Der Schmerz von meinen Verbrennungen überrollte mich auf einen Schlag. Meine Hände am Lenkrad waren schweißnass, und die Welt verschwamm an den Rändern meines Sichtfelds. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig in die örtliche Klinik, wo man mich schnellstmöglich zur diensthabenden Nightingale brachte, um mich zu heilen.
Danach war ich so weit wiederhergestellt, dass ich selbst zurück nach Vancouver fahren konnte. Der Weg zum jüdischen Friedhof war lang, und es war schwer, nicht in Grübeleien zu versinken. Oder in meiner Lederjacke nicht zu zittern, obwohl ich die Heizung voll aufgedreht hatte.
Eine einzelne Haarnadel pikte mich in die Kopfhaut. Ich riss mir das Ding aus den Haaren und verzog das Gesicht, als ich gleich ein paar Strähnen mit erwischte, bevor ich die Nadel in meine Tasche stopfte.
HUUUUP!
Hastig zog ich nach rechts, zurück auf meine eigene Fahrspur, und hielt sorgfältig Abstand zu dem Holzlaster vor mir. Auf seinem Spritzschutz war die Silhouette einer Frau mit im Wind wehenden Haaren und zur Seite geneigtem Kopf zu sehen. Oh, wie schön wäre es, so sorglos zu sein.
Auf der linken Spur schoss ein sportliches blaues Cabrio vorbei und hupte sowohl mich als auch den silbernen SUV mit der verbeulten Stoßstange hinter mir an, weil wir ein gemächlicheres Tempo einhielten.
Schließlich öffnete ich mein Fenster, ließ mir vom Fahrtwind das Gefühl der Benommenheit aus dem Kopf pusten und rief Miles über Bluetooth an, um ihn über die Ereignisse in der Kirche zu informieren.
»Nur du schaffst es, dich in einen fanatischen Versuch verwickeln zu lassen, die Entrückung auszulösen«, meinte er, als ich fertig war.
»Wir können die Gemeinde wegen versuchten Mordes anzeigen, oder?«
»Ich schicke ein Team hin, aber du wirst eine Aussage machen müssen, und es kommt drauf an, wie sehr diese Leute bei ihren Aussagen zusammenhalten. Glaubst du, dass Eve sich auf deine Seite schlägt?«
»Wir könnten sie unter Druck setzen und …« Ich klammerte mich fester ans Lenkrad. Verdiente sie es, dazu gezwungen zu werden, gegen ihren Vater und die anderen Gemeindemitglieder auszusagen, nach allem, was sie durchgemacht hatte?
Das würde das Leben dieser Menschen ruinieren. Ich hatte das Gesetz auf meiner Seite, aber auch die Macht der Entscheidung. Sollte ich Gnade zeigen, anstatt stur auf einer Bestrafung zu beharren? Was würde mehr helfen? Wut oder Vergebung?
»Ich will nicht, dass sie verhaftet werden«, sagte ich. »Gibt es eine Möglichkeit, medizinisches Personal hinzuschicken, das auf Rehabilitation spezialisiert ist? Verschaffen wir Eve die Hilfe, die sie braucht, und arbeiten mit den anderen Gemeindemitgliedern.«
»Das ist vielleicht ein Kampf gegen Windmühlen«, gab Miles zu bedenken. »Aber ich kümmere mich darum und schicke Leute hin. Ich fahre selbst hin und mache ihnen klar, dass es in ihrem Interesse ist, wenn sie an dem Programm teilnehmen.«
»Danke, Miles.«
Als ich schließlich die schmiedeeisernen Tore des Friedhofs erreichte, waren sie bereits fest verschlossen, da der Abend angebrochen war. Ein aufgeregtes Kribbeln schoss durch meinen Körper, als ich das Auto abstellte, in Windeseile das Schloss am Tor knackte und den Torflügel hinter mir wieder zuzog, damit niemand Verdacht schöpfte, der draußen vorbeifuhr.
