KAPITEL 27

Ich öffnete den Koffer, entfernte den schützenden Schaumstoff von dem Zylinder und schob das Ding dann Isaac zu. Eisige Kälte breitete sich in meiner Brust aus, doch ich drängte die Angst zurück. Meine Kräfte waren unterdrückt. Ich würde die Engelsmagie nicht spüren, solange Avi nicht ausgeschaltet war. Mir blieb noch Zeit.

Ehrfürchtiges Staunen machte sich auf Isaacs Gesicht breit. Er holte die Rollen aus ihrem Behälter und drückte sie mit seinen zusammen.

Nichts passierte .

Für Isaac.

Natürlich verschwor sich die Welt einmal mehr gegen mich, und die Magie des Sefer – sowie meine Fähigkeit, sie zu spüren – widerstand Avis neutralisierenden Kräften. Ich fiel auf die Knie, und mein ganzer Körper verkrampfte sich unter dem Verlangen. Am liebsten wäre ich auf den herben Duft des heißen Sandsturms zugerobbt, der mich von Kopf bis Fuß erfüllte. Das war nicht nur ein Suchtsymptom, die Magie vereinnahmte mich komplett.

Isaac wirbelte zu mir herum. »Bring es dazu, etwas zu tun!«

»Wie denn?« Ich kratzte mit den Fingernägeln über die kalten Fliesen, und das Wasser lief mir im Mund zusammen, weil ich weder das Amulett bei mir hatte noch auf Rafaels Unterstützung zurückgreifen konnte. »Ich hatte bisher nie alle Rollen.«

Isaac schüttelte die Bruchstücke des Sefer . »Sag es mir, oder ich bringe deine Mutter um.«

Beende es. Komm zu uns.

Ja. Nehmt mich mit.

Ich kroch bereits auf das Sefer zu. Alles andere war mir egal. Und so brauchte ich einen Moment, bis Isaacs Drohung zu mir durchdrang. Aber selbst dann war ich mir nicht sicher, ob mich tatsächlich die verzweifelte Gier in Isaacs Blick innehalten ließ oder nicht doch eher Nicola, die mich am Fuß packte und zurückzerrte.

»Die Bruchstücke«, sagte ich, unfähig, mich weiter zu erklären.

»Bleiben Sie stark«, zischte Nicola mir zu.

»Sag mir, was ich tun soll«, verlangte Isaac.

»Bitte nicht.« Keine Ahnung, ob das an Isaac oder das Sefer gerichtet war. Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht. Mein Magen krampfte sich zusammen, als die Engelsmagie in mich hineingriff, um meine Organe neu zu sortieren und sich in meiner Seele zu verbeißen. »Okay. Sie müssen sie in der richtigen Reihenfolge zusammensetzen. Allerdings weiß ich nicht, wie die aussieht, das schwöre ich.«

Isaac musterte mich, wie ich da zitternd auf dem Boden hockte, nickte dann aber. Offenbar kaufte er mir den Unsinn ab. Adam war nicht der einzige Trickbetrüger in der Familie.

Sorgfältig untersuchte er die erste Schriftrolle auf irgendeinen Hinweis.

Die Kampfgeräusche draußen verstummten plötzlich.

Talia griff mit einer blutigen Hand nach mir. Die Schmerzen waren ihr deutlich anzusehen. »Ich liebe dich, Ash. Das habe ich immer getan, und das werde ich auch immer tun.«

»Wie lange dauert das hier noch?«, fragte Avi. »Ich habe einen langen Flug hinter mir.«

Die gelangweilte Kaltschnäuzigkeit des Mannes, der meinen Vater ermordet hatte, holte mich zurück. Ich schaffte es, mir ein bisschen Kontrolle vom Sefer zurückholen.

Ich riss mir das Rosenornament aus den Haaren und stach Hans damit ins Bein. Er schrie auf, und ich warf mich über Talia, wobei ich meinen Kopf mit dem Koffer schützte. Das rettete mir das Leben, als sich ein Schuss aus Hans’ Waffe löste und die Kugel im Metall stecken blieb.

