KAPITEL 28

Verschwommene Lichter rauschten über mich hinweg, als ich über einen Gang in den Schockraum gerollt wurde. Ich klammerte mich am Metallgestänge der Trage fest und kämpfte gegen meine Panik an. Als ich schließlich im Operationssaal ankam, hatte man mir bereits eine Infusion gelegt, und ich wurde an einen Haufen Monitore angeschlossen. Aber das Schlimmste von allem?

»Das soll doch wohl ein Scherz sein.« Dr. Zhang, dessen braune Augen normalerweise so warm waren, starrte mich über seine Maske hinweg finster an. »Und auch noch dasselbe Bein? Ich hatte da wirklich gute Arbeit geleistet.« Er knuffte mich leicht gegen den Kopf.

Ich seufzte. Danke für nichts, Universum. Er würde mir das Bein vermutlich amputieren.

»Ich will ja nicht, dass Ihnen langweilig wird, Doc.« Eine Schmerzwelle überrollte mich und ließ mich das Gesicht verziehen. Dann musste ich rückwärts zählen, und der Rest der Predigt verblasste.

Ich wachte mit einem watteweichen Gefühl im Kopf in einem Krankenhausbett auf. Auf einem Stuhl neben dem Bett saß meine Mutter und las. Sie trug Yogapants.

»Welche bist du?«, murmelte ich.

Sie zog eine Augenbraue nach oben und steckte das Buch in ihre Handtasche. »Welche Mutter ich bin? Hast du irgendwo heimlich eine zweite Familie versteckt?«

»Du hast Yogapants an«, meinte ich.

»Ja. Die sind angenehm zu tragen und trotz der Wunde am Arm leicht anzuziehen.« Sie griff nach einem Becher mit Wasser und hielt mir den Strohhalm an den Mund. Einen Moment lang war ich erneut dreizehn, benebelt und verängstigt, und meine Mutter saß neben mir und versprach mir, dass alles gut werden würde. »Dr. Zhang sagt, dass du Glück gehabt hast«, fuhr sie fort. »Die Metallteile wurden nicht beschädigt, und es war eine saubere Wunde. Du bist bald wieder ganz die Alte.«

Isaac, das Sefer , der Verlust meiner Magie, das alles stürmte mit einem Mal auf mich ein. »Die Alte. Sicher.«

»Tut mir leid«, erwiderte meine Mutter leise.

Ich drückte sanft ihren Arm. »Nein, mir tut es leid. Ich habe dir eine ganze Menge schmerzhafter Tatsachen um die Ohren gehauen. Das war gemein, und es war mir in dem Moment auch bewusst. Du hattest das nicht verdient.«

Sie nahm den Becher zurück und stellte ihn auf dem Beistelltisch ab. »Du hattest auch nicht verdient, wie ich dich behandelt habe. Wir sind beide nicht unschuldig.«

Eine Weile hingen wir unseren Gedanken nach, dann rollte sie ihren Pulloverärmel auf. Ihren Oberarm zierte ein Verband, ähnlich dem an meinem Oberschenkel.

»Partnerlook«, sagte sie.

»Ja. Wir haben beide Narben und keine Magie.«

»Ich wünschte, es wäre anders.«

Ich fummelte an meinem Krankenhausarmband herum. »Ist schon okay. Du darfst zu Magie stehen, wie du willst.«

Sie schürzte die Lippen und schaute auf ihren Schoß hinunter. »Als ich schwanger war, habe ich dir immer erzählt, wie sehr wir uns darauf freuten, dich kennenzulernen, und wie viel Spaß wir miteinander haben würden. Und dass du für mich immer etwas Magisches sein würdest, auch wenn du nicht magisch begabt sein solltest wie dein Vater. Es tut mir leid, dass ich das vergessen habe, denn als ich deine Fähigkeiten dann gesehen habe, war es …«

»Magisch?«, ergänzte ich trocken.

