, wie die Dinge aktuell zwischen dir und Chariot stehen, aber so wie ich es verstanden habe, wollte Gavriella nicht, dass sie von uns Wind bekommen. Sie hätte nur einfach nicht davon ausgehen sollen, dass ich total blauäugig bin und sie mir darum wie einem Kind drohen muss, damit ich keine Dummheiten mache.«

Ich zog Mrs Hudson von einem Zigarettenstummel weg. »Nein, hätte sie nicht. Ich wünschte, dass ich was für Emma tun könnte, und ich frage wirklich nicht gern ausgerechnet jetzt danach, aber weißt du irgendwas über den Kuss des Todes?«

Lux tippte nachdenklich gegen den Rand ihres zerfledderten Bechers. »Na ja, wir haben alle Gerüchte darüber gehört. Nichts Konkretes.«

Zu schade, aber deswegen war ich heute ja auch nicht hier. »Was kannst du mir über die Magie erzählen, die ihr bei dem Golem benutzt habt?«

Lux hatte keine Ahnung, warum der Magiemix auf mich keine Auswirkungen gehabt hatte, aber sie steuerte eine Idee bei, wie man Rafael helfen könnte. »Du musst die Nefesh-Magie herausfiltern.«

»Wie? Sie ist beinahe nicht vom Rest zu unterscheiden, und ich bekomme sie einfach nicht zu fassen.«

»Nach dem gleichen Prinzip, nach dem man eine homogene Lösung filtert.«

»Und jetzt bitte noch eine Erklärung für die unter uns, die nicht Chemie studiert haben?«

»Wie Salz, das in Wasser gelöst wurde. Man kann das Mineral herausfiltern. Die beiden Formen von Magie kann man nicht einfach so auseinanderpflücken, aber wenn man sie durch den richtigen Filter gießt, kommt die eine durch und die andere nicht.«

»Wie finde ich diesen Filter?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe recherchiert, aber nichts Sinnvolles gefunden.«

»Such bitte weiter. Und ich hoffe wirklich, dass Aschera dich erhört und Emmas Zustand sich bessert.«

»Hmhm.« Lux wandte den Blick ab. »Mache ich.«

Wie bei der Königin kam mir hier etwas komisch vor. Ich musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Soll das etwa heißen, dass ihr es noch mal versuchen wollt? Ihr habt Glück, dass Rafael und ich diejenigen waren, die Baal gegenüberstanden. Jeder andere wäre in dieser Arena gestorben. Würde Emma das wollen?«

In Lux’ Augen trat ein kalter Ausdruck, und sie lehnte sich über den Tisch. »Fick dich.«

Etwas klatschte mir gegen das Bein und hinterließ durch die Jeans ein Brennen auf meiner Haut. Es war eine Ranke, die sich nun um meinen Knöchel wickelte. Fantastisch, es war also nicht der Illusionist gewesen, der Rafael während des Baal-Showdowns festgesetzt hatte.

Ich legte all meine Wut in meinen Blick. Der blutrote Dolch, der wie nebenbei in meiner Hand erschien, schadete auch nicht. »Aschera kommt nicht zurück. Sollte ich auch nur vermuten, dass ihr so einen Mist noch mal abzieht, werde ich …«

»Was? Uns die Magie rausreißen?«

Die Ranke brannte heißer an meinem Bein, was mir ein Zischen entlockte. Gerade führte sie mich stark in Versuchung.

Ich ließ den Dolch verschwinden. Wir hatten keinen guten Start gehabt, doch wir standen auf der gleichen Seite. Aschera gut, Chariot böse. »Das würde ich euch nie antun, aber wenn euer Glaube so stark ist, wie du behauptest, dann solltet ihr respektieren, dass es immer Ascheras Ziel war, Menschen zu beschützen, und nicht, ihnen zu schaden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dem Schutz der Menschheit dient, wenn ihr Leute an Baal verfüttert. Und stolz wäre sie darauf erst recht nicht.«

Lux lenkte zunächst nicht ein, was mir durchaus Respekt einflößte. Ich wollte ihr zwar eine reinhauen, konnte ihr aber nicht vorwerfen, dass sie sich die Genesung ihrer Frau wünschte.

