KAPITEL 19

Als ich zwanzig Minuten später wieder vor Rafaels Zelle stand, war ich um eine Packung Mint-Chocolate-Chip-Eis und zwei Plastiklöffel reicher. Die normale Neutralisierungsmagie wirkte auch bei mir, aber Gabriels Barriere-Magie war nur auf Rafael abgestimmt und verhinderte, dass er durch die Gitterstäbe greifen konnte.

Ich setzte mich neben dem Gitter auf den Betonboden und hielt einen der Löffel in die Zelle. »Es sei denn, dir ist eine Portion gesundes Müsli lieber?«

Rafael seufzte niedergeschlagen, nahm dann aber im Schneidersitz auf der anderen Seite der Metallstäbe Platz und griff nach dem Löffel. »Priya hat mich besucht«, erzählte er. »Sie hat mir angeboten, sich um Gavriellas Grab zu kümmern, solange ich hier drin bin.«

»Das war nett von ihr.« Ich schloss die Zellentür mit dem Schlüssel auf, den Miles mir gegeben hatte, stellte die Eispackung hinein und setzte mich dann wieder auf meinen Platz. Die Erinnerung an die gefolterte, verletzte Gavriella, die in meinen Armen starb, überwältigte mich. Mich überkam das gruselige Gefühl, dass ich vielleicht nicht mehr gehen würde, wenn ich ihr Grab erst einmal besuchte.

Ich holte mir einen Löffel voll Eis durch die Stäbe und genoss den kühlen Minzgeschmack, während ich mich auf die schmelzenden Schokostücke auf meiner Zunge konzentrierte anstatt auf mein vorzeitiges Ableben. »Hältst du noch durch?«

»Kommt drauf an. Wie nah bist du daran, mich hier rauszuholen?«

Ich erklärte ihm Lux’ Filter-Theorie. »Ich habe nur noch nicht den richtigen gefunden.«

»Dann drehe ich langsam durch.« Er schaufelte ein gewaltiges Stück Eis aus der Packung und stopfte es sich in den Mund.

»Fällt dir was dazu ein?«

»Nein.«

Ich schabte über eine noch sehr feste Stelle im Eis. Als Rafael wütend über die Auswirkungen gewesen war, die es gehabt hatte, dass ich seine Magie anzapfte, hatte er sich durchgebissen. Er hatte versucht, eine andere Lösung für den Umgang mit meiner Sucht zu finden, hatte an der Entschlüsselung des Codenamens gearbeitet und mich auf der Jagd nach dem vierten Bruchstück begleitet, damit er es in Gewahrsam nehmen und meine Symptome damit abmildern konnte.

Diese Seite an ihm, der Rafael, der aufgegeben hatte, machte mich fertig. Erst Levi, jetzt er. Zwei starke, selbstbewusste Männer der Tat, die sich geschlagen verkrochen. Levi hatte offenbar ein neues Kapitel begonnen, doch was war es, das Rafael daran hinderte, sich wieder aufzuraffen?

»Genug im Selbstmitleid gebadet«, sagte ich. »Konzentrier dich auf das Ziel. Du bist ein Kämpfer und genauso ein Sucher nach Antworten wie ich. Außerdem kennst du deine Magie am besten. Was könnte ich nutzen, um sie von der Nefesh-Magie zu trennen?«

Er riss sich am Riemen, aber letzten Endes kamen wir keinen Schritt weiter. Rafael ließ den Löffel mit hängenden Schultern in die Eispackung fallen.

»So schlecht sieht es doch gar nicht aus«, meinte ich. »Ich habe vielleicht den Kuss des Todes gefunden. Er hat einem Mitglied von Chariot gehört. Und ich habe den Namen eines anderen Manns, der möglicherweise einer der Zehn ist. Misha Ivanov.«

Ich zückte mein Handy und führte eine kurze Suche in einigen der Privatdetektiv-Datenbanken durch, auf die ich Zugriff hatte. Es gab mehrere Mikhail Ivanovs, aber der einzige, der in die entsprechende Altersgruppe passte, war vor Kurzem verstorben. Eine Todesursache wurde nicht genannt. Ich schlug mit der flachen Hand auf den Boden. »Verdammt. Wenn er das war, ist es eine Sackgasse.« Wenn ich den richtigen Misha gefunden hatte, war er schon ersetzt worden? Und was war mit Deepa und Theresa?

Egal, von wie vielen Menschen Chariot aktuell geleitet wurde, ich hatte mich inzwischen zu sehr daran gewöhnt, sie die Zehn zu nennen, um das jetzt zu ändern.