»Ja, du kleine Klugscheißerin. Du warst so stark und furchtlos.« Sie faltete elegant die Hände, und um ihren Mund breitete sich ein entschlossener Zug aus. »Deswegen habe ich nicht nur den Posten als Finanzministerin abgelehnt, sondern bin auch aus der Partei ausgetreten.«

»Was? Das geht nicht. Ich habe die ganze Sache mit Nathan doch nicht durchgezogen, nur damit er jetzt doch noch gewinnt.«

»Er hat nicht gewonnen. Ich habe mich von der Wut verabschiedet, die mich die ganze Zeit über so blind gemacht hat. Außerdem kehre ich der Politik nicht komplett den Rücken. Ich werde mich der Liberal Party anschließen. Denen habe ich schon erklärt, dass sie meine politische Expertise brauchen werden, wenn sie die Rechte der Nefesh in der Verfassung verankern wollen.«

»Wow. Du bist selber aber auch ganz schön stark und furchtlos, Mom.«

»Von wem hast du das wohl? Ich bin immerhin eine Nachfahrin von Isebel.«

Ich drehte mein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen, die durchs Fenster fielen, und lächelte. Keine Lügen. Keine Spielchen. Mom und ich würden das überstehen.

Irgendwann kam Schwester Sarah herein, um nach mir zu sehen. Sie hatte einen Hallux, reagierte allergisch auf Hunde und konnte komplette Folgen von Breaking Bad wortgetreu zitieren. Alles in allem war sie eine ganz schön furchteinflößende Pflegekraft, aber ich fühlte mich jedes Mal besser, wenn sie mir bestätigte, dass meine Werte gut waren. Schwester Sarah war nicht der Typ Mensch, der Dinge beschönigte, und das wusste ich zu schätzen.

Sie legte mir eine Blutdruckmanschette an.

Ich schnüffelte ein paarmal. »Ich rieche Pfefferminz.«

»Kaugummi. Ich versuche, meinen Kaffeekonsum runterzuschrauben.«

»Was?«

»Hey.« Sie runzelte die Stirn und pumpte die Manschette auf. »Beruhigen Sie sich. Ihr Blutdruck geht durch die Decke. Mögen Sie Pfefferminz nicht? Das war doch Ihre Idee.«

»Sie haben doch gesagt – und ich zitiere hier –, dass Sie sich lieber einen Riesendildo hinten reinschieben lassen, als auf Koffein zu verzichten. Zitat Ende.«

Die Manschette verlor langsam wieder an Luft. »Und Sie haben mir erklärt, dass ich selbst weiß, was für mich das Beste ist, und dass ich genau das machen soll.«

»Dann trinken Sie das Zeug doch weiter.«

Sarah rupfte mir die Manschette vom Arm und notierte meinen Blutdruck. »Wer sind Sie, eine Lobbyistin für Kaffeekonzerne?«

Nein, ich war durch den Wind und hatte einen Verdacht, der ziemlich durchgeknallt klang. Isaac hatte mich nicht umgebracht, und ein selbst ernannter Koffeinjunkie verzichtete auf seine Droge – und beide taten das, weil ich es ihnen gesagt hatte?

Als Dr. Zhang schließlich verkündete, dass ich entlassen werden konnte, war ich so was von bereit, wieder nach Hause zu gehen und mir mein Leben zurückzuholen. Pri hatte versprochen, mich abzuholen, darum war ich ziemlich überrascht, als Lux mit einem Rollstuhl mein Krankenzimmer betrat.

»Hab gehört, dass du dir eine Kugel eingefangen hast.« Sie schüttelte den Kopf. »Jezebels. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben lang Aschera gedient, bin aber nie in einem Bett im Krankenhaus gelandet, wo ich so viel Eis futtern konnte, wie ich wollte, und dann auch noch wie eine Prinzessin durch die Gegend kutschiert wurde.«

»Ladys und Gentlemen, das war Lux. Mit dieser Nummer tritt sie hier noch die ganze Woche auf.« Ich wechselte vorsichtig vom Bett in den Rollstuhl. »Wie geht’s Jean-Pierre?« Theresas Leute hatten den Illusionisten ganz schön erwischt, aber er hatte sich durchgebissen und maßgeblich dabei geholfen, das Ruder für uns herumzureißen.