Das Gift breitete sich wie ein Spinnennetz aus schwarzen Linien auf der Haut des Deutschen aus. Die Pistole immer noch in der Hand, schlug er darauf ein, als wollte er ein Feuer löschen, doch das Gift kroch weiter.

»Ach du Scheiße!« Der Schrank-Handlanger machte einen Satz nach hinten. »Ist das ansteckend?«

Ich riss die Waffe aus Hans’ Bein und warf sie nach Avi, den ich an der Schulter erwischte. Bei ihm breiteten sich hellere Linien nach oben über den Hals aus, weil das Gift nicht mehr so stark war wie bei Hans.

Der Glatzkopf schoss auf mich, doch Avi war verletzt genug, um die Neutralisierung aufzuheben, und meine Rüstung manifestierte sich blitzartig. Die Kugel prallte davon ab, ohne Schaden zu verursachen.

Ich konnte mich nicht beherrschen und warf meiner Mutter einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie zuckte zusammen und schaute weg. Ob sie sich je mit meiner Magie arrangierte oder nicht, ich würde trotzdem für sie einstehen.

Assssshhhiiiiirrrraaaaa. Kooooomm.

Mit einem Ruck bewegte ich mich in Richtung des Sefer. Nicola packte mich erneut, aber ich befreite mich aus ihrem Griff. Plötzlich wurde die Tür hinter mir aus den Angeln gesprengt, und die Macht des Sefer schwand, vernebelt von so etwas wie statischen Interferenzen.

Der Glatzkopf richtete die Waffe auf die Tür, doch ich attackierte ihn mit zwei scharfen roten Dolchen. Einer traf ihn am linken Auge, der andere in die Hand, die die Pistole hielt. Er schrie auf und ließ die Waffe beinahe fallen, erwischte sie dann aber noch rechtzeitig wieder.

Niemand war in den Raum gekommen … Noch nicht.

»Isaac … Hilfe …« Hans taumelte auf seinen Boss zu, die Pistole locker in der Hand, doch Isaac hatte kaum einen Blick für ihn übrig, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Schriftrollen richtete.

Rote Augen erschienen und verschwanden um uns herum, und ein tiefes Knurren erschütterte uns alle bis ins Mark. Der animalische Teil meines Hirns schrie mich an, dass ich sofort die Flucht ergreifen sollte. Riesige, haarige Spinnen fielen von der Decke und landeten auf Isaacs Leuten.

Der Glatzkopf verlor die Nerven und schoss auf sie, während der Schrank versuchte, sie totzutreten. Isaac hielt sich die Schriftrollen über den Kopf und sprang zur Seite, um ihnen zu entgehen. Talia und Nicola machten sich ganz klein, und mir lief ein Schauder über den Rücken. Ich wich vor den krabbelnden Ekelviechern zurück, bewegte mich aber weiterhin auf das Sefer zu. Ich konnte nicht anders.

»Scheiß drauf«, entfuhr es dem Glatzkopf.

Die beiden Handlanger verließen das sinkende Schiff und rannten in Richtung Tür, während der verletzte und panische Avi ihnen hinterherhinkte und sich dabei Spinnen vom Körper schlug.

Der Boden bebte, und ich warf einen Blick über die Schulter. Arkady, ein Krieger aus Stein, hielt die drei Flüchtenden auf. Wenn er es bis hierher geschafft hatte, bedeutete das, dass es Miles gelungen war, die Umgebung zu sichern.

Die Spinnen verschwanden, als die Illusion aufgelöst wurde, und der Ruf des Sefer ertönte lauter, frei von magischen Interferenzen. Er hüllte mich ein, streichelte mich in seiner Umarmung und lockte mich mit dem Versprechen, dass alles gut werden würde, wenn ich nur herkam und eine Kostprobe nahm.

Lass mich gehen. Ich bettelte um meine Freiheit, hatte aber keine Wahl. Mit jedem Zentimeter, den ich auf Issac zukroch – der immer noch versuchte, die Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzusetzen –, hasste ich mich selbst ein bisschen mehr.

Der Glatzkopf verschoss sein komplettes Magazin auf Arkady, und ich schrie auf. Hätte er doch stattdessen auf mich gezielt und mich so daran gehindert, mich hilflos weiter auf meine Verdammnis zuzubewegen.

