»Du … nein!« Rafael warf sich zwischen mich und die Steinsäulen in der Bibliothek.
»Willst du, dass Nicola oder meine Mom sterben?«
Er zögerte. »Es wäre nicht das erste Mal, dass wir Opfer bringen …«
»Rafael!«
»Natürlich will ich das nicht, aber du kannst ihm die Bruchstücke nicht einfach so geben. Es wäre etwas anderes, wenn du deine Magie einsetzen könntest, aber er bringt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Neutralisierer mit. Dann bist du hilflos.«
»Steck die Schriftrollen in den Zylinder. Das Team wartet bei mir zu Hause auf uns. Wir brauchen einen Plan.«
Er rührte sich nicht von der Stelle.
Ich seufzte. »Pass auf, wenn wirklich ein Neutralisierer vor Ort ist, ist das Team-Meeting umso wichtiger. Wir müssen vorbereitet sein. Alle Bruchstücke werden an einem Ort sein, Sekretär. Heute Abend bringen wir das zu Ende.«
»Oder wir müssen zusehen, wie Isaac ein Gott auf Erden wird. Dann kann ihn niemand mehr aufhalten.«
»Das Risiko bestand schon immer.« Ich warf ihm den Zylinder zu. »Sei kein Spielverderber.«
»Oh, ich werde ein Bombenspiel abliefern.« Rafael schlug mit der Hand auf die erste erleuchtete Säule, und ich benutzte den Holzring, um mich vom Acker zu machen, bevor ich die Auswirkungen der Magie spüren konnte.
Arkady, Levi und Priya saßen in meinem Wohnzimmer. Sie alle hatten keine Ahnung, warum Miles sie hierherbestellt hatte. Den Sicherheitschef hatte ich auf dem Rückweg vom Friedhof angerufen, damit das Grab wieder in seinen Urzustand zurückversetzt wurde. Dafür hatte ich ihm erklären müssen, was passiert war, und ich wollte die Geschichte nicht ständig wiederholen müssen, wenn ich auch noch mit den anderen einzeln telefonierte. Nachdem Miles mit Fluchen fertig gewesen war, hatte er sich bereit erklärt, den Rest des Teams zu verständigen.
»Was hast du zu Mimi gesagt, Pickle?«, wollte Arkady wissen, der mitten im Satz das Thema wechselte. Gerade eben hatte er Priya noch erzählt, dass eine der House-Agentinnen schwanger war. »Ich konnte selbst durch das Telefon hören, wie er mit den Zähnen knirscht. Das ist schlecht für ihn. Er muss nachts ohnehin schon eine Beißschiene tragen, damit er seine Backenzähne nicht runtermahlt.«
»Was?!« Ich fuhr zu ihm herum. »Miles tut was?«
Arkady grinste. »Oh, er ist so unheimlich gestresst, und das ist so niedlich.«
Rafael erschien im Raum und nickte mir zu. Aschfahl im Gesicht lehnte er sich an die Wand neben dem Fenster und starrte finster auf die Straße hinunter. Levi ließ sich mit undeutbarem Ausdruck in seinem Sessel zurücksinken und legte die Fingerspitzen aneinander.
»Was ist los?« Priya schaute von Rafael zu mir. »Und warum siehst du aus, als wäre das Mädchen aus Unsere kleine Farm gerade zombiemäßig aus einem Grab gekrochen?« Sie wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum. »Du riechst auch dementsprechend.«
»Tut mir leid. Du liegst gar nicht so falsch.« Ich setzte mich und schnippte mit den Fingern, um Mrs Hudson zu mir zu rufen. Nachdem ich sie hochgenommen hatte, streichelte ich ihr übers Fell, um etwas Kraft zu tanken. Sie schnüffelte an mir, nieste und stupste mich mit ihrer feuchten Nase in den Bauch.
»Die bamah hat sich nicht auf das Amulett bezogen«, erklärte ich. »Es war tatsächlich ein erhöhter Ort. Und auch ein geschlossener. Gavriellas Grab. In ihrem Sarg befanden sich zwei Schriftrollen: die gefälschte, die Adam in Auftrag gegeben hat, und Chariots echte. Deepa Anand war tatsächlich ein Mitglied der Zehn, hatte aber nach dem Tod ihrer Tochter eine Gewissenskrise und hat deswegen entschieden, dass keiner von Chariot Unsterblichkeit verdient. Also hat sie die Schriftrollen versteckt, weil sie beide für echt gehalten hat, und zwar an dem einzigen Ort, an dem der Rest der Zehn nie suchen würde.«
»Das ist schon irgendwie genial«, sagte Priya.
Das war der leichte Teil der Geschichte gewesen.
»Und?« Levis Tonfall war verdächtig ruhig.
Ich fuhr durch das weiche Hundefell und suchte Trost in Mrs Hudsons Körperwärme. »Nicola hat mich nicht dafür angeheuert, sie zu finden. Das war Isaac. Er hat mich ausgetrickst, und jetzt besitzt er die beiden Schriftrollen und hat unsere Mütter entführt. Der deutsche Attentäter ist bei ihm, und ich habe noch etwa neunzig Minuten Zeit, bis ich unsere Bruchstücke des Sefer gegen Talia und Nicola eintauschen muss.«
Blut triefte aus den langen Schnitten, die sich plötzlich in unseren Wänden bildeten. Rafael machte erschrocken einen Satz zur Seite.