»Besser. House Pacifica hat sich gut um uns gekümmert.«

»Das habt ihr euch verdient. Ohne euch hätten wir das nie geschafft.«

»Stimmt.« Sie schnappte sich meine Tasche und schwang sie sich über die Schulter, bevor sie mich auf den Gang schob. »Und noch was Lustigeres: Gabriel versucht, Miles dazu zu bringen, ihn als Agenten einzustellen.«

Ich lachte. »Das findet Miles bestimmt gaaaanz toll.«

»Gabriel ist davon überzeugt, dass er ihn noch für sich gewinnen wird.«

»War ja klar.«

Lux erzählte mir, wie viel Angst sie während des Kampfes gehabt hatte, aber wie befriedigend es zugleich gewesen war, tatsächlich etwas bewegen und verändern zu können. Dann schwieg sie. In Gedanken war sie sicher bei Emma.

»Endlich verlässt sie uns.« Dr. Zhang passte uns in der Eingangshalle ab.

»So froh, mich loszuwerden?«, fragte ich.

»Noch nicht.« Er zog zwei Schnurrbärte aus seiner Tasche. Einen Kaiser-Wilhelm-Bart für sich und ein Bleistiftbärtchen für mich.

Ich verschränkte die Arme. »Wo ist mein Luigi-Bart?«

»Du bist jetzt erwachsen, Ash. Zeig ein bisschen Würde.« Dr. Zhang holte sein Handy heraus und richtete umständlich die Kamera ein.

»Das ist … seltsam«, meinte Lux. »Ich werde dann mal gehen.« Sie stellte mir die Tasche auf den Schoß.

»Meld dich bald mal«, sagte ich. »Ich meine es ernst.«

»Was anderes würde mir im Traum nicht einfallen. Wir Gigis müssen doch zusammenhalten.« Sie drückte meine Schulter und machte sich dann auf den Weg zur Tür.

»Du meinst sicher Gläubige!«, rief ich ihr hinterher. »Ascheras Gläubige. AG. Wie in ›Göttinnen AG‹. Wir machen ein Rebranding.«

»Göttinnen AG. Gefällt mir.« Lux schob sich den Riemen ihrer Handtasche ein wenig höher auf die Schulter. »Wir sollten uns T-Shirts machen lassen.« Mit einem Winken ging sie endgültig.

Dr. Zhang beugte sich zu mir herunter, um für das Foto auf gleicher Höhe mit mir zu sein. »Sag Cheese

»Cheese.«

Er knipste das Bild und reichte mir dann ein paar Unterlagen für die Physiotherapie, die ich nach meiner Entlassung machen sollte. Anschließend schob er mich nach draußen, wo Priya schon mit Moriarty wartete.

Dr. Zhang tätschelte mir den Kopf. »Okay, Kleine. Dieses Mal meine ich es ernst. Ich will dich nie wieder sehen.«

»Moment mal, Mister«, erwiderte ich angefressen.

Er drehte sich noch einmal zu mir um, ganz der Inbegriff von Unschuld. »Ja?«

Auffordernd streckte ich eine Hand aus.

Er zog grinsend einen Lolli aus der Tasche seiner OP-Hose und warf ihn mir zu. Orangengeschmack war der beste überhaupt.

* * *

Priya und ich gingen früh ins Blondie’s , um uns genug Platz für alle zu sichern. Unser Karaoke-Date hatten wir verschieben müssen, aber wir holten es heute, am Tag meiner Entlassung, nach.

Jodie, unsere Kellnerin seit anno dazumal, gab einen unwilligen Laut von sich, als wir einige Tische zusammenschoben. »Wehe, wenn ihr nicht ordentlich Trinkgeld gebt.«

Ich fasste mir ans Herz und taumelte ein paar Schritte zurück. »Sind das da deine Augen, die auf meine gerichtet sind und nicht auf dein Handy? Ich erkenne dich ja kaum wieder, wo dein Antlitz nicht in den Schein des Displays getaucht ist. Ist der Weltuntergang nah?«

»Nee, der war letzte Woche«, meinte Pri. »Den hast du vermasselt.«

»Oh, stimmt.«

»Reib noch Salz in die Wunden einer Frau, deren Handy kaputt ist. Wirst schon sehen, ob du deine Pommes heute Abend bekommst«, gab Jodie grummelig zurück und schlenderte davon.