»Warst du in der Bibliothek?«, fragte Rafael.

»Da ist alles in Ordnung. Glaubst du, dass Chariot weiß, dass du mein Sekretär bist?«

»Natürlich. Sie wussten, dass mein Vater Gavriellas war und wie die Kräfte weitergegeben werden.«

»Warum haben sie nie versucht, dich zu erwischen, um herauszubekommen, wo sich die Bibliothek befindet?«

»Wozu? Um es aus mir rauszufoltern? Das hat schon bei meinem Vater nicht funktioniert.« Er rammte den Löffel ins Eis. »Wir Sekretäre sind sehr schwer zu knacken.«

Shit. War sein Vater so gestorben? Ich griff durch die Gitterstäbe und drückte Rafaels Bein. »Es tut mir so …«

»Kümmer dich lieber um dich selbst«, sagte er. »Sie brauchen schließlich dein Blut, um in die Bibliothek zu gelangen, wenn sie sie erst gefunden haben.«

»Was das angeht …«

Rafael sah aus, als würde ihn jeden Moment der Schlag treffen, als ich ihm von meiner Entführung erzählte.

Ich wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. »Ist dein Mangel an Gesichtsfarbe Theresa, dem Kühlraum oder der Tatsache geschuldet, dass die Königin von der Bibliothek weiß?«

»Du hättest sterben können, Ashira. Ich hätte auf dich aufpassen müssen. Die Situation ist gefährlicher als je zuvor, und ich bin nichts als eine Last.«

»Denkst du das wirklich?«

»Siehst du einen Beweis für das Gegenteil? Ich habe die Gigis unterschätzt, und jetzt sitze ich in diesem Käfig fest, während du mich brauchst.« Er schlug mit der flachen Hand gegen die Gitterstäbe.

Ich warf meinen Löffel nach ihm und traf ihn an der Wange. Der Löffel prallte ab und landete in der Eispackung. Zehn Punkte.

Rafael wischte sich mit finsterer Miene das geschmolzene Eis vom Gesicht.

»Erstens: Lass den beleidigenden Spitznamen weg«, sagte ich. »Sie sind Ascheras Gläubige.«

»Du bist ja inzwischen ganz schön dicke mit den Leuten, die mir das hier angetan haben, was?«, fragte er bitter.

»Ja. Wir knüpfen Freundschaftsbändchen miteinander. Ich heiße ihre Taten nicht gut, aber Lux hat sich diesen ganzen Plan mit Baal ausgedacht, weil ihre Frau unheilbar an Krebs erkrankt ist und Gavriella wirklich arschig zu ihr war, als Lux sie um Hilfe bei der Beschwörung der Göttin gebeten hat.«

»Niemand weiß, wie man Aschera beschwören kann«, meinte Rafael.

»Sei kein Esel. Jedenfalls, zweitens: Ich habe dir das schon mal gesagt, als du durchgedreht bist, weil du bei der Magieanzapfungssache einen Ständer bekommen hast, aber du bist offensichtlich zu stur, um es zu glauben: Niemand erwartet von dir, unfehlbar zu sein. Hast du eigentlich eine Ahnung, welchen Druck dein Perfektionismus auf mich ausübt, weil ich dem dann auch gerecht werden muss? Alter.«

Rafael lächelte schief. »Das hat Priya auch gesagt.«

Er hatte mit ihr ein richtiges Gespräch über Gefühle geführt? Interessant. »Dass du nicht permanent Mr Verantwortlich sein musst und dich auch mal auf andere verlassen kannst?«

»Dass du nie ein perfektes Vorzeigemodell wirst.«

»Haha.«

»Aber es geht nicht um Perfektion.« Er stand auf und strich die Decke auf seiner Matratze glatt, weil die sauber gesteckten Ecken offenbar noch nicht ordentlich genug waren. »Es geht um Entscheidungen. Unsere gemeinsame Reise war bis jetzt ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber bei jedem Schritt habe ich Entscheidungen getroffen, zu denen ich stehe. Eingesperrt zu sein, hat mir eine Menge Zeit zum Nachdenken verschafft, und ich kann mir jetzt einfach keine Entscheidung vorstellen, die etwas an meiner Situation ändert. Ich fühle mich machtlos.«

»Du bist wütend.«

»Wärst du das nicht?« Er schnaubte. »Bist du momentan nicht ständig wütend?«

»Das war ich.« Ich schlang die Arme um meine angezogenen Knie. »In den letzten Tagen ist aber viel passiert