Dann ging ich zu Gavriellas Grabstätte rüber und kniete mich hin, um die Hand aufs Gras zu legen. Meine Fingerspitzen kribbelten. Das hier war die bamah , die wir gesucht hatten, da war ich mir sicher. Halb erwartete ich, dass Gavriellas Leichnam sich nicht mehr in der Erde befand, dass Chariot ihn für irgendeinen heimtückischen Plan gestohlen hatte.
Es gab nur einen Weg, das rauszufinden.
Im Judentum gab es einen Haufen Dinge, die verboten waren, und Grabschändung war vermutlich eins davon. Wie weit wollte ich also gehen, um festzustellen, ob mein Bauchgefühl recht hatte?
Ich lächelte. Ziemlich weit. Allerdings hatte ich keine Schaufel mitgebracht. Tja. Was waren jetzt schon ein paar weitere Sünden? Ich brach in den Schuppen des Friedhofsgärtners ein und klaute dort außer der Schaufel auch gleich noch eine Leiter. Wir waren im Geschäft.
Die Schaufel biss mit einem zischenden Geräusch in die Grasnarbe, gefolgt vom dumpfen Laut der Erde, die ich zur Seite warf. Wie gut, dass Aschera mir verstärkte Körperkraft verliehen hatte. Ein Grab auszubuddeln, war ganz schön harte Arbeit. Als meine Schaufel endlich auf den einfachen Sarg stieß, befand ich mich schweißgebadet tief in der Grube, war mit Erde beschmiert, und mein Pferdeschwanz hatte sich halb gelöst.
Ich öffnete den Deckel einen Spalt, und sofort ließ der Gestank mich angewidert zurückweichen. Verrottender Brokkoli, ungewaschene Füße und Abwasser. Zum Glück war der Körper in ein Leichentuch aus Leinen gewickelt, auf dem sich Flecken von den Verwesungsflüssigkeiten gebildet hatten.
Eine Theorie hatte ich damit schon mal widerlegt: Es gab eine Leiche. War es Gavriellas? Sie fühlte sich im Wesentlichen nur nach Knochen an, also würde ich sie anhand ihres Gesichts nicht identifizieren können.
Die Brise trug das leise Summen von Verkehr zu mir rüber, und Vögel zwitscherten in den Ästen eines Laubbaums. Ich machte den Fehler, tief durchzuatmen, und musste prompt würgen, als mir der Verwesungsgeruch in die Nase drang. Ich zuckte zusammen und stieß den Leichnam dabei versehentlich mit der Schaufel an.
Etwas metallisch Glänzendes fiel mir ins Auge. Ich griff unter die Leiche und holte einen kurzen Zylinder hervor. Ein Schütteln blieb ergebnislos, nichts klapperte darin.
Als ich mit dem Finger gegen den Metallverschluss tippte, huschte ein eisiges Prickeln über meine Haut. Klug wäre es, das Ding zu Rafael zu bringen und es ihn öffnen zu lassen, aber das schaffte ich nicht. Vor fünfzehn Jahren hatten meine Magie und die Taten meines Vaters etwas in Gang gesetzt, und wenn ich recht hatte – mein Griff um den Zylinder verstärkte sich –, würde sich heute Abend der Kreis schließen.
Ich musste diejenige sein, die den Zylinder öffnete.
Ich riss den Verschluss ab. In dem Zylinder befanden sich zwei Schriftrollen. Eine strahlte gar nichts aus, das war die Fälschung von Onkel Paulie. Die andere bestürmte mich mit dem Geruch eines heißen Sandsturms.
Eilig machte ich den Zylinder wieder zu und versiegelte ihn, bevor ich ein paarmal durchatmete, um das Adrenalin in den Griff zu bekommen, das durch meinen Körper rauschte.
»Isaac hat nach dieser bamah gesucht, weil irgendwer bei Chariot ihre beiden Schriftrollen hier vergraben hat.« Die echte und Dads Fälschung. Verbindungen. Ich klopfte mir mit dem Zylinder gegen die Stirn. »Deepa Anand.«
»Sehr gut, Ashira«, meinte Isaac mit typisch italienischem rollenden r. Er stand am Rand des Grabs und schaute mit einem anerkennenden Lächeln auf mich herunter.
