»Warum hat er wieder Hörner?«, fragte ich Miles flüsternd.
Rafaels Augen funkelten rot, und ein leises Grollen drang tief aus seiner Brust. Er schlug ein paarmal mit der Faust gegen die Gitterstäbe, bis ihn die Kraft verließ und seine Augen wieder schwarz und klar wurden. Seine Nase war breiter geworden und hatte nun Ähnlichkeit mit den Nüstern einer Ziege. Er hatte sich die Haare mit den Fingern nach vorn gekämmt, um die Hörner zu verbergen, sah dadurch jedoch aus wie ein Nerd-Dämon, der von den cooleren Dämonen gemobbt wurde. Der viel zu große Trainingsanzug mit House-Logo verstärkte diesen Eindruck nur noch.
Miles schüttelte den Kopf. »Das sollte gar nicht möglich sein. All seine Magie müsste unterdrückt werden, auch das, womit er sich infiziert hat.«
Ich deutete auf die Blutflecken an den Gitterstäben, gegen die Rafael gewütet hatte. »Ich werde einen Kerl mit Barriere-Magie anrufen.«
»Wie soll uns das helfen?«
»Ich sehe mich als Teil der Nefesh-Gemeinschaft, aber eigentlich bin ich das nicht und Rafael auch nicht. Unsere Magie stammt aus einer anderen Quelle.«
Miles sah stirnrunzelnd auf die Textnachricht, die er gerade bekommen hatte, und tippte eine kurze Antwort. »Ja, das weiß ich. Und?«
»Die Neutralisierung sollte bei uns eigentlich funktionieren, aber weil Rafaels Aschera-Magie momentan mit diesen vielen Schichten von Nefesh-Fähigkeiten vermischt ist, ist alles wesentlich komplizierter geworden. Willst du dich darauf verlassen, dass die physischen Sicherheitsmaßnahmen ausreichen, um ihn eingesperrt zu halten, wenn die Magieunterdrückung in der Zelle den Geist aufgibt? Wir brauchen zusätzlichen Schutz, auch damit ich mehr Zeit habe, um eine Lösung zu finden.«
Miles rieb sich über den Nacken. »Warum ist der Kerl besser als die Leute, die ich herholen könnte?«
»Er hat diesen Schlamassel mit verursacht, und er hat die Fake-Gott-Manifestation schon mal eingeschlossen.«
Erst schien es, als wollte Miles jemanden aus seinem eigenen Team rufen, doch dann steckte er das Handy wieder ein. »Mach.«
Ich ging auf den Gang und suchte den Kontakt in meinem Telefonbuch.
»Hallo, Gabriel«, begrüßte ich ihn. »Ich bin’s, Ashira.«
»Die Frau mit dem göttlichen Namen.« Sein Tonfall glich eher einem Schnurren. »Wie schön, deine Stimme zu hören.«
»Du musst mir einen Gefallen tun.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Ach nein, streichen wir das«, erwiderte ich streng. Diesem Kerl wollte ich sicher nichts schuldig sein. »Das ist kein Gefallen. Du musst herkommen und mithelfen, das wieder geradezurücken, was ihr so grandios verbockt habt. Wenn du dich weigerst, bekommst du meinen Zorn zu spüren.«
»Das wäre vielleicht gar nicht so schlimm«, meinte er lachend.
Ich schüttelte mich. Ihm stand sexuelle Belästigung praktisch auf der hübschen Stirn geschrieben. »Wäre es doch, glaub mir. Beweg dich hierher, und zwar schnell.« Ich sagte ihm, wo er sich melden sollte, und legte auf.
Arkady war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um den letzten Teil des Gesprächs mitzubekommen. »Sag mir bitte, dass du nicht den Covermodelverschnitt angerufen hast.«
»Der Covermodelver… Ich meine, Gabriel hat für uns nützliche Fähigkeiten. Hast du meinen lieben Großvater schon gefunden?«
»Nein. Er ist spurlos verschwunden.«
»Der vierzehnte Juni …«
»Ist in weniger als einer Woche. Ich weiß.«
Ich tätschelte Arkady die Schulter, was mir ein dankbares Lächeln einbrachte. Sein Geständnis hatte mir wehgetan, aber damit war nun auch die eiternde Wunde seines Verrats aufgestochen.