»Fuck!« Priya riss eine Hand nach oben und drückte sich nach hinten ins Couchpolster.
Levi reagierte mit Illusionen auf schlechte Neuigkeiten. Ich hatte mir das als Erinnerung mit Kugelschreiber auf die Handfläche geschrieben, und trotzdem zog ich die Füße nach oben, um dem Blut zu entgehen, das wie im feuchten Traum eines Geisterjägers zwischen den Bodendielen hervorquoll.
»Levi«, sprach ich ihn mit einer Ruhe an, die ich nicht empfand. »Hör auf.«
Ein Muskel in seiner Wange zuckte. Beißender Gestank breitete sich aus, und ein dunkles Knurren hallte von Wand zu Wand. Mrs Hudson hob den Kopf und erwiderte es in wechselnder Richtung. Der Raum erbebte, und alle außer Levi klammerten sich panisch an den Möbeln fest. Ach ja. Ich warf einen Blick auf meine Notiz und hoffte, dass ich mit meiner Vermutung richtiglag.
»Lass das bitte sein«, sagte ich.
Levi blähte die Nasenflügel, und seine Brust hob und senkte sich mit lauten Atemzügen, doch die Illusion verschwand.
Arkady schaute sich um, als wollte er sich versichern, dass ihm keine Gefahr mehr drohte. »Wo soll der Austausch stattfinden?«, fragte er.
»Bei Lockdown Cybersecurity «, erwiderte ich.
»Oh.« Priya ließ die Fingerknöchel knacken und klappte ihren Laptop auf. »Es muss dort eine Schwachstelle geben, die wir ausnutzen können. Professionelle Cybersicherheit, dass ich nicht lache.«
»Stimmt.« Arkady zeigte ihr einen hochgereckten Daumen. »Und Levi könnte uns mit einer Illusion aussehen lassen, als ob wir …«
»Gehen wir davon aus, dass Isaac einen Neutralisierer mitbringt«, unterbrach Rafael die Brainstorming-Session und brachte Pri und Arkady damit zum Schweigen.
Priyas Hände verharrten mitten im Tippen über der Tastatur. »Du kannst da nicht ohne Magie hin.«
Levi marschierte ruhelos im Raum auf und ab. »Zwei Frauen, die mit Waffen bedroht werden, ein Auftragsmörder, ein Neutralisierer, die mögliche Unsterblichkeit meines Vaters und fünfzehn Jahre Intrigen, die nun auf ihren Endpunkt zusteuern.« Der Blick aus seinen sturmblauen Augen richtete sich auf mich. »Habe ich was vergessen?«
Die Zeit dehnte sich zwischen uns aus, und unzählige Varianten von Levis möglicher Reaktion liefen gleichzeitig vor meinen Augen ab. Er ging, er blieb, er tröstete mich, er verfluchte mich. Zu welcher Geschichte würde sich das entwickeln?
»Das deckt so ziemlich alles ab«, meinte ich.
Er nickte. »Und wie gehen wir die Sache an?«
Ich blinzelte hastig die Tränen weg, die mir in die Augen stiegen, und senkte den Kopf, bis meine Selbstbeherrschung wieder da war. »Das größte Problem ist der Neutralisierer. Wie können wir den ausschalten? Die durchsuchen mich sicher, bevor sie mich auch nur in Isaacs Nähe lassen, also kann ich nichts mitnehmen, was verdächtig wirkt. Wenn wieder Magie im Spiel ist, steigen unsere Chancen auf einen Sieg enorm.« Ich schlug einen leichteren Tonfall an. »Außer ich versetze meinen Sekretär wieder ins Koma, weil ihm jemand das Amulett entrissen hat, um es gegen mich zu verwenden.«
Mrs Hudson jaulte. Ich ließ sie los, woraufhin sie zu Boden sprang.
Rafael wedelte aufgeregt mit den Händen. »Oh, das habe ich ganz vergessen! Ich wollte euch ja noch von meinen Recherche-Ergebnissen erzählen.«
Wir starrten ihn alle mehr oder weniger ungläubig an, weil er ausgerechnet jetzt über angestaubte Fakten sprechen wollte, die keine Rolle spielten, wenn wir vielleicht demnächst ins Gras bissen.
»Ich meine …« Rafael sammelte sich wieder. »Unsere Annahmen über das Amulett waren von Anfang an falsch. Es ist nicht der Kuss des Todes, sondern Ascheras Kuss. Die Übersetzung hat eine Weile gedauert, aber dank der Notizen des ersten Sekretärs habe ich erfahren, dass die erste Sucherin dieses Amulett gemeinsam mit ihrer Magie von Aschera als zusätzlichen Schutz erhalten hat. Den Kuss der Göttin. Deswegen hattest du keine Suchtsymptome mehr, Ash, und deswegen hat es mich aufgeweckt, als meine eigene Magie dazu nicht ausgereicht hat.«
»Wurde der Name dann geändert, als Chariot es in die Hände bekommen hat?«, fragte Arkady. »Warum? Weil die Zeit der Jezebel abgelaufen ist, sobald sie ihr Blut bekommen?«
»Das war zum Teil bestimmt ein Grund«, erwiderte Rafael. »Aber es ist auch ein Wortspiel. Auf Hebräisch haben die Wörter ›Kuss‹ und ›Waffe‹ die gleiche Wurzel. Neshek. «
»Das ist so cool«, warf Priya ein.