»Sieh an, sieh an«, erwiderte ich. »Wenn das mal nicht einer der Zehn ist. Neun? Die arme Theresa.«
Sein Lächeln verblasste für eine Sekunde und wurde von einem Ausdruck des Begreifens ersetzt. »Du wusstest, wer ich bin.« Wow. So viel Mitgefühl für seine verstorbene Mit-Bösewichtin. »Dann war es ja noch weitaus klüger von mir, dich auf die Suche nach den Schriftrollen anzusetzen.«
Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt, Ash, Liebes. Die einen sind Opfer, die anderen nicht.
Eine Halluzination hatte mir eine komplett andere Version meines Lebens gezeigt, und doch war ich nicht eine Sekunde lang auf die Idee gekommen, dass Isaac Montefiore mich tatsächlich ausgetrickst hatte. Ich konnte es auch jetzt nicht fassen.
Der Holzstiel der Schaufel, die ich nach wie vor in der Hand hielt, zerbrach in kleine Einzelteile. »Sie haben mich nicht angeheuert. Das war Nicola.«
»Wir unterschätzen immer die Ehefrauen und Mütter, nicht wahr? Du wärst nie auf die Idee gekommen, dass sie so etwas fertigbringt, aber sie ist eine ausgezeichnete kleine Schauspielerin. Wenn es ihr wichtig genug ist.« Dann rief er gelassen über die Schulter: »Und das Leben deines teuren Sohns ist dir sehr wichtig, nicht wahr, meine Liebe?«
Nicola schrie auf.
Ich brach das Metallschaufelblatt in der Mitte durch. »Ich bin kein Opfer«, fauchte ich.
»Da muss ich widersprechen«, erwiderte Isaac. »Es war wirklich herrlich, die Tochter des Mannes hinters Licht zu führen, der versucht hat, mich zu hintergehen, indem er ihre Magie versteckt. Adam hat sich immer für schlauer als alle anderen gehalten, selbst wenn er das ganz offensichtlich nicht war. Offenbar teilst du diesen Charakterzug. Wie schade, dass es für deine Familie nun null zu zwei steht, wenn es darum geht, mich übers Ohr zu hauen. Ach, tut mir leid. Null zu drei. Nicht wahr, Talia?«
»Lassen Sie meine Tochter zufrieden«, gab Talia zurück. Ihr Ton glich mehr einem tiefen Knurren.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Hatte Isaac sie mit einem charmanten Lächeln unter dem Vorwand einer Parteispende hergelockt? War sie auf seine honigsüßen Lügen reingefallen und hatte nicht bemerkt, dass sie vergiftet waren? War meine Mutter so sehr daran gewöhnt, das Raubtier im Raum zu sein, dass sie es nicht merkte, wenn sie zur Beute wurde?
Zwei Dolche flogen aus meinen Händen in seine Richtung, aber ich stand unten im Grab, und meine Arme pochten bereits schmerzhaft vom Buddeln. Ich verfehlte mein Ziel.
Isaac warf ein Paar magieunterdrückende Handschellen zu mir herunter. »Leg die an und komm rauf, sonst erschieße ich deine geliebte Mutter.«
Ich schloss sie mit einem Klicken um meine Handgelenke, und wieder erfüllte mich diese Leere. Meinen Hass versuchte ich gar nicht zu verbergen, als ich aus dem Loch kletterte. Es war beinahe eine Erleichterung. Jetzt musste ich nichts mehr vorspielen, nichts mehr verstecken, nicht mehr so tun, als würde ich ihn nach alldem am Leben lassen.
Und Levi?
Er spielte keine Rolle. Das durfte es nicht. Isaac hatte meinen Vater umgebracht und mich ausgetrickst. Eins von beidem hätte ich Levi zuliebe wohl vergeben können. Für unsere gemeinsame Zukunft. Aber nicht beides. Und erst recht nicht jetzt, wo Isaac meine Mutter in die Sache reingezogen hatte. Es gab keinen Winkel auf der Erde, der abgelegen genug war, um mir zu entkommen.