Wir setzten uns und beschäftigten uns mit unseren Handys, um die Wartezeit zu überbrücken. Dabei gaben wir uns Mühe, nicht alle paar Sekunden zu Rafael rüberzuschauen.
»Oh liebreizende Jezebel, hier bin ich.« Gabriel rauschte in den Korridor. Er trug ein silbernes Hemd, das so stark metallisch schimmerte, dass man damit Signale aus dem Weltall hätte empfangen können.
»Was haben wir doch für ein Glück«, murmelte Miles, der Gabriel hereingebracht hatte.
Ich stand auf und zeigte auf den Raum mit der Zelle. »Rafael ist da drin. Mach dich an die Arbeit, ich komme gleich nach.«
Gabriel neigte den Kopf und gehorchte.
Miles deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Hast du vor, wieder dicke mit meinem Freund zu werden?«
»Ja. Was dagegen?«
Er gab einen angewiderten Laut von sich und ging.
»Schaffst du das allein, Pickle?« Arkady nickte in Richtung des Zellenraums. »Ich kann bleiben, wenn du willst.«
»Nicht nötig, aber danke. Ich habe Gabriel im Griff.«
»Darauf hofft er.«
Ich versetzte Arkady einen Stoß mit dem Ellenbogen, doch er zwinkerte nur und schlenderte davon. Lächelnd sah ich ihm hinterher, ehe ich Gabriel folgte.
Rafael versuchte gerade, ihn durch die Gitterstäbe hindurch zu packen. Flammen tanzten über seine Hörner. »Du hast mir das angetan!«
Gabriel scharrte mit einem Ankleboot über den Boden. »Tut mir leid, Bro. Vergeben und vergessen?«
Rafael rammte die Hörner gegen die Gitterstäbe und streckte einen Arm so weit heraus, wie er konnte. Gabriel machte einen Satz nach hinten.
»Hör auf!«, rief ich. »Gabriel ist zu deiner eigenen Sicherheit da.«
Rafael knurrte mich an, zog den Arm aber zurück und atmete ein paarmal angestrengt tief durch, um sich zu beruhigen.
»Danke«, meinte ich und stellte mich an die gegenüberliegende Wand, um nicht im Weg zu sein. »Fang an, Gabriel.«
Levi kam herein, als Gabriel gerade die Zelle abschritt und Rafael erklärte, was er gleich tun würde. Seine Lordschaft lehnte sich neben mir mit dem Rücken gegen die Wand. »Ich habe gehört, dass du dir Sorgen um die Neutralisierungsfähigkeiten der Zelle machst. Hast du dein Groupie hergeholt, um an seinem Hemd auszuprobieren, ob die Neutralisierung noch funktioniert?«, fragte er grinsend.
»Eigentlich teste ich seine Kräfte«, erwiderte ich so leise, dass Gabriel uns nicht hörte. »Man weiß nie, wann mal wieder jemand die Biege macht und es plötzlich einen freien Platz in Team Jezebel gibt.«
Levi richtete seine Manschettenknöpfe, und mein Blick blieb an seinen Oberarmen hängen. »Ich weiß nicht, wie du auf die Idee kommst, dass er mich jemals ersetzen könnte. Dass ich unsere Zusammenarbeit beenden wollte, war eine Kurzschlussreaktion und nur so dahergesagt. Als dein Ex kann ich nachvollziehen, dass du mir eins auswischen willst, indem du was mit diesem Boyband-Verschnitt anfängst, aber als Hausoberhaupt garantiere ich dir, dass er sehr schnell die Bedeutung des Worts ›ersetzbar‹ erfahren wird, wenn du versuchst, ihn ins Team zu holen.«
Seine Stimme strich wie eine seidige Liebkosung über meine Haut. In diesem Ton sprach er ganz sicher nie mit Miles. Meine Nippel zogen sich zusammen, was mich die Arme vor der Brust verschränken ließ – und die Beine überkreuzte ich zur Sicherheit gleich mit. Nur weil wir bei dem Golf-Event gut zusammengearbeitet hatten und das auch noch Spaß gemacht hatte, waren wir noch lange nicht die Art Ex-Freunde, die miteinander flirten konnten.
»Ich esse keine von deinen Keksen mehr«, sagte ich.
Levi lachte erstickt. »Was?«
»Du hast mich schon verstanden.«
»Ich bin bereit«, verkündete Gabriel und band sich die Haare zu einem Knoten zusammen.