»Wenn ich die Magie nicht aus Rafael rausbekomme, muss er den Rest seines Lebens in einer Zelle verbringen«, sagte ich. »Ich bin mir ehrlich nicht sicher, wie lange er noch überlebt. Niemand verdient Krebs, aber ihr habt Rafael das angetan. Absichtlich. Selbst wenn Aschera plötzlich auftaucht und Emma heilt, kannst du mit Rafaels Tod leben? Oder mit dem der nächsten Person, die ihr benutzt, um Baals Macht zu stärken?«

Lux senkte den Blick auf den Tisch. »Nein«, erwiderte sie sehr leise und niedergeschlagen. »Ich versuch es nicht noch mal.« Die Ranke verschwand.

»Ruf mich an, wenn du einen Filter findest.« Ich zog sanft an Mrs Hudsons Leine, und wir verließen das Café.

Wenn es eine Möglichkeit gäbe, am Krebs Rache zu nehmen, wäre ich die Erste, die Lux dabei half, doch das ging nun mal nicht. Es war unfair, dass Emma krank war, und es war unfair, dass Rafael verletzt hinter Gittern saß. Ich mochte es, wenn Bösewichte klar definiert waren, konnte Lux aber nicht so einfach in diese Schublade stecken. Wie gerne würde ich das tun, weil es mir wirklich sauer aufstieß, dass ihre Taten keinerlei Konsequenzen für sie haben würden. Sie hatte jemandem wehgetan, der mir wichtig war, und alles in mir schrie nach Vergeltung oder zumindest nach Gerechtigkeit. Ich verfluchte Gavriella dafür, wie sie Lux behandelt hatte. Wenn sie ihr mehr Mitgefühl entgegengebracht hätte, hätte Lux sich vielleicht nicht gezwungen gesehen, diesen Weg einzuschlagen. Jetzt war es an mir, Gnade zu zeigen.

Gnade auf Bewährung. Wenn es Rafael schlechter ging oder er … Nein, das würde nicht passieren . Ende der Geschichte.

Ich machte einen kurzen Abstecher zum Nightingale im Hauptgebäude von House Pacifica, um die Striemen an meinem Bein heilen zu lassen. Gegen den großen Riss in meinem Hosenbein konnte er aber leider nichts tun. Anschließend rief ich meine Mutter an, und da Talia sich weiterhin weigerte, mich in ihrem Büro zu empfangen, trafen wir uns bei Cohen Investigations , wo ich den Heimvorteil hatte.

Es war noch Zeit dafür gewesen, einen kurzen Spaziergang mit Mrs Hudson zu machen, damit diese ihr Geschäft verrichten konnte, und jetzt genoss der Hund in seinem Bettchen in einer Ecke des Raums eine Runde Pärchenzeit mit Pinky.

Meine Mutter ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber sinken und klammerte sich am Riemen ihrer Handtasche fest.

»Ich habe den Erpresser gefunden«, informierte ich sie. »Es ist dein Schwiegervater.«

Talia lockerte ihren Griff stirnrunzelnd. »Warum? Ich habe Adams Eltern nie kennengelernt.«

»Deinetwegen hat ihr Sohn den Kontakt zu ihnen abgebrochen.« Ich erzählte ihr, was ich von Arkady wusste, ließ dabei aber seine Rolle in der ganzen Sache aus. Meiner Meinung nach ging das nur uns beide was an.

Meine Mutter sagte nichts dazu, sondern schüttelte nur mit benommenem Gesichtsausdruck den Kopf. Über das Elternhaus ihres Mannes hatte sie kaum etwas gewusst. Sie stand auf, schien plötzlich zu vergessen, warum sie das getan hatte, und setzte sich wieder, während sie sich die Augen rieb. »Woher soll ich wissen, dass das nicht noch einmal passiert

»Ich treffe mich mit Nathan und werde dem Ganzen ein Ende setzen«, sagte ich.