Ich zischte leise auf, als ein Splitter aus dem Holz der Leiter sich in meine Haut bohrte, aber ich drückte die Hand noch fester gegen die Sprosse und genoss den Schmerz, bevor ich komplett aus der Grube stieg.
Isaac stand neben einem schlanken Mann, den ich sofort erkannte und der eine Waffe auf Nicola und meine Mutter gerichtet hielt. Nicola war sichtlich verängstigt und schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Talia dagegen war blass, reckte aber herausfordernd das Kinn nach vorn – trotz des violett-schwarzen Blutergusses um ihr rechtes Auge.
Eine rote Welle brandete heiß und scharf in mir auf, bevor sie von meinem Inneren aufgesogen und zu einem kalten, harten Diamanten gepresst wurde. Die Stimme meines Vaters flüsterte mir ins Ohr: Wenn du mehr Geld ausgeben willst, dann für Klarheit.
Die Szenerie erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, und plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Fünfzehn Jahre voller Geheimnisse und Tricks, voller Verluste und Wut hatten mich zu diesem Abend, zu diesem Moment geführt. Die Reise, die mein Vater zusammen mit Isaac angetreten und mit der er mein Leben aus der Bahn geworfen hatte, endete heute Abend. Es war kein Zufall, sondern unausweichlich.
Es war ein Abschluss.
Ich deutete eine spöttische Verbeugung an. »Ich bin entzückt , Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Gleichfalls«, erwiderte der deutsche Attentäter mit starkem Akzent.
»Sagen Sie mir eins, Isaac«, fuhr ich fort. »Deepas Pilgerreise. Wollte sie für die Verbrechen büßen, die sie in Chariots Namen begangen hat – und zu denen auch Gavriellas Tod gehörte, der auf ihrem Gewissen lastete?«
Isaac stopfte die Hände in die Taschen seines Trenchcoats. »Nichts davon hätte Deepa den Schlaf geraubt, wenn ihre Tochter nicht ums Leben gekommen wäre. Da hat sie der Glaube ihrer Kindheit an Karma eingeholt, und sie hat entschieden, dass keiner von uns Unsterblichkeit erlangen sollte.«
»Also hat sie beide Schriftrollen gestohlen. Aber warum hat sie die in … oh. Sie ist davon ausgegangen, dass Gavriellas Grab der letzte Ort ist, an dem Sie sie suchen würden, oder?«
»Und sie hatte recht damit.«
Nicola zitterte so sehr, dass ich befürchtete, sie würde sich den Kopf an der Waffe aufschlagen. »Mi dispiace« , murmelte sie immer wieder vor sich hin. Meine Mutter drückte ihre Hand.
So wütend ich auch über ihren Verrat war, ich konnte Nicola keinen Vorwurf machen. Sie hatte Angst gehabt, und Isaac hatte jahrelang immer wieder unter Beweis gestellt, dass Levi für ihn vollkommen entbehrlich war – wie hätte sie sich da anders entscheiden sollen? Ich war keine Mutter, aber ich war meinen Freunden gegenüber loyal. Wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, die Menschen, die mir wichtig waren, in Sicherheit zu bringen, hätte ich sie auch ergriffen. Kein Wunder, dass sie so erleichtert gewesen war, als ich zustimmte, ihr zu helfen.
Verstehen konnte ich sie also, vergeben konnte ich ihr aber nicht. Noch nicht.
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Ist das jetzt der Moment für den großen Superschurken-Monolog?«
Isaac lachte und sah seinem Sohn für einen Augenblick so unglaublich ähnlich, dass mir der Atem stockte. »So ein amüsantes Mädchen. Warum nicht? Ich hatte schon immer etwas für gute Monologe übrig.«
Meine Mutter schnaubte. Ich biss mir auf die Unterlippe, warf ihr aber einen strengen »Du hast eine Waffe vor der Nase, also reiß dich gefälligst zusammen«-Blick zu.
Isaac hielt mir auffordernd die Hand hin. »Aber zuerst die Schriftrollen, bitte.«
Ich drückte mir den Zylinder gegen die Brust, was die Handschellen klappern und Isaac seufzen ließ.
