Abgesehen von seiner noch immer erschöpften Magie war mein Sekretär vollständig wiederhergestellt und sehr erpicht darauf, alles über sein funkelnagelneues Accessoire herauszufinden, was es herauszufinden gab. Und er landete einen Volltreffer mit der Entdeckung, dass Theresa Magnon ihre Position im Kreis der Zehn von ihrem Großvater Misha Ivanov geerbt hatte.
Levi plante, sich allein mit seiner Mutter zu treffen, um ihr vorzuschlagen, bei ihm einzuziehen. Priya half ihm dabei, sich einen Überblick über die Finanzen seines Vaters zu verschaffen, die offiziellen genauso wie die inoffiziellen, um abzuschätzen, was Nicola zustand. Außerdem kümmerte er sich um potenzielle Scheidungsanwälte.
Wir hatten beschlossen, dass wir ihr nicht erzählen würden, worum es sich bei der bamah tatsächlich handelte, damit sie sich nicht versehentlich selbst verraten konnte. Dadurch fiel Levi die Aufgabe zu, sie davon zu überzeugen, dass es nichts war, wovon sie die Hälfte bekommen konnte. Und sie durfte nicht damit prahlen, dass sie Isaacs Pläne vereitelt hatte. Er sollte schön denken, dass das alles mein Werk war.
Lux rief mich an, um sich nach Rafaels Zustand zu erkundigen, und war sehr erleichtert, dass er von der Nefesh-Magie befreit war. Damit waren wir schon zu zweit. Ich riet ihr dringend, die anderen Gläubigen über Chariots Angriff auf mich zu informieren. Eigentlich glaubte ich nicht, dass sie Lux und ihren Freunden etwas antun würden, aber wenn sie wussten, dass wir in Kontakt standen, und dachten, dass sie die Leute irgendwie gegen mich verwenden konnten …
»Verzweifelte Menschen tun verzweifelte Dinge«, meinte Lux trocken. »Ich lass es die anderen wissen. Und Ash? Wenn du uns brauchst, sind wir da. Wir alle dienen der Göttin gemeinsam.«
Nach dieser unerwarteten, aber willkommenen Geste konnte ich meine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Sonntagsgottesdienst in der Kirche Vom Heiligen Geist widmen, den ich dafür nutzen wollte, einen Beweis zu finden, dass die Notunterkunft Nefesh-Teenager an Chariot ausgeliefert hatte.
Ich entschied mich für eine züchtige Aufmachung in Form eines wadenlangen Kleids mit langen Ärmeln und Blumenmuster, das noch von irgendeinem von Talias Events stammte. Abgerundet wurde mein Outfit von einer kleinen Perlenkette und einem Haarknoten, den ich mit mindestens zehn Haarnadeln feststeckte. Mistige, piksige Folterinstrumente.
Dank eines Staus auf dem Highway schaffte ich es nur gerade so zum Beginn des Gottesdienstes. Ich suchte mir einen Platz in einer der hinteren Reihen, wo mich prompt der schwere Geruch von Weihrauch in der Nase kitzelte.
Seltsamerweise gab es keine Familien unter den etwa dreißig Gläubigen. Es waren ausschließlich Erwachsene, über denen ein spargeldürrer Pastor um die fünfzig thronte. Er hatte einen auffälligen Adamsapfel und eine überraschend melodische Stimme.
Dem Gebäude selbst fehlte jeder Prunk, aber das machte die Fegefeuer-und-Verdammnis-Predigt mehr als wett, die die Anwesenden in Verzückung versetzte. Diesem Glauben haftete nichts Metaphorisches an. Für diese Leute stand nur das Wann des Jüngsten Gerichts infrage, nicht das Ob.
Und wer gehörte zu den Ungläubigen, die es nicht zur Himmelspforte schaffen würden? Alle Nefesh, die er als »abartig« bezeichnete. In seiner Weltsicht gab es keine Gnade und kein Mitgefühl.