»Er ist ein Fanatiker. Warum sollte er auf Logik hören?«

»Ich kann sehr überzeugend sein.«

Talias Lachen klang nach einem halben Schluchzen. »Gewalt? Nein. Das wird immer wieder passieren . Wenn es nicht Nathan ist, dann ist es jemand anders.« Sie beugte sich nach vorn und fixierte mich wütend. »Beleg deine Magie wieder mit einem Bannzauber.«

Talia hatte zwar keine Ahnung, dass ich eine Jezebel war und Blutmagie besaß, aber sie wusste von dem Bannzauber, selbst wenn ihr nicht klar war, welche Rolle Adam dabei gespielt hatte. Ich selbst hatte ihr von dem Bann erzählt und auch, dass ich verstärkte Körperkraft auf einem niedrigen Level besaß.

Meine Magie kochte so stark in mir hoch, dass meine Haut unangenehm prickelte, als ich sie unterdrückte. Schnell setzte ich mich auf meine Hände, damit ich nicht versehentlich eine Waffe manifestierte und etwas Unüberlegtes tat. »So einfach ist das nicht«, quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Talia schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, was Mrs Hudson zum Winseln brachte. »Doch. Ist es. Wenn du keine Magie hast, kann sie auch nicht gegen mich verwendet werden. Du bist eine dokumentierte Weltige. Das macht das Video wertlos.«

»Ich werde das aber nicht tun.«

»Und wenn Nathan nicht zustimmt? Dann werde ich zum Rücktritt gezwungen. Jackson hat mich gefragt, ob ich Finanzministerin werden will, wenn wir die nächste Wahl gewinnen. Du willst also, dass ich mein Lebenswerk aufgebe, weil du es nicht erträgst, dich von einer halb garen Fähigkeit zu trennen, die im Wesentlichen sowieso nutzlos ist?«

Sie stieg die Parteileiter also weiter hinauf? Verschrieb sich noch mehr dieser gefährlichen, fehlgeleiteten Ideologie?

Ein Hämmern breitete sich in meinem Kopf aus. Wenn sie darauf bestand, die Partei ihrem Kind vorzuziehen, dann sollte sie ruhig die Wahrheit wissen. Keine Lügen. Keine Spielchen.

Als ich noch ein Kind gewesen war, hatte meine Familie einen Lieblingsplatz zum Picknicken an einem See etwa zwei Stunden außerhalb von Vancouver gehabt. In einem Sommer waren wir mit einem Boot ans gegenüberliegende Ufer gefahren und hatten dort im Wasser gespielt, als der Himmel sich auf einmal verdunkelte und Sturmwolken aufzogen.

Wir waren mit Schwimmwesten ausgestattet ins Boot gesprungen und hatten beobachtet, wie der Regen auf den See prasselte und immer weiter auf uns zukam. Meine Eltern hatten uns den ganzen Weg über den See zurück zum Bootsverleih gerudert. Blitz und Donner waren über den Himmel getobt, aber Dad hatte Witze gemacht und Mom sehr falsch gesungen. Jedes Mal, wenn der Wind die Wellen höher schlagen ließ, hatten wir gejubelt. Ich hatte mich an die Holzbank geklammert und war von einer Seite auf die andere gerutscht. Ich war voller Adrenalin gewesen und euphorisch.

Als wir schließlich am Steg anlegten, waren wir komplett durchnässt gewesen. Die Besitzerin des Bootsverleihs hatte uns Handtücher gebracht und war einfach nur erleichtert gewesen, dass wir es unbeschadet geschafft hatten. Angst hatte ich keine empfunden, weil ich einen sicheren Hafen gehabt hatte: meine Eltern.

Inzwischen war mein Herz längst vernarbt davon, wie unsere Beziehung zueinander sich entwickelt hatte, und ich war es so leid, mich zu verstecken. Um alle Leichen in unserem Familienkeller hatte ich allein herumnavigieren müssen, ohne dass meine Mutter mir auch nur irgendwie dabei beigestanden hätte, das Ganze zu verarbeiten und zu trauern. Wenn etwas von diesem sicheren Hafen noch existierte, konnte ich ihr mein größtes Geheimnis anvertrauen und mir sicher sein, dass sie es schützen und hinter mir stehen würde.