»Tust du es nicht, wird Hans die Frauen erschießen. Eine falsche Bewegung und … nun ja.« Er zuckte gleichmütig die Schultern, ein echtes Monster in Designerklamotten.
Nicola drückte sich eine Faust gegen den Mund, während Talia die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Sie drehte sich so, dass sie sowohl Hans als auch Isaac im Blick behalten konnte. Wenn Mom meinte, hier dumm die Heldin spielen zu müssen, würde ich sie umbringen.
Ich hielt Isaac zwar den Zylinder hin, doch er musste ihn mir trotzdem mit einem Ruck aus der Hand reißen. Einen flüchtigen Moment lang hatte Team Jezebel alle Bruchstücke besessen. Da ging sie hin, meine Chance, sie alle zu zerstören.
»Ernsthaft?«, fragte ich. »Hans? Waren Viktor und Dschafar nicht verfügbar? Wo heuern Sie die Leute für Ihre Drecksarbeit an? Im Fachhandel für Fieslinge?«
»Ja«, erwiderte Isaac grinsend. »Wir wählen sie sorgfältig auf der ganzen Welt aus und geben ihnen dann Namen, die all den großartigen Hollywood-Klischees entsprechen.«
Hans atmete geräuschvoll durch die Nase aus, als wäre es nicht das erste Mal, dass er auf Leute traf, die über seinen Namen lästerten.
»Also, wo fangen wir an?«, erkundigte sich Isaac.
»Wie wäre es bei der Ermordung meines Vaters? Die haben Sie ja schließlich in Auftrag gegeben.« Sprich es aus, du Dreckskerl.
Talia entwich ein ersticktes Schluchzen. Fuck. Ich schloss ganz kurz die Augen. Die genauen Umstände von Dads Tod hatte ich ihr nie erzählt.
Isaac war der Inbegriff väterlicher Sorge. »Wie tragisch. Wurde Adam ermordet? Das wusste ich ja gar nicht. Und da dachte ich, ich hätte ihn neulich erst gesehen. Aber wo wir gerade bei deinem Vater sind: Man muss ihm schon Respekt dafür zollen, wie er dich all die Jahre über versteckt hat. Direkt unter unserer Nase.« Er schob den Zylinder mit den Schriftrollen in seine tiefe Jackentasche. »Mir war bis zu der Nacht, in der du mit Levi vor meinem Haus aufgetaucht bist, nicht klar, dass du eine Jezebel bist.«
Die Nacht, bevor Nicola mich engagiert hatte. Ich zog die Schultern leicht nach oben.
»Aber um ehrlich zu sein, ist der Groschen da auch nicht sofort gefallen«, fuhr er fort. »Doch dann habe ich mich daran erinnert, dass Yitzak, ein Van Gogh auf Level fünf, der meinen Leuten loyal ergeben war, in einer Nefesh-Isolationszelle gelandet ist, weil ihn jemand wegen Körperverletzung angezeigt hat. Aber nicht irgendjemand, sondern ausgerechnet du. Das hat mich zum Nachdenken gebracht.«
»Sicher ein Vollzeitjob«, entgegnete ich, wobei ich die Pistole sorgfältig im Blick behielt.
»Ich war die ganze Nacht auf, um die Puzzlestücke zusammenzusetzen. Warum wollte Adam nach dem Tod von Gracie Green von der Bildfläche verschwinden?«, sinnierte er. »Warum hast du so plötzlich deine Detektei geschlossen, nachdem diese Jezebel schließlich endgültig von uns gegangen ist?«
»Seien Sie doch nicht so zurückhaltend, Isaac. Gavriella ist nicht an Altersschwäche gestorben. Sie haben sie gefoltert, bis ihr gequälter Körper irgendwann aufgegeben hat.«
Gavriellas Körper, der sich so leicht anfühlte, als er in meine Arme sank. Ihre Haut, die übersät war von Blutergüssen, ihr gebrochenes Handgelenk, von dem die Hand in einem unnatürlichen Winkel abstand, und das Blut, das ihr linkes Nasenloch verklebte.