Ich klammerte mich krampfhaft an meinem Gebetbuch fest. Vor meinen Augen verschwammen die Worte auf der Seite. Die heuchlerische Diskrepanz zwischen ihren sogenannten christlichen Werten und dem Hass, den es dafür brauchte, ein Jugendzentrum als Fassade zu betreiben, um Magie zu vernichten und diese unschuldigen Kinder zu foltern, widerte mich an.
Nach dem Gottesdienst lud der Pastor alle Anwesenden auf Kaffee und Kuchen in einen kleinen Raum neben der Kapelle ein. Ich nahm mir einen der Styroporbecher und betrachtete die gerahmten Fotos an der Wand. Darauf waren nichtssagende Strände und Sonnenuntergänge zu sehen, über denen Bibelverse standen. Einer der größeren Drucke präsentierte eine längere Passage über einen trotzigen, rebellierenden Sohn. Der Text riet dazu, ihn vor die Tore der Stadt zu führen und zu steinigen, um ihm das Böse auszutreiben. Kam mir ein bisschen extrem vor, passte aber zum Rest ihres Dogmas. Ganz unten auf dem Bild stand auch die Bibelstelle: Deuteronomium 21.
Ich verschüttete meinen Kaffee. Rasch stellte ich den Becher ab und schnappte mir eine Serviette, um mir die Hand abzuwischen. D21. Deepa Anands Firma. Das Deuteronomium stammte aus dem Alten Testament. Gab es ein Aschera-Zitat, das zu D21 passte und belegte, dass Anand eine der Zehn gewesen war?
Ich holte eilig mein Handy aus der Tasche und googelte danach. Ach du … Du sollst keinen Hain von Bäumen pflanzen bei dem Altar des Herrn, deines Gottes, den du dir machst. Deuteronomium 16,21.
Ich spürte eine leichte Berührung an meinem Ärmel und steckte das Telefon hastig wieder ein.
»Ich heiße Sie herzlich bei uns willkommen«, begrüßte mich eine Frau.
»Vielen Dank.« Ich stellte meine monumentale Entdeckung für den Moment zurück und lächelte höflich.
Die Rhetorik dieser Kirche konnte ich rundheraus ablehnen, aber bei den Menschen stellte sich das als schwieriger heraus. Unter denen, die sich mir vorstellten, waren ein Lehrer-Ehepaar, eine Krankenschwester, ein Automechaniker und eine Angestellte des örtlichen Rathauses. Die Kluft zwischen dieser »Normalität« und der extremen Ausprägung ihres Glaubens setzte mir zu. Für sie war die bevorstehende Entrückung so real wie ihre Autos oder das Wetter.
Nach der zweiten Portion von dem köstlichen Apple Pie, die man mir aufgedrängt hatte, lobte ich die Bäckerin Susan, eine sportliche Frau, die sich am Ofen von ihrem stressigen Job als Politesse erholte. Und ich fügte hinzu, dass die Gemeinde sicher stolz auf die gute Arbeit war, die sie mit dem Jugendzentrum leisteten.
Susan schnitt den Rest des Pies in Stücke. »Oh, ja. Diese Kinder sind alle unsere Schäfchen.«
»Aber ihr habt die Tore auch für Nefesh geöffnet. Warum?«, fragte ich.
»Gott hat zu Pastor Nephus gesprochen. Es war nicht an uns, Seine Wünsche zu hinterfragen.« Sie legte das Messer auf einen Pappteller. »Leider hat unsere Einladung negative Folgen gehabt. Die Nefesh-Kinder machten Ärger, und wir mussten die Unterbringung wieder auf Weltige beschränken.«
Aber klar doch. Direkt nachdem die kleine Geheimoperation dichtgemacht wurde und Chariot euch nicht mehr brauchte .
Mittlerweile löste sich die Versammlung langsam auf, darum verließ ich den Raum gemeinsam mit den anderen Kirchgängern. Der Pastor stand an der Tür und schüttelte Hände.