Ich beschwor meine Magie herauf, die so lebendig durch meinen Körper kreiste wie mein Blut. Sie floss über meine Haut, bis sie die feste Form meiner Rüstung angenommen hatte.

Das war mein wahres Ich. Das war die Wahrheit, die sich nicht leugnen ließ.

Talia schrie auf, schlug sich eine Hand vor den Mund und machte einen Satz nach hinten, mit dem sie den Stuhl umstieß.

Ich stand auf. »Ich bin eine Jezebel. Meine Magie wurde mir von der Göttin Aschera verliehen, mit dem expliziten Auftrag, die Männer und Frauen der kabbalistischen Organisation Chariot aufzuhalten, deren Ziel es ist, Unsterblichkeit zu erlangen.«

Meine Mutter schüttelte abgehackt den Kopf. »Das ist doch verrückt.«

»Nein. Es ist die Wahrheit, vor der ich dich zu beschützen versucht habe. Die ursprünglichen Zehn, die die Magie in unsere Welt gebracht haben, hatten den ultimativen Betrug geplant. Sie wollten die Vereinigung mit yechida , nicht durch Studium und Glaube, sondern durch Magie. Auf diese Weise wollten sie unsterblich werden. Dein toller Isaac ist einer von ihnen, und ich bin die Einzige, die sie aufhalten kann. Wenn es darum geht, welche von uns ihr Lebenswerk aufgeben muss, du oder ich? Dann werde ich alles tun, um meine Magie, mein Geheimnis und meine Bestimmung zu schützen.«

»Du klingst wie die Familie deines Vaters. Du bist keine heilige Kriegerin auf einer eingebildeten Mission.«

»Nichts davon ist eingebildet, Mutter.« Mrs Hudson drängte sich gegen mein Bein, und ich nahm sie hoch. Meine Rüstung verschwand. »Ich bin immer noch Ash. Immer noch deine Tochter. Ich folge nur einem Schicksal, das ich nie gewollt habe.« Ja, es war gemein, aber ich konnte mir nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Jezebel-Magie wird durch die mütterliche Linie weitergegeben, ebenso wie die Zugehörigkeit zum Judentum.«

Talia sah aus, als wäre ihr schlecht. »Dein Vater. Hatte er auch etwas damit zu tun?«

»Ja.« Ich erwartete, dass sie weiter nachhakte, mehr wissen wollte.

Doch sie wurde leichenblass und schnappte sich ihre Handtasche. »Ich … ich kann das nicht.« Damit rannte sie aus meinem Büro und schlug die Etagentür hinter sich zu.

Ich vergrub das Gesicht in Mrs Hudsons Fell und seufzte zittrig. War ich zu harsch gewesen? Hätte es eine bessere Art gegeben, es ihr zu zeigen? Ich beobachtete durchs Fenster, wie Talia zu ihrem Auto eilte. Sie musste dreimal auf den Schlüssel drücken, um die Tür zu öffnen, und fluchte schließlich laut genug, dass ich es bis hier oben hörte.

Unzählige Selbstvorwürfe schossen mir durch den Kopf. Ich könnte ihr immer noch folgen und versuchen, sie zu beruhigen, bevor sie sich hinters Steuer setzte. Doch dann sah ich wieder das Bild vor mir, wie die Königin über Isabels Haare strich, und schloss meine Bürotür leise, aber nachdrücklich.

Rafael, Isaac, meine Mutter … Es braute sich wieder ein Sturm zusammen. Dieses Mal wurde er nicht von Wolken angekündigt, und es lag keine elektrische Aufladung in der Luft, unter der sich die Haare auf meiner Haut aufstellten, doch das Gefühl war ebenso drückend. Er würde losbrechen – und zwar bald.

Wo war mein sicherer Hafen jetzt?