Rafael traf als Erster ein, adrett gekleidet mit einer Weste in schwarz-rotem Argyle-Muster und passender roter Fliege. Pri und ich klopften beide auf die jeweiligen freien Stühle neben uns, und Rafael erstarrte einen Moment lang, bevor er sich neben mich setzte.

»Es ist wirklich Bombe, dass du wieder da bist«, verkündete er viel zu jovial.

»Du möchtest lieber neben Pri sitzen, stimmt’s?«

Seine Wangen röteten sich. »Nein.«

Ich stupste ihn an der Schulter an. »Ist was passiert , während ich im Krankenhaus war, das ihr mir beide vorenthalten habt?«

»Was du immer denkst.« Priya zupfte am Saum ihres T-Shirts, zu dem sie eine schwarze Jeans trug.

Priya in Pink. Sie war nicht länger auf diese eine Farbe fixiert, mit der sie sich zum Glücklichsein hatte zwingen wollen, sondern sie war tatsächlich glücklich. Ich rieb mir über den rechten Oberschenkel, und mein Spürsinn schlug voll aus, doch bevor ich Rafael vorschlagen konnte, auf den anderen Stuhl zu wechseln, schob er sich die Brille höher auf die Nase.

»Nein, Priya. Ich werde das nicht verheimlichen und du ebenso wenig. Wir sind eine romantische Beziehung eingegangen, und ich wünsche mir deinen Segen, Ashira, denn du bist uns beiden wichtig. Aber selbst wenn du ihn uns nicht gibst, werden wir zusammenbleiben.«

Priya schmolz sichtlich dahin und schenkte ihm ein seliges Lächeln.

»Okay, das ist eklig«, erwiderte ich. »Ergieß bitte nicht deine Gefühle über mich. Seid ihr Briten nicht dafür bekannt, mit euren wahren Emotionen hinterm Berg zu halten? Alter. Setz dich zu deiner Freundin. Ich stimme dem Ganzen zu.« Ich vollführte eine religiös anmutende Geste. »Betrachtet eure Beziehung als gesegnet.«

Priya lehnte sich über den Tisch und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Ich hatte Levi eine Nachricht geschrieben und ihn über unser Treffen informiert, doch er hatte ohne Erklärung abgesagt. Konnte ich ihm nicht verübeln, da ich von Miles wusste, wie viel er um die Ohren hatte, seit ich angeschossen worden war. Isaac hatte sich auf sein Recht zu schweigen berufen, aber nachdem er Hans ohne Federlesen im Stich gelassen hatte, als dieser ihn brauchte, hatte der Deutsche die noch verbliebenen Mitglieder der Zehn verraten. Das Sefer wurde mit keiner Silbe erwähnt, dafür hatte Hans so manches über eine ganze Reihe von illegalen Aktivitäten zu sagen, in die die Organisation verwickelt war.

Währenddessen hatten Miles’ Agenten die Kassenbücher im Archiv aufgetrieben und suchten darunter nach dem, das ich gesehen hatte. Die Chancen, den Gesetzesentwurf zu Fall zu bringen, waren sprunghaft angestiegen.

Levi erstickte in Arbeit. Es war also vollkommen normal, dass wir noch nicht wieder miteinander gesprochen hatten. Ich warf zur Sicherheit einen Blick auf mein Handy.

Arkady und Miles betraten Händchen haltend den Gastraum. Ich versuchte gerade, eine vorbeieilende Kellnerin heranzuwinken, weil ich mehr als bereit war, gutes Trinkgeld für eine Alkohol-Standleitung springen zu lassen, die mich durch einen Abend zwischen glücklichen Paaren bringen sollte, als Priya plötzlich rief: »Yaaaas, Queen!«

In roter Jeans und einem tief ausgeschnittenen roten Top schwebte Ihre Hoheit auf roten Stilettos durch das Etablissement, als würde sie über einen mit Rosenblättern bestreuten roten Teppich schreiten.

Alle Gespräche verstummten, bis sie eine perfekt gezupfte Augenbraue nach oben zog und die Gäste hastig die Blicke von ihr abwandten. Dass das Gemurmel anschließend einen nervösen Unterton bekam, war wenig verwunderlich.