Er umfasste meine mit festem Griff. »Pastor Nephus.«
»Jennifer«, erwiderte ich. »Vielen Dank für den Gottesdienst.«
»Wir sehen hier nicht oft neue Gesichter, aber ich hoffe, dass Sie wiederkommen werden.« In seinen Augen konnte ich keinen Anflug von Wahnsinn erkennen, und er hielt meine Hand auch nicht ungebührlich lange fest. Nichts an ihm wirkte irgendwie verdächtig. Meine Arbeit wäre so viel einfacher, wenn alle schuldigen Menschen sich zwielichtig verhalten würden.
»Da bin ich mir sicher. Ich habe Ihre Predigt sehr genossen«, meinte ich.
Wir tauschten noch einige Höflichkeitsfloskeln aus, bevor ich mich verabschiedete und unter den Augen der verbleibenden Gläubigen davonfuhr. Ich achtete eine Weile lang darauf, dass mir niemand folgte, und bog dann ab, um darauf zu warten, dass die Kirche sich leerte. Eine Stunde später kehrte ich zu dem winzigen Parkplatz zurück, auf dem nun keine Autos mehr standen. Dennoch stellte ich Moriarty ein Stück die Straße hinunter an der Einfahrt eines Nachbarn ab und ging zu Fuß zurück zur Kirche, wobei ich mir Handschuhe und eine Strickmütze überzog.
Die Eingangstüren waren verschlossen, darum kletterte ich auf das Geländer und stützte mich an der Wand ab, um in eins der Fenster zu spähen. Drinnen war niemand, also ging ich zur Rückseite des Gebäudes, wo sich eine weitere Tür befand, ebenfalls verschlossen. Ich manifestierte einen Dietrich und war einen Moment später auch schon drinnen.
Kühle Stille umfing mich. Die einsame Lampe im Gang beschien eine Doppeltür, die zum Hauptraum der Kirche führte, und eine weitere Tür zum Büro des Pastors. Das war mein Ziel.
An der Wand gegenüber dem Schreibtisch hing ein blutender Jesus am Kreuz und seitlich davon ein ziemlich hässliches Gemälde der Entrückung. Einen Laptop fand ich nicht, nur einen Haufen religiöse Texte und ein paar Notizen für den Gottesdienst der kommenden Woche. Der einzige Hinweis auf die Verbindung der Kirche zum Sunshine-Jugendzentrum waren einige Broschüren.
Abgesehen von den Toiletten gab es nur noch eine weitere Tür, hinter der sich eine schmale Kellertreppe verbarg. Ich seufzte. In meinem letzten Keller hatte ein intelligentes Seilmonster gehaust.
Ich schaltete die Stiftlampe ein, die ich in meiner kleinen Handtasche mitgebracht hatte, und stieg vorsichtig die klapprigen Stufen hinunter. Das Auffälligste im Hauptraum war eine Waschmaschine, doch eine Tür gab es noch, hinter die es zu schauen galt.
Jemand berührte sachte meinen Rücken, und im gleichen Moment ging über mir eine Glühbirne an.
»Nefesh!«, schrie der Pastor.
»Ich bin keine …«
»Du hast aus deinem Blut gezaubert.«
Ach, verdammt. Der Dietrich. Ich ging in den Alarmmodus über, jederzeit bereit, meine Magie zur Verteidigung zu nutzen, doch er versuchte nicht, mich zu verletzen, mit Weihwasser zu verbrennen oder sonst etwas.
Stattdessen legte er die Hände zum Gebet zusammen. »Gott hat dich geschickt.«
»Wie bitte?«
Pastor Nephus öffnete die Tür am anderen Ende des Raums. Dahinter kniete eine schlaksige junge Frau in Isabels Alter mit weißblonden Haaren. Ihre Lippen bewegten sich in stummem Gebet. Was zum Teufel …?
Der Pastor legte ihr eine Hand auf den Kopf. »Gott hat uns nicht verlassen. Unsere Gebete wurden erhört.«
Sie hatten keine Waffen, und ich besaß Magie. Da ich nicht in Gefahr schwebte, entschied ich, meine Neugierde zu befriedigen. »Inwiefern erhört?«
»Zeig es ihr, Eve«, forderte der Pastor die junge Frau auf.