Ich blinzelte die Erinnerung weg. »Also haben Sie all diese Details betrachtet, sind darauf gekommen, dass ich die nächste Jezebel bin, und haben beschlossen, mich zu benutzen, um die beiden Schriftrollen zu finden, die Deepa versteckt hat.« Ich hielt inne, doch Isaac machte keine Bemerkung darüber, dass eine davon gefälscht war. Also hatte er Dads Betrug immer noch nicht durchschaut. »Jemand aus Ihren eigenen Reihen ist Ihnen in den Rücken gefallen. Das muss wehgetan haben.«
»Am Ende hat sie dafür bezahlt. Allerdings hätte es nicht ganz so weit gehen sollen.« Er warf dem Deutschen einen finsteren Blick zu. Aha. Der Kerl hatte Deepa umgebracht und es wie einen Herzinfarkt aussehen lassen, obwohl Isaac sie lebend haben wollte.
»Haben Sie Misha Ivanov auch getötet?«, fragte ich Hans.
Er rümpfte die Nase. »Alte Leute. Die sind immer so leicht entflammbar.«
Das war einfach … wow.
Talia hatte die Augenbrauen zusammengezogen, und ihr Mund stand ein wenig offen. Sie rieb sich die Schläfe, als könnte sie damit ihre Welt wieder geraderücken. Ich hätte mich mehr bemühen sollen, ihr die Wahrheit in kleinen Dosen einzuflößen, anstatt sie in die Flutwelle zu schubsen.
Ich achtete darauf, meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, um meinem Feind nicht noch mehr Munition zu liefern. »Helfen Sie mir mal auf die Sprünge: Auf wie viele sind Ihre Zehn inzwischen zusammengeschrumpft?«
Der silberne SUV mit der verbeulten Stoßstange, den ich auf dem Highway gesehen hatte, stand neben Moriarty auf dem Parkplatz. Isaac war mir gefolgt. Waren noch mehr von seinen Leute in der Nähe, oder beschränkte er sich bei dieser Einschüchterungsaktion auf das Nötigste?
Er drohte mir spielerisch mit einem Finger. »Alles brauchst du auch nicht zu wissen.«
»Ach kommen Sie schon, erzählen Sie es mir. Ich hab doch so ein Faible für Fakten. Wenn Deepa die Schriftrollen irgendwann während der vergangenen zwei Monate gestohlen hat, warum haben Sie dann erst letzte Woche versucht, das Versteck aus ihr herauszufoltern?«
Isaac schwieg eine ganze Weile, zuckte dann aber die Schultern. »Sie war vorsichtig. Die Pilgerreise war unsere erste Gelegenheit, sie zu konfrontieren.«
»Aber auch da hat sie nicht geredet.«
»Sie hat genug erzählt«, sagte Hans. »Sie hat das mit der bamah verraten.«
»Ganz toll. Trotzdem habt ihr immer noch mich dafür gebraucht, sie für euch zu finden.« Ich erhob ein imaginäres Glas, um ihnen zuzuprosten. »War schon genial von ihr, die Schriftrollen an dem einen Ort zu begraben, an dem ihr sie nie suchen würdet. So hatte Gavriellas Tod doch glatt noch einen Sinn für sie. Wenn Deepa da mal nicht zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hat.«
»Gehst du meinem Sohn auch so auf die Nerven?«, fragte Isaac.
Das Grinsen verschwand schlagartig von meinem Gesicht. »Lassen Sie ihn da raus.«
»Oh, aber er ist doch so ein wichtiger Teil des Ganzen, findest du nicht?«
»Das war er«, erwiderte ich. »Und dann hat er sich für Sie entschieden.«
Isaac stutzte sichtbar.
Ich lachte laut auf. Bitter. »Das hat Ihnen Ihr Maulwurf nicht verraten? Der arme Junge hat meine Rachepläne nicht verkraftet.«
»Stimmt das?«, wollte er von Nicola wissen.