»Ist mir jetzt wegen dir wirklich ein Stück abgeplatzt?« Arkady schwang eine Steinfaust, und die Pistole segelte durch die Luft. »Das wird einen blauen Fleck geben.« Sein zweiter Schlag traf den Kerl am Kinn. Der Handlanger ging wie ein Sack Mehl zu Boden, und Arkady machte kurzen Prozess mit dem anderen Schläger und mit Avi.

Priya rannte in den Raum und legte den drei Männern magieneutralisierende Handschellen an.

»Geh«, flehte ich sie an.

Sie warf mir einen finsteren Blick zu und sagte etwas, das ich nicht begriff, weil der Sirenengesang meinen Verstand komplett ausfüllte. Ich wusste nur, dass ich sie nicht verlieren durfte. Ich durfte keinen von ihnen verlieren.

Die Melodie in meinem Kopf verstummte, und auf einmal hatte ich das Gefühl, jemanden so tief enttäuscht zu haben, dass mir Tränen über die Wangen rannen.

»Tut mir leid«, flüsterte ich.

»Ash?«, fragte Arkady.

Ich starrte ihn blicklos an. Da war etwas Wichtiges, das ich ihm sagen musste. Hans brach zusammen, und das Gift breitete sich in schwarzen Linien spiralförmig weiter über seine Haut aus.

»Stein«, keuchte ich und wischte mir über die Augen.

Arkady schaute zwischen mir und Hans hin und her, fluchte und schnappte sich den Metallkoffer. Er hob den Schaustoffinnenteil heraus und griff nach dem herzförmigen blauen Steinanhänger, den er über Hans zu einem Pulver verrieb. Das Gift schwand zusehends.

Arkady nickte in Richtung von Avi und hielt seine pulververschmierten Hände hoch. »Kriegt er auch was davon ab?«

Die Schriftrollen waren beinahe in Reichweite.

»Erst wenn seine Magie weit weg von hier ist«, erwiderte ich abgelenkt.

Priya half Talia auf die Beine und brachte sie und Nicola in Sicherheit, während Hans von Arkady ein Paar Handschellen verpasst bekam und dann zusammen mit den anderen Männern nach draußen gebracht wurde, wo Miles schon wartete.

Ich erreichte Isaac, stemmte mich auf die Beine und entriss ihm die Schriftrollen. Da war kein Sandsturm, keine Enttäuschung. Nichts als eine gähnende Leere in meiner Brust. Ein Schweißtropfen formte sich auf meiner Stirn und rann mir in ein Auge. Ich wischte ihn ungeduldig weg und rieb die Hände schneller über die Schriftrollen, als könnte ich damit einen Funken entfachen und sie dazu bringen, wieder mit mir zu kommunizieren.

Was machte ich denn da? Ich erstarrte.

Isaac schnappte sich die Waffe, die Hans fallen gelassen hatte, und richtete sie auf mich. »Du kannst nichts damit anfangen, solange du die Rüstung trägst«, sagte er. »Wie lange brauchst du, um das Sefer zusammenzusetzen und die Magie zu zerstören? Bist du schneller, als ich dich erschießen werde?« Er schaute zur Tür. »Lunger nicht da draußen herum, Levi. Komm rein.«

Levi erschien mit unleserlichem Gesichtsausdruck im Türrahmen.

»Isaac.«

»Spinnen«, erwiderte sein Vater. »Die mochte ich noch nie.«

Levi lächelte. »Ich weiß.«

»Bist du hier, um deine kleine Freundin doch noch zu retten?«, fragte Isaac.

»Ash braucht meine Hilfe nicht wirklich«, entgegnete Levi und kam zu uns herüber. »Ich bin wegen Mom hier. Du hättest sie nicht in diese Sache mit reinziehen sollen.«

» , deine heilige Mutter.« Isaac grinste höhnisch. »Siehst du nicht, wie schwach sie ist? Aber du, mein Sohn, bist mächtig. Ich habe deine Macht immer gefürchtet, doch jetzt habe ich verstanden, dass ich sie hätte begrüßen sollen. Mein Junge. Ein Anführer. Ein Visionär.«

Levis Gesichtsausdruck verlor ein wenig von seiner Härte, und seine Sehnsucht ließ ihn jünger wirken.