»Finde ich auch«, stimmte er ihr zu.
»Oder aber es öffnet die Tür für eine ganze Reihe unangenehmer Missverständnisse«, meinte ich. »Stellt euch mal vor, die Polizei hält jemanden an und sagt: ›Entschuldigen Sie, Sir. Haben Sie irgendwelche Küsse dabei?‹«
Levi grinste schief, doch Priya und Rafael warfen mir nur mitleidige Blicke zu.
»Ihr seid solche Spaßbremsen …«, fuhr ich fort. »Aber wie dem auch sei. Das Amulett wird für meine Sicherheit sorgen, weil es mit dem Schutz der Göttin belegt ist. Das wusste ich doch längst.«
»Es ist kein passiver Schutz«, entgegnete Rafael. »Entscheidung spielt dabei eine Rolle. Die Aufzeichnungen bestätigen das ebenso wie meine eigene Erfahrung. Ich hatte die Wahl, ob ich aufwachen wollte oder nicht.«
»So viel gab es da aber nicht zu entscheiden«, sagte ich.
»Doch, weil ich keine Ahnung hatte, ob dein Plan funktioniert hat und ob ich als ich selbst oder als dieses Baal-Monster aufwachen würde. Ich habe entschieden, an Ashira zu glauben.« Rafael hielt kurz inne und schenkte mir ein Lächeln. »Nachdem die Wahl getroffen war, hat die Magie des Kusses sie wahr werden lassen.«
Arkady zog eine Augenbraue nach oben. »Die Macht, Entscheidungen zu treffen? Das ist nicht gerade eine Wahnsinnswaffe.«
»Ach nein?«, mischte sich Levi ein. »Wenn du eine Pistole in der Hand hältst, kannst du entscheiden, das Leben eines Menschen zu beenden oder Gnade zu zeigen. Du kannst dich dafür entscheiden, trotz aller Widerstände weiterzumachen. Dich den harten Wahrheiten zu stellen und dadurch deinen Entscheidungen mehr Substanz zu verleihen.«
Rafael schob sich die Brille höher auf die Nase. »Ganz genau. Die Wahl zu haben, ist die mächtigste Waffe, die es gibt. Und die Entscheidung war auch nicht einfach. Wenn du mit der Magie des Sefer konfrontiert wirst, steht dir dasselbe bevor, Ash. Mit der Feder hast du es bereits einmal geschafft.«
Hatte ich? Ich hatte mir eingebildet, den Geruch der Federmagie ganz schwach wahrzunehmen, als ich das Amulett in Levis Büro getragen hatte. Waren das meine Zweifel gewesen, die sich zu Wort gemeldet hatten, oder hatte das Amulett mir den Dienst versagt?
»Das war etwas anderes«, meinte ich. »Die Feder war immer noch in dem Etui, und ich habe mich nicht mit dem Herzen ihrer Magie verbunden, wie ich es beim Sefer tun muss, um es zu zerstören. Wir wissen nicht, wie mächtig die Bruchstücke sein werden, wenn sie erst wieder vereint sind. Ich könnte mit einem glücklichen Lächeln in dieser Magie ertrinken, egal, wie sehr ich mich für etwas anderes entscheide. Vergessen wir das Amulett.«
»Du zweifelst an dir«, erwiderte Rafael.
»Rafael, wenn du nicht genug Kraft hast, um mich von dem Abgrund zurückzuholen, wird es so oder so nicht funktionieren.«
Wir waren so nah dran. Ich musste meine Grenzen realistisch einschätzen. Wir konnten uns keine Fehler leisten, schon gar nicht welche von mir. Das Schicksal der Welt hing von mir ab. Das Leben meiner Mutter hing von mir ab. Sie brauchte mich – zum allerersten Mal.
Rafael seufzte. »Ich schaffe das.« Er nahm das Amulett ab und reichte es mir. »Denkst du wenigstens über das nach, was ich gesagt habe?«
Du wirst vor einer Wahl stehen , flüsterte eine Stimme in meinem Kopf, als ich die Kette entgegennahm. Aber es ist nicht die, die du erwartest.
Ich ließ das Amulett fallen.
»Ash?« Stirnrunzelnd hob Levi es auf.
»Alles okay.« Ich schüttelte das seltsame Gefühl ab. »Ich nehme den Kuss für alle Fälle mit, wenn du dich dann besser fühlst, Rafael. Der Schutzzauber, der darin eingewoben ist, hilft sicher irgendwie gegen die Magie des Sefer. «
Aus der Küche drangen Knuspergeräusche, weil der Hund sich gerade über sein Trockenfutter hermachte.