Rafael schob eine Ecke der Decke unter die Matratze. »Womit hast du die Wut ersetzt?«

»Unsicherheit? Angst?« Ich dachte an Levi. »Fehlgeleitete Hoffnung? Ich sage es dir, sobald ich es weiß. Ich habe mich so lange immer für die Wut entschieden, aber ich stehe auf der anderen Seite dieser Zelle und … Keine Ahnung, auf eine gewisse Art fühle ich mich bei dem Gedanken an meine nächsten Entscheidungen genauso machtlos wie du. Vielleicht haben wir gerade einfach nur die Wahl, weiterzumachen.«

Nachdem seine Bettstatt nun seinen Vorstellungen entsprach, setzte er sich darauf und gab mir meinen Löffel zurück. »Habe ich wirklich versucht, ein Reh zu essen?«

»Ja. Es war ziemlich, hm …«

»Beeindruckend?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Verstörend.«

Rafael rieb sich mit einer Hand übers Kinn. »Nachdem wir schon dabei sind, so offen miteinander zu reden, sollte ich dir wohl noch etwas gestehen. Die Wut, die dieser übernatürliche Eindringling mitgebracht hat, ist immer schwerer zu kontrollieren. Eigentlich ist es inzwischen sogar nahezu unmöglich. Selbst mit der Zelle und den Schutzzaubern habe ich Angst, dass ich mich mit der Zeit in der Wut verlieren werde.« Er lächelte traurig. »Das sind keine guten Aussichten für deine Genesung, wenn du erst das Sefer zerstört hast.«

Der Löffel zerbrach zwischen meinen Fingern. »Das ist es!«

»Was ist was?«

»Die Gefahr, die vom Sefer ausgeht.« Ich sprang auf. »Rafael, mein brillanter Sekretär, du hast mir vielleicht das Heilmittel geliefert. Ich bin bald wieder da. Versprochen.«

»Warte!« Er schlug gegen die Gitterstäbe, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, bevor ich aus dem Raum rannte. »Besorg mir einen Laptop. Lass mich Informationen über Theresa zusammentragen.« Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit klang er aufgeregt.

»Alles klar.«

Im Gang winkte Miles mich zu sich heran. »Komm mit.«

Ich schüttelte mich dramatisch und gab ihm den Zellenschlüssel zurück. »Ooh, so befehlsgewohnt. Könntest du deine Dominastimme auch für was Nützliches einsetzen und Rafael einen Laptop verschaffen?«

Miles warf mir seinen patentierten Blick zu, der ausdrückte, wie nervig er mich fand, und den ich inzwischen fast schon mochte. Aber er blieb kurz bei der Wache stehen und tat, worum ich ihn gebeten hatte.

Der Teil des Kellers, in den wir nun gingen, wurde auch von der Nefesh-Polizei genutzt, und Miles nickte ein paar der Cops grüßend zu. »Der Mann, der Levi und dich beim Golfturnier angegriffen hat, heißt Billy Chesterman, und Wu hat ihn nicht angeheuert. Das war Olivia.«

»Sag das noch mal. Hatte die Frau ein Faible für zwielichtige Nefesh?«

Miles grinste tatsächlich. »Billy und Oliva kannten sich, weil sie seine Mentorin im Gefängnis war. Sie hat Inhaftierten die Grundlagen der Buchhaltung und Buchführung beigebracht.«

»Nefesh-Häftlingen?«, fragte ich.

»Ein paar. Wir haben das Mentorenprogramm unter die Lupe genommen, da ist alles sauber.«

»Wurde Billy für Wus oder für Olivias Schutz eingestellt?«

»Beides?« Miles zuckte die Schultern. »Chesterman wusste nur, dass Olivia sich Sorgen gemacht hat, dass Luca Bianchi es auf Wu abgesehen haben könnte, nachdem der einen Deal versaut hat. Hätte die Polizei angefangen zu ermitteln, hätte es schlecht für sie ausgesehen. Wu wusste nicht mal, dass Chesterman ein Auge auf ihn hatte.«

»Dann hat Wu Levis Illusion von Luca wirklich nicht erkannt. Verdammt.« Ich drückte auf den Aufzugknopf. »Er hat einen Deal versaut, hm?« Ich kratzte mich am Kopf. »Das bedeutet, dass die Geldwäsche nicht Wus Idee war. Verflucht, ich war auf der falschen Spur.«

»Jep.« Miles grinste breiter, woraufhin ich ihm den Mittelfinger zeigte. »Ich vermute, dass Wu nach Friedens Tod davon erfahren und dass er Olivia Dawson gezwungen hat, die Sache zu beenden«, fuhr er fort. »Sein Hass auf die Nefesh wäre auf jeden Fall groß genug.«

Weil ich mich so viel mit Chariot beschäftigte, verdächtigte ich inzwischen alle und jeden, ein geheimes Doppelleben zu führen. Doch wie es aussah, war Wu genau der, als der er auftrat. Unglücklicherweise.