Eve starrte ihn verängstigt an. »Aber Dad …«
»Es ist in Ordnung«, unterbrach er sie sanfter. »Zeig es ihr.«
Feuer formte einen Heiligenschein über Eves Kopf. Netter Trick. Zu schade, dass ihr Vater die Selbstbeherrschung nicht zu würdigen wusste, die das erforderte.
»Du hast dein Blut genutzt und die Magie darin verändert«, sagte er. »Tu das Gleiche für meine Tochter. Entfern das Böse aus ihr.«
Eves Flammen erstarben. Sie schlang die Arme um sich, und ich erhaschte einen Blick auf die Narben an ihren Handgelenken unter den langen Ärmeln. Das arme Mädchen. Das Böse hier ging eindeutig nicht von ihr aus.
Ich verpasste Pastor Nephus einen Faustschlag. Er verdrehte grotesk die Augen und brach auf dem Boden zusammen. Eve schnappte erschrocken nach Luft und wich zurück, bis sie gegen die Wand prallte.
Beschwichtigend hob ich die Hände. »Ich werde dir nichts tun, das schwöre ich. Deine Magie ist nichts Schlechtes. Sie ist etwas Wundervolles.«
»Nein!« Feuer breitete sich rasend schnell über ihren Körper aus. »Ich bin böse.«
»Nein, das bist du nicht. Hör zu, ich kann dir etwas geben, das dir die Magie nimmt.«
Das Knistern der Flammen wurde leiser und verstummte schließlich ganz. »Das kannst du?« Die Hoffnung in ihren Augen brach mir das Herz.
»Ja. Es hält nur vierundzwanzig Stunden an, aber das gibt dir Zeit dafür, zu entscheiden, was du zukünftig tun willst.«
»Hol sie aus mir raus! Ich fahre zur Hölle.« Sie sank schluchzend auf die Knie. »Gott hat dich geschickt. Hilf mir.«
Eve war derart überzeugt von diesem furchtbaren Weltbild, dass sie nicht einmal sich selbst gegenüber Erbarmen zeigen konnte. Die Alternativlosigkeit ihres Glaubens ließ keinen Raum für einen anderen Weg. Ich setzte mich auf die Fersen zurück, weil diese Erkenntnis etwas unangenehm Vertrautes hatte, doch dann schüttelte ich den Kopf. Bei Isaac war es etwas anderes.
Eve flehte mich weiter an. Konnte man ihr überhaupt helfen? Vermutlich war ihr ihr Leben lang eingeredet worden, dass sie böse sei. Würde sie je dazu in der Lage sein, die Schönheit ihrer Kräfte zu sehen? Sie war volljährig, aber war sie auch voll zurechnungsfähig? Ich schaute auf ihre Narben. Wäre es womöglich grausamer, zu versuchen, sie in die Nefesh-Gesellschaft zu integrieren, als ihr die Magie zu nehmen? Konnte ich das überhaupt, ohne … Das Bild von Mr Sharp, dem Auktionator von Chariot, dessen Magie ich zerstört hatte, stand mir wieder vor Augen, und seine Schreie hallten in meinen Ohren wider.
Eves Flammen erloschen, und sie schlang die Arme um meine Beine. Ihre Nägel gruben sich durch den dünnen Stoff meines Kleids hindurch schmerzhaft in meine Haut. In ihrem Blick stand eine erschreckende Klarheit. »Bitte.«
»Bitte«, lallte Pastor Nephus, der sich gerade aufsetzte und sich mit einer Hand den Kopf hielt.
Noch nie hatte meine Magie so schwer auf mir gelastet. Unruhig ging ich im Kreis durch den Raum. Als ich das letzte Mal zu einer Gottheit gebetet hatte, war ich zwölf Jahre alt gewesen. Meine Gebete waren nicht erhört worden und mein Vater nie wieder nach Hause gekommen. In diesem Moment beneidete ich die Mitglieder dieser Kirche um ihren simplen Glauben. Ich wünschte, ich würde ein Zeichen erhalten, anstatt selbst das verdammte Zeichen zu sein.