Assssshhhh. Komm.

Nicht jetzt! Einsamkeit füllte meine Lunge wie Brackwasser. Ich verlor Levi an die Anerkennung, nach der er sein Leben lang so verzweifelt gesucht hatte. Als ich versuchte, etwas zu sagen, flackerte meine Rüstung an den Spitzen meiner Stiefel. Sie begann bereits zu schwinden. Ich hatte keine Reserven mehr, um Waffen zu manifestieren oder meine verstärkte Körperkraft zu nutzen, geschweige denn ein überzeugendes Argument zu formulieren, damit Levi stark blieb.

»Gib mir die Schriftrollen.« Isaac zielte mit der Waffe auf meinen Kopf.

Meine Rüstung würde mich beschützen. Zitternd drückte ich mir die Schriftrollen gegen die Brust, und blutrote Tränen strömten mir über die Wangen. Ich musste durchhalten … noch ein bisschen länger …

Als unsere Pattsituation zu nichts führte, wandte Isaac sich wieder an Levi. »Du willst wirklich etwas für deine Leute erreichen? Komm an meine Seite. Werde mit mir unsterblich, und erschaffe eine Zukunft mit Sinn und Bedeutung.« Er streckte seine freie Hand aus.

Levi rieb sich mit dem Handballen über die Brust. Mein Herz schlug viermal stotternd, bevor er endlich seine Entscheidung traf.

»Tja, weißt du, Dad …« Eine Vogelspinne erschien in Levis Hand, und er schnippte sie seinem Vater ins Gesicht.

Isaac machte einen Satz zur Seite, und ich lachte laut auf. Der verängstigte kleine Junge war verschwunden. Ich war noch nie zuvor so stolz auf Levi gewesen.

»Das war eine Bombenillusion«, sagte ich.

Levi zwinkerte mir zu, bevor er sich mit eisiger Miene an seinen Vater wandte. »Um nichts in der Welt möchte ich so sein wie du.«

Er machte eine kleine Geste mit den Fingern, und Rafael erschien direkt hinter Isaac. Levis Illusion hatte nicht nur die Spinnen erzeugt – sondern auch Rafael komplett unsichtbar gemacht, während er sich positionierte, um Isaac zu überwältigen.

Rasch entwaffnete Rafael meinen Feind und richtete die Waffe auf Isaac, bevor er mir das Amulett zuwarf, dessen Kette ich mir sofort über den Hals streifte. Mir war klar gewesen, dass man es beim Filzen gefunden hätte, also hatte Rafael es für mich verwahrt.

Das Verlangen schrumpfte zurück auf ein erträgliches Maß. Mehr oder weniger.

Ich ließ meine Rüstung verschwinden und entrollte eilig die fünf Bruchstücke. Obwohl er verloren hatte, beugte Isaac sich neugierig nach vorn, so begierig war er darauf, das Sefer Raziel HaMalakh vollständig zu sehen.

Als immer noch nichts passierte , breitete sich Enttäuschung auf seinem Gesicht aus. »Es war alles eine Lüge?«

»Nein«, erwiderte ich. »Ein Trickbetrug. Ein wirklich schöner dazu.« Ich ließ eine der Schriftrollen fallen. »Warum es nicht funktioniert hat? Adam hat Ihnen eine falsche Schriftrolle gegeben. Dad war vielleicht nicht schlauer als alle anderen, aber er war definitiv schlauer als Sie.«

Rafael zückte einen Metallzylinder, den er hinten in seinem Hosenbund versteckt hatte, öffnete ihn und warf mir das fehlende fünfte Stück zu. Ich drückte die Schriftrollen zusammen und wappnete mich für ein Verlangen, das stärker war als alles, was ich bisher erlebt hatte.

Es blieb mir erspart.