Levi reichte mir das Amulett und setzte sich dann halb auf die Armlehne meines Sessels. Er war mir nah genug, dass ich seine Körperwärme spüren konnte, doch den restlichen Abstand zwischen uns überwand er nicht. Ich drehte mich ein Stück von ihm weg.
»Wir sorgen für eure Sicherheit. Für euer beider Sicherheit«, meinte er. »Ich sage es ja nicht gerne, aber da gibt es noch ein weiteres großes Problem: den Rest von Chariot.«
»Die könnten uns vielleicht sogar von Nutzen sein«, erwiderte ich. »Die Zehn haben sich bereits gegenseitig dezimiert, und es scheint, dass bei ihnen ohnehin jeder nur an seinem eigenen Vorteil interessiert ist, wenn es um das Sefer geht. Wenn die anderen also auftauchen, ist das für Isaacs Leute genauso problematisch wie für uns.«
»Trotzdem sind sie vor allem hinter dir her«, gab Levi zu bedenken. »Ich werde Agenten außerhalb des Gebäudes positionieren.«
Ich tätschelte ihm das Bein. »Gute Idee. Ich rufe Lux und ihre Leute an. Die haben mir ihre Hilfe angeboten.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein.« Arkady schnaubte spöttisch.
»Ash, ich verstehe ja, dass du uns die bestmögliche Ausgangssituation verschaffen willst, aber ich glaube nicht, dass diese Leute Chariot etwas entgegenzusetzen haben. Das wäre ihnen gegenüber nicht fair«, sagte Levi.
»Schluss damit«, entgegnete ich. »Rafaels Meinung zu dem Thema ist die einzige, die bei dieser Sache für mich zählt. Wir sind die beiden mit Aschera-Magie. Diese Leute sind Anhänger von Aschera. Wir erleben hier gerade den Willen ihrer Göttin auf Erden. Wenn ich eine Gläubige wäre, würde ich gerne daran teilhaben, oder ich würde zumindest selbst darüber entscheiden wollen, ob ich anwesend bin. So viel Respekt sind wir ihnen schuldig. Rafael?« Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Es ist möglich, dass es ein taktischer Fehler war, dass wir sie in der Vergangenheit außen vor gelassen haben«, meinte er zögerlich. »Ich bin nicht mehr bereit, alle Risiken allein zu tragen. Wenn sie wahrhaftig an Aschera glauben, dann sind wir zusammen stärker als allein. Ruf sie an.«
Als wir endlich einen durchführbaren Plan entwickelt hatten, der stark davon abhing, dass alles so klappte, wie wir uns das vorstellten, blieb mir kaum noch eine halbe Stunde. Ich duschte in Windeseile und entsorgte das Blumenkleid im Müll. In komplett schwarzer Montur und mit Pferdeschwanz fühlte ich mich gefestigt genug, um einen immens wichtigen Teil unseres Plans abzuholen.
Priya schlüpfte in mein Schlafzimmer. »Arkady und Rafael sind gerade gegangen. Sie stoßen bei Lockdown zu uns.«
»Gut. Zieh dich zurück, sobald du deinen Teil getan hast. Ich meine es ernst, Pri.«
Ihren Augen blitzten verärgert auf. »Das habe ich schon bei den ersten sechs Malen verstanden.«
Ich breitete die Arme aus. »Den Palast hier kann ich mir niemals allein leisten.«
Sie schnaubte, platzte dann aber mit einem Lachen heraus, das frappierend an das Brüllen eines Esels erinnerte. »Du bist ein Vollpfosten, Holmes.«
»Ja, tja. Karaoke morgen Abend?«
»Die erste Runde geht auf mich.« Priya kniff die Lippen zusammen und wandte sich zum Gehen, doch ich packte sie an der Hand und zog sie in eine feste Umarmung.
»Hab dich lieb, Adler.«
Priya wischte sich über die Augen. »Ich sage das nicht, bevor du nicht wieder sicher zu Hause bist. Basta.«
Ich lächelte. »Damit kann ich leben.«
»Ich muss mich fertig machen«, murmelte sie und stapfte in ihr eigenes Zimmer.
Mrs Hudson trottete mit Pinky im Maul in den Eingangsbereich, als ich mir gerade die Motorradstiefel anzog, und warf mir ihre Freundin vor die Füße.
»Du willst auch helfen, nicht wahr, Süße? Ich bin bald wieder da, okay?« In die Schlacht zu reiten, wäre so viel einfacher, wenn da nicht all die Leute – und der Hund – wären, um die ich mich sorgte und zu denen ich vielleicht nie wieder zurückkommen würde. Die vielleicht selbst nicht mehr zurückkamen. Die alte Ash wäre lieber allein gewesen.
Bis Dad verschwand, war ich ein glückliches Kind gewesen, doch dann war mein Leben von einer Wut bestimmt worden, die sich wie ein Feuer ausbreitete. Feuer konnte wunderschön sein, aber man musste es am Laufen halten, und genau in diese Falle war ich getappt: Ich hatte beständig Material nachgelegt und das meinen Antrieb genannt. Als mein Team in mein Leben getreten war und meine Beziehung zu Levi sich verändert hatte, war ich Gefahr gelaufen, vom Feuer verschlungen zu werden, doch dann hatte ich eine Wahl getroffen. Für einen kurzen, wundervollen Moment hatte ich mich für Glück entschieden.