Eve wimmerte, und der Schmerz stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Sie strahlte ihn mit der verkrampften Haltung ihrer Schultern und jedem Muskel in ihrem Körper aus. So konnte ich sie nicht zurücklassen. Ich würde ihr die Magie nehmen und konnte nur hoffen, dass mir das Universum irgendwann vergab.
Ich setzte mich neben sie auf den Boden. »Du musst dich entspannen, damit es funktioniert.«
Tränen glänzten in ihren Augen. »Ja. Danke.«
»Wenn Sie sich auch nur einen Millimeter von der Stelle rühren, Pastor, sorge ich dafür, dass Sie es bitter bereuen.«
Er nickte, immer noch blass.
So vorsichtig wie möglich zog ich die Magie aus Eve heraus. Sie roch nach Holzkohle und schmeckte nach Sahne. Ich zwang mich dazu, während des Rauschs bei Sinnen zu bleiben, auch wenn sie alle geschärft waren, und die Magie nicht zu schnell in mich aufzunehmen, sondern sie sorgfältig in rote Verästelungen zu wickeln.
Eves Wimmern verwandelte sich in keuchende Atemzüge, und Angst trat in ihren Blick, aber es war zu spät, um aufzuhören. Die weißen Funken breiteten sich bereits aus. Und dann war die Magie komplett aufgelöst. Sie hinterließ den Geschmack nach Milch auf meinen Lippen und schockiertes Schweigen im Raum.
Eve sackte nach vorn. Sie war nicht gebrochen wie Sharp, aber sie rührte sich auch nicht. Ihr Puls war schwach.
»Wird sie …« Ihr Vater schluckte. »Wieder aufwachen?«
»Ich weiß es nicht.« So etwas war noch nie passiert .
Er schubste mich aus dem Weg und umfasste ihr Gesicht, während er sie leise bat, etwas zu sagen. Und dann geschah ein Wunder.
Eve blinzelte ein paarmal und griff nach meiner Hand. »Es ist weg.«
»Ja«, erwiderte ich.
Sie umarmte mich fest, aber ich teilte ihre Freude nicht. Ich hatte ihren Wunsch erfüllt, doch die Narben von diesem Trauma würden bleiben.
Mein einziger Trost war, dass ich ihr nicht geschadet hatte. Ich hatte jemandem die Magie genommen, der sich danach wieder erholte. Das bewies, dass ich mehr war als eine zerstörerische Kraft. Ich war kein Monster. Eine nie da gewesene Leichtigkeit breitete sich in meiner Brust aus.
»Versprich mir, dass du ein gutes Leben führen wirst«, sagte ich.
»Oh, das wird sie«, entgegnete Pastor Nephus, in dessen Stimme plötzlich ein seltsam dunkler Unterton mitschwang.
Ich wollte mich gerade zu ihm umdrehen und ihn fragen, was für ein Problem er hatte. Schließlich hatte ich seiner Tochter eben pro bono einen gewaltigen magischen Gefallen getan. Doch ein Stromstoß presste mir die Luft aus der Lunge.
Er hatte mir eine mit dem Taser verpasst. So viel zum Thema Dankbarkeit.
Mein Körper wurde steif wie ein Brett, und ich kippte zur Seite, blieb aber voll bei Bewusstsein. Das Klatschen von Beton gegen meine Wange schien aus weiter Ferne zu kommen. Im Gegensatz zu dem scharfen Schmerz, der mich überrollte. Ich schrie auf, als jeder Muskel in meinem Körper gleichzeitig krampfte.
Polierte schwarze Schuhe kamen in mein verschwommenes Sichtfeld. Pastor Nephus legte mir magieneutralisierende Handschellen an. Durch den Schmerz hindurch spürte ich eine schreckliche Leere. Ich war machtlos. Verwirrt runzelte ich die Stirn und schüttelte meine Hände.