»Ja«, gab sie angewidert zurück. »Dabei hast du nie etwas anderes getan, als ihn zu verletzen. Du hast ihm jede Chance auf Glück geraubt.«
Isaac runzelte die Stirn und tippte sich mit einem Finger gegen die Lippen, als würde er gedanklich umdisponieren. Wenn er Levi irgendwas angetan hatte … Ich krümmte die Finger, aber kein Dolch erschien in meiner Hand. Ich spürte nur den Druck des kalten Metalls. Ganz langsam näherte ich mich meiner Jacke, die ich am Rand der Grube abgelegt hatte. Wenn ich nur an die Haarnadel in der Seitentasche kommen könnte …
Hans gab einen ungehaltenen Laut von sich und bedeutete mir mit der Waffe, zu bleiben, wo ich war.
»Habe ich damit alle Fragen zu deiner Zufriedenheit beantwortet?«, erkundigte sich Isaac. »Dann wäre ich nun an der Reihe mit einer Bitte.«
»Um ehrlich zu sein, gab es ohnehin nicht viel, was ich nicht schon längst selbst herausgefunden habe.« Ich schnippte mit den Fingern. »Hey, haben Sie Jackson Wu wirklich überredet, Nefesh-Jugendliche in dieser Notunterkunft aufzunehmen, die er finanziell unterstützt? Sie wissen schon, um die Kids dann zu entführen, ihnen die Magie zu entreißen und diese anschließend an die Höchstbietenden zu versteigern?«
Meine Mutter stürzte sich mit einem Fauchen auf Isaac. So ein Geräusch hatte ich noch nie von ihr gehört. Sogar Isaac wich vor ihr zurück, bevor Hans sie von ihm wegzerrte.
»Sie Mistkerl! Dafür haben Sie unseren Parteiführer benutzt?«
Dass sie davon auf diese Weise erfuhr, verursachte mir ein weit weniger schlechtes Gewissen als vorhin die Offenbarung, dass Isaac Adam hatte ermorden lassen. Außerdem würde ich wie gedruckt lügen, wenn ich dieses Gespräch für Wu zusammenfasste. In meiner Version hatte Isaac ihn verpfiffen.
Isaac ignorierte Talia. »Meine Bitte, Ashira.«
»Schießen Sie los.«
»Bring mir die Schriftrollen aus der Bibliothek.«
Ich hielt mir eine Hand hinters Ohr. »Ich habe da kein ›bitte‹ gehört.«
»Hans, erschieß die Frauen.«
»Nein!« Ich hob beschwichtigend die Hände. »Talia bedeutet Ihnen vielleicht nichts, aber Nicola ist Ihre Ehefrau.«
»Sie steht für mein altes Leben«, sagte Isaac. »Für sie gibt es keinen Platz mehr, sobald ich das Sefer Raziel HaMalakh besitze.«
»Sie meinen, sobald die verbliebenen Mitglieder der Zehn es mit Ihnen zusammen aktivieren.«
Isaac lächelte nur.
»Keiner der Zehn hatte je vor, es mit den anderen zu teilen, oder?«
»Große Macht …«
»… bringt große Verantwortung mit sich, Spider Man?«
»Große Begehrlichkeiten.«
Mein Blick huschte zu Talias blauem Auge. »Nicola und meine Mom im Austausch für meine Bruchstücke. In die Bibliothek kommen Sie nicht rein, und ohne mich wird sich Ihr Traum von der Unsterblichkeit nie erfüllen, also besteht hier kein Verhandlungsspielraum.«
»Dann haben wir einen Deal.«
Verdammt. Das war zu einfach. Dieser Handel war beabsichtigt. Seit wann? Seit Nicola mich angerufen und gefragt hatte, ob ich die bamah gefunden hätte?
»Der Austausch findet statt, wenn du mir den Rest des Sefer übergibst«, sagte er. »In einer Stunde, bei Lockdown Cybersecurity .«
»Ich stehe hier in Handschellen und bin weit weg von allen, die mir helfen können. Also schrauben Sie die Bösewichtmasche mal ein Stück runter und geben mir zwei Stunden Zeit.«
»Dann zwei, aber keine Sekunde länger.« Isaac hakte sich bei seiner Frau unter, als würde er sie zu einer Abendveranstaltung ausführen. Stattdessen zerrte er sie hinter sich her zum SUV, während sie ihn anflehte und bettelte. Hans packte Talia.