Als es mir dann wieder entrissen wurde, hatte ich es nicht geschafft, einen anderen Weg zu ähnlich positiven Emotionen zu finden, sondern war in das alte und für mich bequeme Muster der Wut zurückgefallen, wie es sich für eine Süchtige gehörte. Wie sollte ich auch ohne die Wut als Motor für Gerechtigkeit sorgen?
Aber Trauer, Vernichtung oder verquere Rachefantasien mussten nicht immer mein Antrieb sein. Ich konnte Dinge tun, weil ich es wollte. Einfach nur, weil sie mich glücklich machten.
Ich drückte Mrs Hudson einen Kuss zwischen die Ohren und warf dann ihr Spielzeug ins Wohnzimmer. Schwanzwedelnd wackelte sie hinterher.
»Wie ging es meiner Mutter?« Levi klang niedergeschlagen. Er war schon lange nicht mehr der schlaksige Junge, den ich damals kennengelernt hatte, aber seitdem war mir nie wieder jemand mit so blauen Augen begegnet, selbst wenn sie wie jetzt finster und sorgenvoll dreinblickten.
»Sie hatte Angst, war aber unverletzt.« Wir ignorierten beide das »noch«, das schwer in der Luft hing. »Levi, ich …« Ich wusste nicht, was ich eigentlich sagen wollte. Etwas Bedeutungsvolles, aber ich sah die ganze Zeit den Dreizehnjährigen im Camp-Ruach-Shirt vor mir, der er gewesen war, als wir uns kennenlernten. Damals, als er nur ein weiterer verwöhnter, reicher Junge mit einem perfekten Leben gewesen war und ich mich in einem Sumpf aus Wut gesuhlt hatte. Damals, bevor alles zwischen uns so komisch und kompliziert geworden war.
Wir befanden uns nicht mehr in dieser Geschichte, aber das Ende unserer neuen kannte ich auch noch nicht. Jetzt oder nie. Ich schluckte und suchte seinen Blick …
Doch da gab er mir einen Kuss auf die Stirn. »Mach sie fertig, Ashira Cohen.«
Das war genau wie vor dem Kampf gegen den Schatten, bei dem er mich durch eine Illusion wie er selbst hatte aussehen lassen – und genauso enttäuschend platonisch. Ich meine, wow. Avril de Leon war tot und böse gewesen, und irgendwie hatte sie trotzdem einen besseren Abschiedskuss bekommen als ich. Waren Endschlachten heutzutage gar nichts mehr wert?
Ohne ein weiteres Wort verließ er die Wohnung.
Ich schnappte mir den Metall-Aktenkoffer, in dem sich der Zylinder mit den Schriftrollen befand, und drückte einen Finger auf das Schloss, um es zu schließen. Der Holzring war nun in Rafaels Besitz, also umfasste ich die Goldmünze an meiner Kette und stand einen Herzschlag später in Hedon. Vor mir erstreckte sich das Geschäftsviertel unter dem gelben Halbmond.
Nach Vanille duftende Nachtluft liebkoste meine Haut. Ich folgte dem Schild der Ramen-Schüssel zu meinem Ziel, dem Geschäft der Steampunk-Katze. Dort erwarb ich eine kleine, mit schwarzen Rosen besetzte Haarspange, die ich mir in den Pferdeschwanz steckte.
Mein nächster Halt war die Steinterrasse Ihrer Hoheit. Die Königin, Isabel und Moran ließen sich gerade gegrillten Lachs und Pasta schmecken, tranken Wein und unterhielten sich lachend. Ihre Hoheit trug zwar wie immer Rot, doch das Tischtuch war hellgelb, und das Geschirr hatte ein fröhliches buntes Muster. Isabel hatte die Farbe zurück ins Leben ihrer Mutter gebracht. Genau dasselbe würde ich auch gern für meine tun.
Moran sah mich als Erster und rutschte mit seinem Stuhl nach hinten. »Ashira?« Isabel winkte mir zu, und ich rang mir ein Lächeln für sie ab. Moran runzelte die Stirn. »Gibt es ein Problem?«
Ich drückte mir den Aktenkoffer mit beiden Armen gegen die Brust. »Ich treffe mich gleich mit Isaac und tausche Schriftrollen gegen meine Mom und Levis Mutter ein. Ist also nicht unter den Top Ten meiner besten Tage.« Ich brachte sie kurz auf den neuesten Stand.
»Wie können wir dir helfen, blanquita ?« Die Königin kam zu mir rüber.
Dieses unerwartete Angebot ließ mich stutzen. »Hm, ja, könnten Sie die Münze für mich verwahren? Ich kann nicht riskieren, dass sie in die falschen Hände fällt, und das hier ist der sicherste Ort dafür. Aber ich hole sie mir wieder.«
Sie nahm die Münze entgegen. »Natürlich.« Ich wusste sehr zu schätzen, dass in ihrer Antwort nicht mal eine Spur Sarkasmus mitschwang. »Können wir sonst noch etwas für dich tun?«
»Kann mich jemand zu Lockdown Cybersecurity bringen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Moran.