Hibbelig ging Isabel neben ihrer Mutter her. Sie schaute sich aufgeregt um und reckte grinsend den Hals in alle Richtungen. In ihren Shorts, einem hübschen Top mit Puffärmeln und mit dem blauen Nagellack strahlte sie unbeschwerte Lebensfreude aus. Gut für sie.

Moran folgte den beiden.

»Verdammt«, meinte Arkady und musterte den weißen Anzug des Manns. »Der Kerl fühlt sich mit seinem Stil echt wohl.«

Miles stieß sein Wasserglas um. »Das … das ist …« Er gab einen Laut von sich, als hätte er seine Zunge verschluckt, und schnappte sich eine Handvoll Servietten, um die Wasserpfütze so hektisch aufzuwischen, dass Arkady schließlich seine Hand beiseiteschob und die Putzaktion selbst übernahm.

Ich pikte Miles mit einem Finger gegen die Schulter. »Atmen. Sie kommt in Frieden. Ich habe ihre Tochter eingeladen.«

Mein Handy zeigte vibrierend den Eingang einer Nachricht an.

Seine Selbstherrlichkeit: Kommst du heute Abend vorbei?

Um zu reden? Für Sex? Um ein für alle Mal getrennte Wege zu gehen?

Arkady stieß mein wippendes Bein mit seinem an. »Hör auf damit.«

Ihre Hoheit blieb an meinem Tisch stehen. »Hola, chica.«

Ich drehte mein Handy um, sodass das Display nach unten zeigte. »Hallo, Hoheit. Isabel, du hast es geschafft. Wunderbar.«

»Ich war noch nie in einer Bar«, erwiderte sie.

»Wolltest du, dass sie ganz unten anfängt, Pickle?« Arkady schnitt eine Grimasse und knüllte die durchweichten Servietten zusammen. »Na, dann kann sich dein Weltbild von hier aus nur verbessern, Darling.«

Isabel schüttelte den Kopf. »Ich finde es großartig. Wusstet ihr, dass das Wort ›Spelunke‹ von dem lateinischen und dem griechischen Wort für ›Höhle‹ abstammt und ursprünglich für Räubernester verwendet wurde? Später gebrauchte man es dann auch für schäbige und gefährliche Kneipen.«

Priya schob Arkady einen Stuhl weiter. »Ich bin Priya. Du bist ein Super-Nerd und meine neue beste Freundin.«

»Suzy Jones wird so enttäuscht sein«, warf ich ein.

Pri klopfte auf den jetzt freien Stuhl. »Setz dich zu mir.«

Die Königin musterte meine beste Freundin misstrauisch, und ich verspannte mich und griff automatisch nach meiner Magie.

Oh. Da war ja was. Ich seufzte.

Ihre Hoheit schenkte Priya ein warmes Lächeln. »Isabel kann sich mit einer neuen Freundin wie dir glücklich schätzen.«

»Ich bin keine fünf mehr«, gab Isabel mit einem finsteren Blick zu ihrer Mutter zurück.

»Zu schade aber auch«, sagte die Herzkönigin. »Ich wollte schon Geschenktüten für deine neuen Freunde vorbereiten.«

Ich erschauderte. Das konnte auf so viele verschiedene Arten ausgehen. In mir rangen Neugier und Angst darum, ob ich wirklich wissen wollte, wie solche Geschenke von der Königin aussehen würden.

»Ist die Runde denn bereits vollständig?«, fragte Moran, der einmal durchgezählt hatte.

»Ist sie«, gab ich bissig zurück.

»Ich glaube, das hier gehört dir.« Die Königin drückte mir die Goldmünze in die Hand. »Levi hat mir erzählt, was passiert ist. Du und ich werden uns bald unterhalten. Zwischen uns hat sich nichts geändert.«

Ob ich wohl mitten unter den anderen Statuen landen würde, wenn ich sie umarmte? War vermutlich besser, wenn ich das nicht ausprobierte. »Das weiß ich sehr zu schätzen.«

»Toll. Geh jetzt«, wies Isabel sie an. »Du auch«, fügte sie an Moran gewandt hinzu.