Die Bruchstücke schwebten durch die Luft, umkreisten sich und streckten sich einander entgegen. Die brüchigen, vergilbten Pergamente verbanden sich zu einer einzigen goldenen Schriftrolle, deren Halterung Perlmuttintarsien zierten. Die Rolle selbst war mit Edelsteinen besetzt und von Symbolen bedeckt, ein so wundervoller Anblick, dass mir davon schwindlig wurde.

Ein Seufzen entwich Isaac, und Rafael und sogar Levi starrten die Schriftrolle ehrfürchtig an.

Sie schwebte zurück in meine Arme, leicht wie eine Feder.

Auf einmal verstand ich. Das Sefer hatte nur wieder vollständig sein wollen, und jetzt, wo es das war, überkam mich ein tiefes Gefühl des Friedens. Wie sollte ich so etwas Wunderschönes zerstören?

Isaac griff danach, doch Levi versetzte ihm einen Ellenbogenstoß gegen die Nase. Blut spritzte, und Isaac fluchte auf Italienisch, während er sich das Gesicht hielt.

»Ashira.« Rafaels Tonfall war unnachgiebig. »Zwing mich nicht, auf dich zu schießen.«

Er verstand es nicht. Das Sefer wollte nur überleben und uns lieben. Armut, Hunger, Krankheit, all das könnte vorbei sein.

Die Welt könnte perfekt sein , flüsterte es mir zu.

Ich könnte perfekt sein.

Ich rieb mir über die Stelle, an der mein Oberschenkelknochen von Metall zusammengehalten wurde und die nun unangenehm pochte. »Damit bist du zu weit gegangen«, erklärte ich der Schriftrolle. »Ich habe mir meine Narben verdient.«

Ich schickte meine Magie in das Sefer Raziel HaMalakh und zog einen wabernden Schatten heraus. Er floss immer schneller, dehnte sich aus und veränderte seine Form, bis er schließlich die eines lebensgroßen Engels annahm, der mit der goldenen Schriftrolle verbunden war wie ein Dschinn mit seiner Wunderlampe.

Isaac stürzte sich hinein. Ohne nachzudenken, tat ich das Gleiche.

Wir landeten auf der Waldlichtung mit dem Mandelbaum. Die Schriftrolle lag am Fuß des Baums auf der Erde, tot und leer gesaugt. Vorsichtig berührte ich sie.

Keine Magie. Die befand sich nun komplett in Isaac.

Dieser drehte sich unkontrolliert lachend um die eigene Achse, und blendend weißes Licht tanzte über seine Haut. Er glühte von innen heraus, und in seinen Augen stand eine kobaltblaue Flamme.

Mein Kopf schmerzte angesichts der Macht, die er ausstrahlte. Die meisten würden sich vor ihm niederwerfen und ihn als Wunder bezeichnen, doch hinter dem Schauspiel lauerte Dunkelheit.

Das Monster hatte gewonnen, und es war meine Schuld.

Die rosafarbenen Blüten des Baums verwelkten und fielen von den Ästen.

Isaac fing eine von ihnen auf und zerdrückte sie in seiner Faust. »Fühlt sich Magie immer so an? So lebendig? Ich spüre mein Herz. Wie das Blut durch meine Adern fließt.« Er schloss die Augen, und kleine Sternchen explodierten aus ihm heraus.

Ich packte ihn am Arm, verpasste ihm rasch einen Schnitt mit einem meiner Dolche und schoss einen roten Strahl meiner Magie in ihn hinein. Seine Magie brannte zwar wie Feuer, doch Isaac war kein Engel. Seine Unsterblichkeit schmeckte nach Wolken, aber sie war immer noch Nefesh-Magie.

Nun blieb nur eine Frage: Riss ich sie ihm so schmerzhaft wie möglich aus dem Leib, oder zeigte ich Gnade und entfernte sie vorsichtig wie bei Eve?

Isaac befreite sich aus meinem Griff. »Du verlierst, Ashira. Genau wie Adam damals.«

Er hätte meinen Dad nicht erwähnen sollen. Vielen Dank, jetzt fällt mir die Entscheidung leichter.

Die Lichtung erbebte. Der Granatapfelbaum brach und stürzte um, seine Früchte zerplatzten und hinterließen blutrote Flecken auf der Erde. Ich stützte mich mit einer Hand am Stamm des Mandelbaums ab und wartete, bis es vorbei war.