»Vielleicht könnten wir mal zusammen ausgehen, wenn das alles vorbei ist«, schlug Isabel vor.
»Priya und ich gehen morgen zum Karaoke.« Ich hoffte inständig, dass ich da nicht zu optimistisch war. »Komm doch mit.«
Sie lächelte zurückhaltend. »Ich war noch nie bei einem Mädelsabend.«
Ich musste überleben. Wir alle. Isabel hatte so viel durchgemacht, sie verdiente einen Mädelsabend in einer Kneipe mit klebrigen Fußböden, knusprigen Pommes, guter Musik und Gelächter. Unendlich viel Gelächter.
Und ja, daraus würde sich möglicherweise nichts weiter ergeben. Wenn ich in den letzten Monaten eins gelernt hatte, dann dass es in Beziehungen keine Garantien gab, egal, wie sehr man sie sich wünschte. Vielleicht würden wir Freundinnen werden, vielleicht auch nicht, und das würde wehtun, aber ich würde es überstehen und neue Leute kennenlernen. Ich musste einfach nur weitermachen und Menschen an mich heranlassen, manchmal sogar entgegen meinem Bauchgefühl. Privatdetektivin zu sein, war mir nicht mehr genug.
»Es wird der erste von vielen Mädelsabenden«, versprach ich ihr.
Die Königin umarmte mich. Ihre Schulter fühlte sich unter meiner Wange weicher an, als ich erwartet hätte, und sie roch nach Rosen. »Hasta la próxima, chica.«
Moran fasste mich am Arm. »Bereit?«
Ich nahm mir einen letzten Moment, um Hedon auf mich wirken zu lassen. Magische Schilder erleuchteten den Himmel in der Ferne, der Statuengarten lag in den Schatten, und dort, verdeckt von dem flatternden weißen Vorhang an der Verandatür, die in den Palast führte, stand mein Vater.
Dieses Mal hatte er keinen markigen Spruch oder Kosenamen für mich. Er nickte mir nur zu und tippte sich dann zweimal mit der Faust gegen die Handfläche. Das war sein Zeichen gewesen, wenn ich gleich etwas tat, was mir Angst machte – wie zum ersten Mal allein Fahrrad zu fahren oder vom hohen Sprungbrett im Schwimmbad zu springen. Es läutete den Countdown ein. Gleich ging es los.
Eines unserer größten Talente als Menschen war das Geschichtenerzählen. Wir erzählten uns selbst immerzu Geschichten. Und es spielte dabei keine Rolle, ob diese real waren oder nicht, denn manchmal brauchte man schlicht eine Geschichte, die einem sagte, wer man sein sollte. Ein Detektiv, der einen zwielichtigen Superschurken jagte. Ein Mädchen, das entgegen allen Prognosen überlebte. Aber irgendwann endeten alle Geschichten.
Vielleicht ist es ja einfach nur das. Wir leben unser Leben wie eine Geschichte, und ich muss in deiner eine bestimmte Rolle spielen. Eines Tages brauchst du die nicht mehr.
»Ich bin bereit«, sagte ich.
Adam hielt einen Finger hoch, einen zweiten und einen dritten.
Los.
Meine Augen wurden feucht, doch ich lächelte und nickte.
Er zwinkerte mir zu, und dann waren Moran und ich weg. Wir materialisierten uns einen Block von dem Gebäude entfernt, in dem sich Isaacs Firma befand.
»Nun denn.« Moran verbeugte sich tief. »Bis wir uns wiedersehen, Jezebel.«
»Bis wir uns wiedersehen, Häschen.«
Er seufzte übertrieben und verschwand.
In fünf Minuten musste ich im Gebäude sein. Meine Schritte waren laut auf dem Gehweg und hallten von den leeren Häusern um mich herum wider. Inzwischen war der Abend hereingebrochen und die Straße leer. Zumindest schien es so.
Die House-Agenten und Lux’ Leute hatten sich in Stellung begeben. Miles koordinierte sie und führte das Kommando. Ihre Aufgabe war es, weitere Mitglieder von Chariot daran zu hindern, das Gebäude zu betreten. Miles hatte sich ein Bild von den magischen Fähigkeiten der Gläubigen gemacht und Zweierteams aus je einem von ihnen und einem von seinen Leuten gebildet.
Ich hatte kaum einen Fuß aufs Firmengelände gesetzt, da verlor ich auch schon den Kontakt zu meiner Magie. Wie erwartet hatte Isaac einen Neutralisierer zur Party mitgebracht.
Ich richtete meinen Blick nach oben zu den Sternen. Es war ein vollkommen normaler Abend, und nichts wies darauf hin, dass heute ein vierhundert Jahre währender Kampf zu Ende ging. Ich flüsterte die Namen meiner Vorgängerinnen wie ein Gebet: Serach, Tehilla, Liya, Catriona, Atef, Vasilisa, Thea, Rachel, Nikolia, Freyja, Vishranti und Gracie Gavriella. Ich werde euch nicht enttäuschen. Euer Tod wird nicht umsonst gewesen sein.