»Damit kann er sich besser konzentrieren«, meinte Levi.
Ich weigerte mich zu lächeln.
Gabriel brauchte nur ein paar Minuten, um seine Barriere-Magie auf die Zelle anzuwenden. Die ganze Zeit über summte Levi »Bye Bye Bye« von *NSYNC vor sich hin.
»Du bist nicht so witzig, wie du denkst«, sagte ich.
»Das sehe ich anders«, gab Levi mit einer überheblichen Kopfbewegung zurück. »Glaubst du, dass er eine spezielle Choreografie hat?«
Ich stieß mich von der Wand ab, die Lippen fest aufeinandergepresst. Es wäre fürchterlich unprofessionell, darüber zu lachen, und genau deswegen war es auch so schwierig, das nicht zu tun.
Rafael konnte sich immer noch frei in der kompletten Zelle bewegen, aber als er versuchte, die Hände durch die Gitterstäbe zu stecken, hielt ihn eine unsichtbare Barriere auf, die kleine Funken sprühte.
»Dann bin ich also vollends sicher verwahrt«, meinte er.
»Und du hast keine Hörner mehr.« Gabriel ließ die Fingerknöchel knacken. »Ich habe euch ja gesagt, ich sollte auf Level fünf hochgestuft werden.«
Mein Sekretär verdrehte die Augen wie ein Teen-Influencer, während Levi ein Grinsen aufsetzte, das ganz klar »Du kannst es ja mal versuchen« sagte.
»Wir holen dich so schnell wie möglich da raus«, versicherte er Rafael.
Der seufzte. »Den Kopf nicht hängen lassen und so, ich weiß. Danke, Levi.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun, wunderprächtigste Ashira?« Gabriel zog das Zopfgummi mit einer dramatischen Geste aus seinen Haaren und schüttelte die langen Wellen aus.
Levi schnaubte und formte mit den Lippen »Choreo«.
Ich trat ihm auf den Fuß. »Nein. Das ist alles.«
»Ich esse gerne was, wenn ich so viel Energie freigesetzt habe, wenn du weißt, was ich meine«, sagte Gabriel.
Wenn du mit »Energie« Geschwätz meinst, dann ja.
»Um die Ecke gibt es einen Sandwich-Laden«, meinte Levi. »Probier mal das Corned Beef. Unsere liebe Ash hier muss jetzt leider wieder an die Arbeit.« Er winkte Gabriel zu. »Bye, bye, bye.«
Rafael »hustete«, woraufhin ich ihn böse anstarrte.
»Ein andermal.« Gabriel warf mir noch einen glutvollen Blick zu und ging.
Rafael legte sich auf seine Matratze und starrte an die Decke. Mit ihm zu reden, brachte nichts, solange ich keine Hoffnung auf ein Heilmittel mitbrachte.
»Ash …«, setzte Levi an.
Mein Handy vibrierte. »Warte einen Moment.«
Alfie hatte mir eine Nachricht geschickt. Laut seiner Mutter war der Kuss des Todes vor sechzig Jahren mal kurz aufgetaucht, als er sich im Besitz einer reichen französischen Philanthropin namens Avril de Leon befunden hatte. Mit ihr war auch das Wissen um den Ort, an dem er sich befand, gestorben.
Aber stimmte das wirklich? Der Tod war nicht so endgültig, wie ich immer gedacht hatte.
Alfie schrieb weiter, dass seit Kurzem wieder mehr Interesse an dem Amulett gezeigt wurde. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich musste Chariot einen Schritt voraus sein und es zuerst finden.
Levi und ich verabschiedeten uns von Rafael und verließen den Raum. Ich wartete auf ein Zeichen, dass wir fertig waren, doch Levi stützte sich mit einer Hand über meinem Kopf an der Wand ab.