»Ash.« Sie streckte eine Hand nach mir aus.
Hab keine Angst. Ich werde dich retten. Ich hab dich lieb. »Mom«, presste ich heiser hervor.
»Das war ein wirklich teures Kleid, Ashira.« Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es ruiniert.«
Hans drückte ihr unsanft den Lauf der Pistole in den Rücken und zwang sie so in Richtung des Autos. Ein Lachen platzte aus mir heraus. Oh, Mom. Das war so typisch Talia, dass ich ein wenig ruhiger wurde. Vielleicht war genau das ihre Absicht gewesen. Sie kannte mich besser, als ich gedacht hätte.
Ich folgte ihnen nicht, weil ich nicht riskieren wollte, dass jemand erschossen wurde. Außerdem besaß Hans Teleportmagie, es brachte also rein gar nichts, wenn ich mich auf ihn stürzte. Hastig fummelte ich die Haarnadel aus meiner Lederjacke, während ich zusah, wie meine Mutter sich immer weiter von mir entfernte. Ich musste so schnell wie möglich die Handschellen loswerden.
Nachdem ich die Metallklammer mit den Zähnen in die richtige Form gebogen hatte, schob ich ein Ende ins Schloss der Handschellen, aber sie wollten sich einfach nicht öffnen. Ja, ich war zu hektisch, doch wie sollte ich langsamer machen, wo Talia in wenigen Sekunden in diesem Fahrzeug sitzen würde?
Isaac öffnete die Fahrertür und stieg in den SUV. »Komm nicht zu spät!«, rief er mir noch zu.
Die Haarnadel verbog sich in der Mitte. Mit zusammengebissenen Zähnen verengte ich die Augen ein wenig und zog das Metall heraus, bevor ich es wieder richtete und es noch einmal versuchte. Dieses Mal zwang ich mich, den Rhythmus des Schlosses zu erfühlen.
Endlich erwischte ich die richtige Stelle, und die Handschellen lösten sich. Noch bevor sie auf dem Boden auftrafen, rannte ich auf den SUV zu. Magie kribbelte unter meiner Haut, und meine Blutrüstung manifestierte sich. Ein Schuss ertönte, doch die Kugel prallte von mir ab.
»Hans!«, fuhr Isaac ihn durch das geöffnete Fenster an.
Der Handlanger hielt die Waffe noch einen Moment länger auf mich gerichtet, bevor er sie langsam senkte und ins Auto stieg. Mit heulendem Motor rasten sie davon, und die Rücklichter wurden immer kleiner. Sie passierten das Tor, bogen nach links ab, und dann waren sie außer Sicht.
Zwei Stunden. Mehr Zeit blieb mir nicht, um einen Plan zu schmieden und Levi zu erklären, dass sein schlimmster Albtraum in Bezug auf seine Mutter Wirklichkeit geworden war. Ich ließ die Rüstung verschwinden und griff nach dem Holzring. Wir waren geschlagen, aber nicht vernichtet.
Nicola würde nicht sterben. Meine Mutter würde nicht sterben. Isaac würde nicht gewinnen.
Ich war kein Opfer.
Wollte ich Isaac immer noch töten? Ich hatte der Kirchengemeinde vergeben, nachdem die Leute versucht hatten, mich abzufackeln. Selbst Lux hatte ich ihre Taten verziehen. Aber Isaac hatte meinen Vater ermorden lassen, und er würde sich dafür nie vor Gericht verantworten müssen. Er verdiente keine Gnade. Nur … War das nicht genau der Moment, in dem man sie erwies? Für wen war Gnade letzten Endes gedacht?
Im Fall der Kirche war sie für Eve. Isaac hingegen war nicht unschuldig.
Ich streifte mir den Ring über den Finger. Ich hatte vielleicht nur kurz aus dem Schatten heraus operiert, aber diese Erfahrung hatte mich unwiderruflich verändert. Und Isaac würde das auf die harte Tour lernen.