In diesem langwierigen Spiel stand ich nun im Schach, aber ich konnte immer noch gewinnen. Erhobenen Hauptes ging ich los, um meinen letzten Zug zu machen.
Hans erwartete mich mit seiner Waffe in der Hand vor der Eingangstür des dreistöckigen Gebäudes. Neben ihm standen ein muskelbepackter Kerl und Avi Chomsky. Der Neutralisierer, der meinen Vater ermordet hatte.
Sorgfältig achtete ich darauf, keine Reaktion zu zeigen, nur ein Muskelzucken an meinem Kiefer konnte ich nicht verhindern. Isaac wollte mich aus dem Konzept bringen? Da musste er aber früher aufstehen. Adam war tot. Ihn konnte ich nicht mehr retten, dafür schwebte meine Mutter nach wie vor in Gefahr. Mit dieser miesen Aktion hatte Isaac mir nur endgültige Klarheit darüber verschafft, wie sehr ich es genießen würde, ihn zu zerstören. Ich war hoch konzentriert.
»Du Schlampe«, zischte Avi. »Wegen dir wäre ich beinahe gestorben. Ich hoffe, ich kann mich heute dafür revanchieren.«
Eine Antwort sparte ich mir, stattdessen streckte ich die Arme aus und stellte die Beine etwas breiter, als der Wachmann auf mich zukam, um mich zu durchsuchen.
»Was ist das?«, wollte er wissen und drückte seitlich gegen einen meiner Möpse.
»Tja, weißt du«, antwortete ich. »Das nennt man Brüste. Erkennst du wahrscheinlich nicht ohne Nippel-Quasten und … shit. Pass auf, wo du hinfasst.«
Er fummelte mit seinen Eisgriffeln seitlich in meinem BH herum und zog den pinken Mini-Taser heraus, der etwa die Größe eines USB-Sticks hatte. Lachend knipste er die darin verbaute Taschenlampe an, bevor er das Gerät in seine Hosentasche steckte. »Niedlich.«
»Hat sie noch was bei sich?«, fragte Hans kalt.
Der Mann beendete seine Durchsuchung. »Sauber.«
»Mach den Koffer auf«, meinte Hans.
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn wir den Austausch vornehmen.«
»Schneid ihr den Finger ab«, schlug Avi vor. »Mach das Ding selbst auf.«
»Wisst ihr, in welche Richtung ich meinen Finger auf das Schloss legen muss?«, fragte ich. »Wenn ihr es falsch herum macht, wird der Koffer mit Tinte geflutet. Dann sind die Schriftrollen hinüber.« Ich zuckte die Schultern. »Eure Entscheidung. Ich kann euch ohne Magie sowieso nicht aufhalten.« Ich wollte mich heute wirklich von keinem meiner Finger trennen, schaute die Männer aber weiterhin ruhig an und blieb entspannt stehen.
Hans untersuchte das Schloss so lange, dass ich schon damit rechnete, dass er Avis Vorschlag folgen würde. Mein Puls ging in die Höhe. »Isaac wird es ein Vergnügen sein, dein Schloss persönlich zu knacken«, meinte er dann jedoch.
»Ich weiß, dass das nicht Ihre Muttersprache ist, aber Sie lassen das Ganze unnötig schräg klingen.«
Hans nickte seinem Handlanger zu, der mich daraufhin am Arm packte und ins Haus zerrte. Levi hatte mir versichert, dass es keine Schutzzauber gab, aber ich wappnete mich innerlich trotzdem dagegen, als ich über die Schwelle trat. Meine Absichten waren definitiv feindselig.
Die Wände in dem weitläufigen Eingangsbereich waren stahlgrau, und das Mobiliar zeichnete sich durch starre Linien und steife Textilien aus. Alles hier sollte Stärke demonstrieren.
Mithilfe einer Schlüsselkarte und seines Daumenabdrucks öffnete Hans eine Metalltür. Er führte uns in einen großen Raum mit mehreren Reihen weißer Tische, an denen sich je zwei Arbeitsplätze mit Flachbildmonitoren befanden. Mondlicht strömte durch die vielen Fenster herein, und die eingelassenen Oberlichter warfen helle Flecken auf den Boden. Auf der gegenüberliegenden Seite wartete eine weitere Tür auf uns.
Der Raum dahinter war beinahe so groß wie der erste, aber hier gab es überall Sitzsäcke, Sofas und sogar – igitt – einen Kicker-Tisch. Isaac war ja ein richtiger Hipster. An der Wand befand sich außerdem eine kleine Küchenzeile.
Die Möbel waren aus dem Weg gerückt worden. Nicola und Talia standen sichtlich verängstigt dicht nebeneinander. Ein weiterer Schläger – er war kahl und ebenfalls bewaffnet – beaufsichtigte sie. Nicolas Verrat tat immer noch weh, aber Talia hatte ich vergeben, dass sie von mir verlangt hatte, meine Magie wieder mit einem Bannzauber zu belegen. Doch selbst wenn ich auf die beiden wütend gewesen wäre, hätte ich trotzdem alles in meiner Macht Stehende getan, um sie sicher hier rauszubringen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und riss mich zusammen.