»Du hast dich nach dem Jugendzentrum erkundigt«, sagte er. »Die hier waren recht praktisch dafür, einige von unseren temperamentvolleren Schäfchen gefügig zu machen.« Er zerrte mich auf einen Holzstuhl und band mich mit mehreren dicken Seilen daran fest.
Als ich schließlich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangte, konnte ich nur hilflos an den Fesseln zerren. »Ich habe Ihnen mit Eve geholfen.«
»Gelobt sei der Herr. Er hat dich geschickt, um meine Tochter reinzuwaschen, und nun wirst du dein Blut opfern, um die Entrückung herbeizuführen und uns mit unserem Herrn wiederzuvereinigen.«
Ich wehrte mich verbissen gegen die Seile. »Glauben Sie ernsthaft, dass Sie zu den Auserwählten gehören werden, nachdem Sie mich umgebracht haben? Wie war das noch mal mit den Zehn Geboten, Pastor?« Und mit ein bisschen unmörderischer Dankbarkeit für die Person, die deine Tochter gerettet hat, du Mistkerl?
Ich sprang auf, sodass mir der Stuhl wie ein Schildkrötenpanzer am Rücken klebte, und fegte den Mann von den Füßen. Dank der Handschellen war meine Magie immer noch unterdrückt, aber meine Beine funktionierten einwandfrei. Ich rannte, so schnell ich konnte, zur Treppe, doch als ich die erste Stufe erreichte, keuchte ich erschrocken auf.
Da oben stand die komplette Gemeinde.
Sie trugen mich, immer noch an den Stuhl gefesselt, in den Kirchenraum, wie eine jüdische Braut bei ihrem Hochzeitstanz. Ich war versucht, »Hava Nagila« vor mich hin zu summen.
»Mich zu töten, wird euch nicht in den Himmel bringen«, versuchte ich einen Funken Vernunft in den Gläubigen zu wecken. »Nur ins Gefängnis.«
Zweifel machten sich auf einigen Gesichtern breit. Sechzig Prozent von ihnen hatte ich auf meine Seite gebracht. Fünfzig Prozent. Auf alle Fälle über dreißig.
»Du irrst dich«, erwiderte Susan, die Pie-Bäckerin, voller Überzeugung. »Gott hat dich hierhergesandt, weil du keine Seiner Auserwählten bist. Du gehörst dem Teufel an. Wir werden dich von der Erde tilgen und den Tag des Jüngsten Gerichts anbrechen lassen, der deine Art ein für alle Mal vernichtet. Unser Lohn wird die Entrückung sein.« Sie schwankte leicht von einer Seite zur anderen, und der Wahnsinn in ihren Augen war nicht zu übersehen.
Ein hysterisches Lachen blieb mir im Hals stecken. Die größte Ironie an der Sache war, dass nicht Gott mich geschickt hatte. Ich selbst hatte mich höchstpersönlich in diese Lage gebracht, im Namen eines dieser faszinierenden Fälle, auf die ich so unglaublich scharf war.
»Ihr habt die Nefesh-Kinder aus dem Jugendzentrum an einen Ort geschickt, wo sie gefoltert wurden«, sagte ich. »Einige von ihnen sind gestorben.«
»Wir haben sie gerettet«, entgegnete Pastor Nephus.
»Ach ja? Wie kommt es dann, dass Eve nicht auch dort gelandet ist?«
»Das war nicht Gottes Wille.«
Du Heuchler. Du wusstest genau, was diese Leute machen, und selbst du konntest das deinem Kind nicht antun.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Diese Leute« waren Chariot.