Das nächste Beben fällte die Dattelpalmen – und öffnete ein Portal. Isaac rannte darauf zu. Ich würde ihn nicht rechtzeitig einholen, also schleuderte ich einen Dolch in seine Kniekehle. Er jaulte auf, als sein Bein unter ihm nachgab.

Ich zog meine Klinge heraus, stürzte mich auf ihn, sodass er nach hinten kippte, und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Da war zwar schon mehr als genug Blut, um an seine Magie heranzukommen, aber ihm die Zähne einzuschlagen, verschaffte mir trotzdem eine finstere Befriedigung.

Isaac klatschte mir auf die Ohren und stieß mir gleich darauf einen Ellenbogen gegen die Kehle. Ich rang nach Luft und landete einen weiteren Fausttreffer. Unglücklicherweise konnte ich meine Rüstung nicht tragen, während ich seine Magie zerstörte.

Unser Kampf war schmutzig und brutal, aber abgesehen von seiner Langlebigkeit hatte Isaac keine weiteren Kräfte. Angesichts seiner Verletzungen war seine Entschlossenheit, zu dem Portal zu gelangen, durchaus beeindruckend. Zweimal kam er dem blau-violetten Lichtwirbel gefährlich nahe.

»Ich werde dir jeden einzelnen Menschen wegnehmen, der dir etwas bedeutet.« Er lachte. »Ich habe alle Zeit der Welt.«

Das Amulett erwärmte sich an meiner Haut. Jetzt stehst du vor der Wahl, vor die Aschera alle Jezebels stellt. Du hast die Wahl, wie du dein Leben gestalten willst, was ihr selbst als Jahwes Braut verwehrt war. Zerstöre die Magie des Sefer in Isaac, und verliere deine Jezebel-Magie damit für immer.

Isaac rang mit mir, und seine Magie rauchte auf meiner Haut. Ich war erschaffen worden, um die Magie des Sefer Raziel HaMalakh zu vernichten, aber mir war nie der Gedanke gekommen, dass meine Magie mit ihm untergehen würde, wenn ich meine Aufgabe erfüllte.

Hatte Rafael das gewusst? Nein, er hätte es mir gesagt.

Das Amulett meldete sich erneut. Oder behalte die Magie, und der Kampf geht weiter. »Unsterblich« heißt nicht »unverwundbar«. Sobald der Wirt vernichtet ist, kehrt die Magie ins Sefer zurück.

Ich hielt Isaac unter mir fest. Wie sehr hatte ich mir eine spannende Karriere als Privatdetektivin gewünscht, und als ich eine Nefesh geworden war, hatte sie sich mir tatsächlich eröffnet. Und auch jetzt war sie in Reichweite. Ich konnte meine Magie behalten, und alles, was ich dafür tun musste, war genau das, was ich mir geschworen hatte, als ich von Isaacs Rolle in dieser Geschichte erfahren hatte.

Ich musste ihn töten.

Ein roter Magiestrahl wickelte sich um eine meiner Hände, in der anderen erschien ein Dolch.

Entscheidungen.

Es war so einfach, sie in ruhigen Momenten zu treffen. Wenn ich Isaac um die Ecke brachte, konnten wir das vereinte Sefer sicher in der Bibliothek verwahren. Ich umfasste den Dolch fester. Isaacs Angst war ein köstliches Elixier für mich.

Rache würde jedoch nicht die Lücke in mir füllen, die die Ermordung meines Dads dort hinterlassen hatte, und die beste Rache war es ohnehin, sein Leben erfüllt weiterzuleben. Es gab nur einen Weg, das Gedenken an meinen Vater zu ehren.

Vorsichtig schickte ich meine Magie in Isaac und hakte mich in seine ein. Er schrie auf und flehte mich an, damit aufzuhören. Ganz langsam umschloss ich seine Magie und durchwob sie mit roten Verästelungen. Die verwelkten Blüten des Mandelbaums wurden wieder rosa und gesund und umwehten uns in einer sanften Brise.