Zwei Pistolen, zwei Muskelprotze, ein Auftragsmörder und ein Neutralisierer. Die Chancen könnten schlechter stehen. Nicht viel, aber immerhin.
Isaac saß auf einem Bürostuhl, den Zylinder mit den beiden Chariot-Rollen auf seinem Schoß. »Ganz pünktlich.«
Ich konnte gerade noch ein Grinsen unterdrücken. Es war riskant gewesen, darauf zu spekulieren, dass Isaac seine Bruchstücke mitbringen würde, aber ich hatte mir schon gedacht, dass er keinen Moment länger darauf warten wollte, das Sefer Raziel HaMalakh zusammenzusetzen und unsterblich zu werden. Bonuspunkte gab es dafür, dass er das Bedürfnis hatte, es vor meinen Augen zu tun.
Der Schrank von einem Kerl, der mich reingebracht hatte, blieb zurück, um die Tür zu bewachen. Hans und Avi positionierten sich links von mir außerhalb meiner Reichweite, während der Glatzkopf mit vorgehaltener Waffe weiter bei den Geiseln blieb.
Schreie ertönten von draußen. Alle außer mir und Isaac schauten zu den Fenstern.
»Theresas Fraktion ist gekommen«, sagte Hans. »Wie vorhersehbar.«
»Unsere Leute kümmern sich darum und auch um alle anderen ehemaligen Verbündeten, die sich mir in den Weg stellen wollen«, erwiderte Isaac.
Ironischerweise würde meine Verstärkung ihm helfen, indem sie die Angreifer ausschaltete, aber umgekehrt war das ebenso der Fall. Ich zwang mich, die Schultern zu entspannen. Isaac durfte nicht erfahren, dass ich ebenfalls ein Team mitgebracht hatte.
Er deutete ungeduldig auf den Metallkoffer. »Bringen wir es hinter uns.«
»Immer mit der Ruhe«, entgegnete ich. »Erst kommen Mom und Nicola zu mir rüber, und Ihre Männer machen uns den Weg nach draußen frei. Dann öffne ich den Koffer und schiebe ihn zu Ihnen rüber.«
Isaac runzelte die Stirn und drehte sich mit seinem Stuhl von einer Seite zur anderen. »Ich traue dir nicht.«
»Ich Ihnen auch nicht, aber ich habe keine Magie, wurde durchsucht, und Ihre Leute sind mir zahlenmäßig überlegen. Sie haben meinen Vater umgebracht. Meine Mutter bekommen Sie nicht, also werde ich nichts Dummes tun.«
Talia beobachtete mich aufmerksam und biss sich auf die Unterlippe. Ich entschied, das als Zeichen des Vertrauens in mich zu werten.
»Na schön.« Isaac reihte seine Handlanger mir gegenüber auf und schickte Nicola und Talia zu mir. Eine der tödlichsten Choreografien aller Zeiten. Beide Pistolen waren auf uns gerichtet.
Ich ignorierte die Kampfgeräusche von draußen, stellte den Koffer vorsichtig auf den Boden und beugte mich darüber, um den Daumen auf das Schloss zu legen. Mit der anderen Hand drückte ich den Knopf auf dem winzigen Gerät unter meiner linken Brust.
Den Mini-Taser hatte der Handlanger finden sollen. Die meisten Männer suchten nicht unter der Brust. Frauen waren da viel gründlicher, aber Isaac war ein altmodischer Bösewicht. Er würde keine Frau dafür einstellen, den Job eines Manns zu erledigen.
Meine Schallwaffe entlud sich, und der hochfrequente Ton verursachte Schmerzensschreie um mich herum. Ich griff nach der Rose in meinen Haaren, um sie gegen Avis Arm zu schleudern und damit seine Neutralisierungsmagie auszuschalten, doch bevor ich das tun konnte, löste sich ein Schuss. Ohrenbetäubend laut hallte er im Raum wider.
Talia schrie auf und hielt sich den Arm, während sie zusammenbrach. Ich keuchte auf, doch nichts materialisierte sich in meinen Händen. Ich hatte meine Magie immer noch nicht zurück. Ein Blick zur Tür zeigte mir, dass niemand von außen durchgebrochen war. Talia war von Hans angeschossen worden.
»Du dreckiger Mistkerl. Dich mache ich fertig.« Ich zog mir den Pullover aus, unter dem ich noch ein Tanktop trug, und wickelte ihn um die Wunde meiner Mutter.
Hans lächelte grausam und senkte die Waffe. Er war der Einzige im Raum außer mir, dem das Geräusch nichts ausmachte. »Womit? Dein kleiner Trick hat nicht funktioniert. Denkst du, du bist die Erste, die das versucht? Du bist gar nichts.«
Talia drückte leise weinend meine Hand. Ab und an wimmerte sie abgehackt. Ich erwiderte die Geste. Nicola sank neben mir auf die Knie und schob mich aus dem Weg, um an meiner Stelle Druck auf die Wunde auszuüben.
Hans verließ seine Position an Isaacs Seite und kam zu uns, um meiner Mutter die Mündung der Pistole an die Schläfe zu halten. »Versuchen wir es noch einmal.«