Die Realität zerbrach, und plötzlich sah ich eine Verbindung nach der anderen über meinem Leben aufleuchten. Mein Vater, der für Isaac arbeitete, als meine Magie sich manifestierte, und der dann einen Van Gogh benutzte, der Chariot loyal ergeben war, um sie mit einem Bannzauber belegen zu lassen. Isaac, der Levis Vater war. Mein erster Fall nach dem Erwachen meiner Magie, der sich um Meryem und Chariot drehte. Omar und die Engelsfeder bei der archäologischen Ausgrabung. Und jetzt Jackson Wus Verwicklung in einen Fall von Geldwäsche, der auf den ersten Blick nichts mit alldem zu tun hatte, der aber an Isaacs Unterstützung der Reinheitsallianz geknüpft war.
Meine Existenz war ein kleiner Punkt, gefangen im Zentrum von zahllosen konzentrischen Kreisen, die sich immer weiter ausbreiteten. Nahm das je ein Ende? War alles in meinem Leben miteinander verbunden? Ich hatte Schwierigkeiten, zu atmen.
»Gott hat mich mit Eve geprüft«, fuhr der Pastor lauter fort, und seine Stimme hallte durch den hohen Raum.
So ein verdammter Narzisst. Eve machte sich so klein wie möglich und vermied jeden Blickkontakt.
»Aber wir haben bewiesen, dass unsere Herzen rein sind, und nun werden wir Sein Werk tun und dafür belohnt werden.«
»Ich bin nicht eure Eintrittskarte zum ewigen Paradies.« Jeden einzelnen der Anhänger schaute ich nacheinander an. »Ihr macht alle einen furchtbaren Fehler, aber ihr könnt noch damit aufhören, bevor es zu spät ist.«
Pastor Nephus umrundete die Insel neben der Kanzel und öffnete eine Doppeltür. Dann kehrte er mit einer Art silberner Gießkanne zurück und kippte mir den Inhalt über den Kopf, während er irgendwas über Salbungen vor sich hin betete.
Ich kniff die Augen zusammen, weil das Öl in ihnen brannte.
»Lass dieses heilige Feuer uns reinigen«, beendete er seinen Sermon.
Ich riss die Augen auf. Susan reichte ihm eine Schachtel mit langen Streichhölzern. Sie wollten alles niederbrennen und mich dabei als Grillanzünder verwenden.
Verbissen zerrte ich an meinen Fesseln. Die Gläubigen stellten sich im Kreis um mich herum auf und sangen von Trompeten und Gott und dem Leben nach der Entrückung, die Gesichter zur Decke erhoben.
Pastor Nephus zündete ein Streichholz an.
»Wenn das hier Gottes Wille ist, dann gebt meine Magie frei«, forderte ich ihn auf. »Beweisen Sie, dass das wirklich sein Wunsch ist.«
»Das ist es. Wir haben Vertrauen, und ich scheue mich nicht, dir zu beweisen, dass wir in Seinem Namen handeln.« Der Pastor nickte Susan zu, die meine Handschellen öffnete.
Dann passierten drei Dinge auf einmal: Die Handschellen fielen klappernd zu Boden, das brennende Streichholz flog auf meine ölbedeckte Haut zu, und ich sprengte die Seile, die mich auf dem Stuhl hielten.
Oh Moment, da war auch noch ein viertes. Meine Blutrüstung manifestierte sich. Das Streichholz prallte daran ab, und ich trat es aus, als es auf dem Boden aufkam.
Der Gesang der Gemeindemitglieder wurde lauter, und vor dem Chor ihrer anschwellenden Stimmen salbte der Pastor mich mit noch mehr Öl. Ich packte ihn am Arm und warf die Kanne beiseite, aber Susan, dieses eifrige kleine Frettchen, war schon zur Stelle. Sie bewarf mich mit einem weiteren brennenden Streichholz, das mich dieses Mal erwischte. Ich ging lichterloh in Flammen auf.
Es war unangenehm, mehr aber auch nicht. Ich schlug auf die Flammen ein, um sie zu löschen.
Dann verkrampften sich meine Muskeln jedoch, als mich wieder jemand mit dem Taser angriff. Die Rüstung flackerte, und ich schrie laut auf, als das Feuer meine entblößte Haut verbrannte. Ich landete hart auf den Knien und versuchte verzweifelt, die Flammen zu ersticken. Mit zusammengebissenen Zähnen nutzte ich die Lektion, die man uns im Kindergarten beigebracht hatte, warf mich ganz zu Boden und rollte mich von einer Seite auf die andere.