Mein Körper fühlte sich so leicht an wie seit einer Ewigkeit nicht mehr, und ich hätte schwören können, dass Aschera höchstpersönlich mir zulächelte.

»Nein!«, schrie Isaac auf.

Ein weißer Funke glomm auf, und mir war so, als hätte sich eine von vielen Lunten in mir entzündet. Ich steckte eine weitere an, und das Gefühl wiederholte sich.

Dann hielt ich inne. Ich hatte mich bewusst für diesen Weg entschieden, doch als meine Magie schwand, empfand ich auch tiefen Schmerz.

Isaac spürte wohl irgendwie, was in mir vor sich ging. Er lachte plötzlich überrascht auf. »Du wirst alles verlieren, nicht wahr? Die ganze tolle Magie, die dir so wichtig ist? Bin ich das wert?«

Ja, weil ich mir noch jeden Tag im Spiegel in die Augen sehen musste.

Ich ließ den Rest der Funken die Magie verzehren und wurde selbst mit jedem Funken leerer. War ich jetzt wieder genau die, die ich früher als Weltige gewesen war, oder verschwand ein wesentlicher Teil von mir und würde mich als Schatten meines früheren Ichs zurücklassen? Würde ich mich noch erkennen, wenn das alles vorbei war? Spielte das dann überhaupt noch eine Rolle für mich?

Egal, wie beschwerlich es sein mochte, ich würde mich zurückkämpfen und die bestmögliche Version von mir selbst sein. Die Version, mit der ich leben konnte, weil ich das Richtige getan hatte. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und gab meiner Magie einen letzten Schub.

Isaac stieß einen gellenden Schrei aus, als seine Magie verschwand. Seine Haut nahm einen fahlen, gräulichen Ton an.

Das Sefer war Geschichte.

Isaac war sterblich.

Und ich war eine Weltige.

Der Mandelbaum warf all seine Blüten in einem rosafarbenen Schneesturm ab, und die Lichtung erbebte erneut, was uns durch das Portal in die Dunkelheit beförderte.

Hart landeten wir wieder im Gebäude von Lockdown Cybersecurity.

Isaac riss Rafael die Waffe aus der Hand und richtete sie auf mich.

»Das ist nicht wie bei meinem Vater«, sagte ich. »Sie müssen mir in die Augen sehen, wenn Sie mich umbringen wollen. Hat es nicht schon genug Tote gegeben?«

Rafael und Levi verspannten sich, bereit, dazwischenzugehen.

Aber Isaac erschoss mich nicht, und als unsere Blicke sich trafen, wandte er seinen als Erster ab. Seine Schultern sackten nach unten. »Du hast recht.«

Und dann schoss er mir ins Bein.

»Verdammte Scheiße!« Schmerz, echter, unverfälschter Schmerz raste durch meinen Körper. Monatelang hatte mir die Jezebel-Magie den alltäglichen Umgang mit meinem Bein erleichtert. Ich drückte beide Hände auf meinen nun endgültig zerschmetterten Oberschenkel, und Wut durchströmte mich. Ich wusste genau, dass das keine Macht der Welt heilen konnte. Metallimplantate und Gehstöcke und ein Leben voller Physiotherapie und Schmerzen breiteten sich vor mir aus.

Das war der Preis, den ich für meine Gnade zahlte.

Levi kniete sich neben mich und rief bereits einen Rettungswagen, während er seinen Pullover auf die Wunde drückte. »Warum hast du deine Rüstung nicht benutzt?«

Meine Unterlippe zitterte. »Ich konnte nicht.«

Rafael, der Isaac gerade mit normalen Handschellen fesselte, fuhr zu mir herum. »Warum nicht?«

»Es ist vorbei. Alles ist vorbei.« Ich rieb mir mit einer Hand übers Gesicht. »Das Sefer ist weg. Meine Magie ist weg.«

»Unmöglich«, protestierte Rafael.

Levi schlang die Arme um mich, und ich klammerte mich an sein Shirt, biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen den Schmerz an. Ich hatte meine Wahl getroffen und stand hinter meiner Entscheidung. Aber liebes Universum? Tu mir einen Gefallen, und lass nicht Dr. Zhang den Chirurgen sein, der mich operiert.