»Da ist noch die Sache mit Olivias Versicherung«, meinte ich. »Sie hat etwas in diesem Kassenbuch dokumentiert.«

»Darüber wusste Chesterman auch nichts.« Miles ließ mich als Erste in den Aufzug steigen, wo ich den Knopf für die Ebene der Tiefgarage drückte.

»Moment mal. Als ich Isabel meine Frage gestellt habe, habe ich die Geldwäsche nicht explizit erwähnt, sondern wollte wissen, ob Olivia irgendwelche illegalen Aktivitäten von Wu dokumentiert hat. Wenn es also nicht um die Geldwäsche ging, dann bezieht sich das, was mir gezeigt wurde, auf irgendwas anderes.«

»Dieses Etwas war schlimm genug, dass Olivia die Informationen codiert hat«, sagte Miles.

Ich rieb mir die Hände. Dieser Fall fing an, Spaß zu machen. »Wo ist Billy jetzt?«

»Wir haben ihn laufen lassen. Er wusste nicht viel, und wir hatten nichts, um ihn festzuhalten.«

»Habt ihr das Kassenbuch schon gefunden?«

»Möglicherweise. Wir haben das Unternehmen ermittelt, das für die Allegra Group alte Unterlagen einlagert, aber der Bau ist gesichert wie Fort Knox. Und es gibt Schutzzauber, also können wir uns nicht reinteleportieren. Wir arbeiten daran.«

»Schick mir alles, was du darüber hast. Vielleicht finde ich was, was ihr übersehen habt.«

Der Aufzug kam mit einem sanften Ruck zum Stehen, und die Türen glitten auf.

Miles legte die Hand dazwischen, damit sie sich nicht gleich wieder schlossen. »Mache ich.«

»Im Gegenzug brauche ich die Engelsfeder. Sofort.«

Man musste Miles zugutehalten, dass er nicht direkt in die Luft ging und ablehnte. »Warum?«

»Ich muss Rafael heilen.« Wir brauchten keinen Filter, sondern einen Katalysator. Ich konnte Rafaels Magie nicht zerstören, aber ich konnte sie ihm beinahe vollständig entziehen. Wenn ich das schaffte, ohne ihn dabei umzubringen, sollte seine Magie frei von dem Baal-Untermieter sein, sobald sie sich wieder erneuert hatte.

Das einzige Problem an der Sache: Ich konnte nicht einfach so auf seine Magie zugreifen. Das hatten wir vor etwa einem Monat ausprobiert. Rafael hatte gehofft, dass wir das Sefer Raziel HaMalakh nach seiner Vervollständigung unter kontrollierten Bedingungen zerstören konnten, wenn ich ruhig und entspannt war. Die Idee war, dass ich Rafaels Heilmagie aufnahm, bevor ich mich mit dem Sefer beschäftigte, um gesättigt und ohne extremes Verlangen zu arbeiten, anstatt von vornherein panisch und gefährdet zu sein.

In der Bibliothek hatte Rafael mir einige Meditationstechniken gezeigt, und als ich gelassen und entspannt gewesen war, hatte er sich in den Arm geschnitten, damit ich Zugriff auf seine Magie hatte. Dann hatte er die Säulen absenken und den Duft der vier Bruchstücke auf mich loslassen wollen, damit wir sahen, wo wir standen.

So weit waren wir allerdings nicht gekommen. Ich hatte seine Magie einfach nicht packen können, sie hatte mich jedes Mal auf Abstand gehalten. Daraus schloss Rafael, dass die Gefährdung der Jezebel der Auslöser dieses speziellen Heilungsprozesses war. Deswegen brauchte ich nun die Engelsfeder für meinen Plan.

Miles drückte einen eingehenden Anruf auf seinem Handy weg. »Bist du dir sicher, dass das klappt?«

Ich verließ den Aufzug. »Wenn man bedenkt, wie stichhaltig die entsprechenden wissenschaftlichen Studien sind und wie oft dieses Verfahren in der Vergangenheit schon funktioniert hat? Klar doch.«

»Ich bekomme die Feder frühestens am Samstag«, erwiderte Miles. »Sicherheitsvorschriften.«

»Ich nehme, was immer ich kriegen kann.«