Ich versank in einem dunklen Abgrund, wo es keinen Schmerz gab. Vage erinnerte ich mich daran, dass Verbrennungen dritten Grades die Nervenenden kauterisierten und der Schmerz verzögert eintrat. Mein Herz schlug unregelmäßig, und überall auf meiner Haut zeigten sich schwarz verbrannte Stellen, wo die Rüstung nicht mehr intakt war.
Gerade als ich es geschafft hatte, das Feuer endgültig zu löschen, lud einer der Gläubigen den Taser wieder auf. Immer noch auf dem Rücken liegend schleuderte ich einen Dolch nach ihm und traf ihn am Arm, woraufhin er den Taser fallen ließ.
Wundersamerweise war nichts außer mir den Flammen zum Opfer gefallen. Schweiß und Ruß brannten in meinen Augen. Ich stemmte mich auf die Beine, eine Waffe in jeder Hand. Alle starrten mich in geschocktem Schweigen an.
»Es ist nicht geschehen«, flüsterte ein Mann.
Ein Raunen ging durch die Menge der Anwesenden, und sie tauschten besorgte Blicke miteinander. Einige wichen zurück, um Distanz zwischen sich und die Gefahrenzone zu bringen.
Der Pastor versetzte Susan einen Schlag auf den Arm. »Noch mal! Die Entrückung muss …«
Mit einem kehligen Aufschrei warf sich Eve auf ihren Vater und stieß ihn damit zu Boden. »Lasst sie in Ruhe!«
Ich stand über ihm und schleuderte die Dolche links und rechts neben seinem Kopf in den Teppich. Er wimmerte und zuckte erschrocken zurück.
»Sorg dafür, dass deine Tochter Hilfe bekommt, du elender Mistkerl.«
Niemand hielt mich auf, als ich auf wackeligen Beinen zum Ausgang taumelte und mich dabei von Kirchenbank zu Kirchenbank hangelte, um mich daran abzustützen. Die Eingangstür drückte ich mit der Schulter auf und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht an, das mich einen Moment lang blendete. Ich riss mir die Mütze vom Kopf und die verdammten Nadeln aus den Haaren, während ich auf Moriarty zutorkelte. Mit tiefen Atemzügen konzentrierte ich mich auf die Berge in der Ferne und nutzte sie als Orientierungspunkt.
Wie oft würde ich dem Tod noch von der Schippe springen wegen irgendeines fanatischen Glaubens? Wie knapp war es heute gewesen? Hätte man meine Leiche je gefunden? Ich verdrängte das Bild von Gavriella, die in meinen Armen starb. Hätte Levi mich auf diesem Hügel neben ihr begraben lassen?
Wenn es so etwas wie Karma gab, dann war das echt ein schlechter Witz. Ich hatte ein anständiges Leben geführt. Alle Jezebels hatten das getan. Und was hatte es uns gebracht?
Oh … Ich geriet ins Stolpern. Bei Deepas Pilgerreise war es um die Reinigung ihres Karmas gegangen. Was, wenn sie damit ihre Rolle bei Gavriellas Tod hatte sühnen wollen? Vielleicht um ihr Leben zu regeln, bevor sie noch einmal neu anfing, und um eine Brücke zwischen den Jezebels und Chariot zu schlagen?
Rafael hatte sich geirrt. Bamah war kein Codewort für irgendein Amulett. Es war genau das, was der Name implizierte: ein hoher Ort. Genauer gesagt ein jüdischer Friedhof, der sich auf einem Hügel befand. Und noch genauer gesagt: der, auf dem Gavriella begraben lag.
Noch mehr Verbindungen. Mein Bauchgefühl hatte mich noch nie im Stich gelassen: Gavriellas Grab war der Schlüssel zu etwas. Aber zu was?