»Du weißt, dass ich dir vertraue«, sagte er. »Gib mir eine Chance, dein Vertrauen wiederzugewinnen. Lass mich an deiner Seite kämpfen.«
»Woher der Sinneswandel?«
Er schenkte mir ein schiefes Grinsen. »Wenn man den Kopf in den Sand steckt, ist die Aussicht echt bescheiden. Du meintest, dass ich mir an meiner Mutter ein Beispiel nehmen und mir die Kontrolle von Isaac zurückholen soll. Einer von vielen weisen Ratschlägen, die ich in letzter Zeit von dir bekommen habe.«
Er hatte tatsächlich zugehört und verinnerlicht, was ich ihm erklärt hatte. Das war ein Riesenschritt. Nicola hatte mich um Hilfe gebeten, also würde ich das hier als Teil ihres Auftrags verbuchen und seinen Vorschlag als Friedensangebot eines Teammitglieds annehmen.
»Verschaff mir ein Treffen mit Jonah Samuels«, sagte ich.
Er blinzelte ein paarmal. »Ich war auf so einige Wünsche eingestellt, aber der war nicht dabei. Er ist …«
»Ein älterer Kerl. Ziemliches Arschloch.« Ich duckte mich unter seinem Arm weg. »Aber was am wichtigsten ist: Er ist echt dicke mit den Toten.«
»Und unpraktischerweise sitzt er im Gefängnis.« Levi ließ den Arm sinken, und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. »Wofür brauchst du ihn?«
»Ich würde ihn gerne nach dem Kuss des Todes fragen.« Ich erzählte Levi alles über das Amulett und meinen noch etwas unklaren Plan. »Isaac sucht danach. Und, hm, na ja, er weiß über mich Bescheid. Dass ich eine Jezebel bin und so.«
Die Welt explodierte nicht und zerbrach auch nicht in Scherben. Levis Körperhaltung wirkte so steif, dass er vielleicht zerbersten würde, wenn ich ihn gegen etwas Hartes schubste. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt, doch er verlor nicht die Beherrschung. Der Knoten in meiner Brust lockerte sich ein wenig.
»Jonah wartet auf seinen Prozess«, sagte er. »Nekromantie ist illegal, und da Mayan eine Kronzeugin ist, muss ich aufpassen, dass ich mich nicht in einem Interessenkonflikt wiederfinde.« Er presste die Lippen aufeinander. »Mir wäre es lieber, wenn wir ihn wegen versuchten Mords drangekriegt hätten.«
Wir hatten entschieden, meine Stippvisite in Scheol aus den Anklagepunkten rauszulassen, weil meine Flucht eine zu gefährliche Büchse der Pandora war, als dass sie jemand von uns in irgendeiner Akte dokumentiert haben wollte. Jonah dachte also, dass er mit dem Mord an mir davongekommen war.
»Dann ist das ein Nein?«, fragte ich.
Levi schritt langsam den Korridor hinunter und wieder zurück. »Wirst du mir eine Chance geben?«
»Mein Vertrauen wiederzugewinnen?« In seinen blauen Augen brannte ein heißes Feuer.
»Ja.«
Ich lockerte meinen Kragen mit einem Finger. In der Jahrmarktepisode war Levi derjenige gewesen, der für uns hatte kämpfen wollen, wohingegen dieser Levi in kurzer Zeit zu mehreren Erkenntnissen gekommen war, die alles veränderten.
Gehörte ich dazu? Konnte ich ihm wieder vertrauen? Ich biss mir auf die Unterlippe. Mein Vertrauen verschenkte ich ungefähr so freigiebig wie meine Liebe – ein bisschen seltener, als ein Schneesturm die Hölle zufrieren ließ –, und Levi hatte bereits beides zerstört und weggeworfen.
War das wieder so eine Situation, in der ich mich in ein komfortables Verhaltensmuster zurückzog? Indem ich Menschen nur eine einzige Chance gab und ihnen nie verzieh, wenn sie auch nur einen Fehler machten, egal, aus welchem Grund sie es taten oder wie gut sie sonst waren?
»Ja, werde ich«, sagte ich.
Levis Nicken wirkte beinahe überrascht. »Na gut. Ich werde ein paar Strippen ziehen.«
Bitte, lass mich das nicht bereuen.
»Ich gehe dann mal.« Ich verließ das House, ohne mich noch mal umzudrehen, und fragte mich dabei, ob so etwas wie ein Neubeginn zwischen uns überhaupt möglich war.
Draußen angekommen schaute ich an dem in Mondlicht getauchten Gebäude hoch. Da war ein hauchdünner pink-orangefarbener Streifen in dem Dunkelrot zu sehen, fast wie ein Lächeln.
Ich berührte ihn mit einer Hand. Na gut.