»Ich setze mich an die Bar«, entgegnete er. »Du wirst gar nicht merken, dass ich da bin.«

Arkady lachte laut auf. »Sehr unwahrscheinlich.«

»Ark«, mischte Miles sich warnend ein.

Isabel deutete auf Arkady. »Was er gesagt hat.«

Miles seufzte und richtete die nächsten Worte an die Königin und Moran. »Ich gehe davon aus, dass Sie genau wissen, wer wir sind und was wir können. Isabel wird nichts passieren . Ich verspreche es.«

»Ich verlasse mich auf Ihr Wort, Mr Berenbaum«, erwiderte die Königin. Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf den Kopf. »Viel Spaß. Und kein Alkohol.«

Isabel verdrehte die Augen und setzte sich neben Priya.

»Ja, ja. Ich bin hier nicht erwünscht. Komm, Moran.«

Dieser bedeutete mir mit zwei Fingern, dass er mich im Auge behalten würde. Sobald die beiden gegangen waren, kam Jodie zu uns rüber, um unsere Getränkebestellung aufzunehmen.

»Cola«, meinte ich.

Jodies Augenbrauen schossen nach oben. »Und Rum?«

»Nein. Nur Cola.« An Isabels erstem Ausgehabend sollte ich wohl besser nüchtern bleiben. Außerdem bestand dann eine um einhundert Prozent geringere Chance, dass ich Levi betrunken anrufen würde, bevor ich die Möglichkeit hatte, mit klarem Verstand über unser nächstes Aufeinandertreffen nachzudenken.

»Ich nehme das gleiche Pale Ale wie Priya und …« Isabel studierte die Speisekarte an der Tafel über der Bar.

»Pommes!«, unterbrachen wir sie im Chor.

»Oh. Okay.«

Jodie fummelte an ihrem silbernen Ohrring herum, der die Form einer Schlange hatte, während die anderen ihre Bestellung aufgaben.

Isabel lehnte sich über den Tisch zu mir. »Hört sie überhaupt zu?«, flüsterte sie.

»Mehr oder weniger?«

»Zum Donnerwetter!« Jodie hielt nur noch den Verschluss ihres Ohrrings in der Hand. »Keiner rührt sich.« Steif beugte sie sich runter, um das Schmuckstück auf dem Boden zu suchen. Sie schob unsere Beine beiseite und arbeitete sich systematisch um den Tisch herum, leider ohne Erfolg. Nachdem sie an der Wade begrapscht worden war, erkundigte sich Isabel nach den Toiletten und machte sich dorthin aus dem Staub. Jodie gab die Suche mit einem genervten Seufzen auf.

»Sind dir die Ohrringe wichtig?«, fragte Priya.

»Ja. Die hat mir mein Ex geschenkt. Ich wollte ihm das Auto damit zerkratzen. Jetzt habe ich nur noch einen, den ich ihm in seine selbstgefällige Fremdgeher-Visage werfen kann.« Ihre Stimme wurde zunehmend lauter.

Ich entdeckte ein Funkeln auf dem Boden. »Warte kurz.« Die silberne Schlange hatte sich unter einem Tischbein versteckt. »Ich hab ihn.«

Jodie nahm mir den Ohrring ab und befühlte den spitzen Dorn. »Dieses billige Mistding macht kurzen Prozess mit seinem Mustang.«

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich. »Dein Ex ist ein Arsch, der dich nicht verdient hat. Der ist keine Anzeige wegen Vandalismus wert.«

Sie blinzelte ein paarmal. »Du hast recht.«

Arkady runzelte die Stirn. »Ach ja?« Priya stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Ich meine, ja, hat sie, aber änderst du deine Meinung nicht ein bisschen plötzlich?«

Das hatte sie tatsächlich. Normalerweise wurden die Leute wütend auf mich, wenn ich ihr Problem gelöst hatte, und noch viel mehr, wenn ich sie vor einem weitaus schlimmeren Fehler bewahren wollte. Verdammte Scheiße. Das war jetzt drei Mal passiert . Mein Verdacht bestätigte sich.

»Jodie«, meinte ich panisch, »wenn du dem Mistkerl das Auto zerkratzen willst, mach ruhig. Gravier deinen Namen in jeden Zentimeter seines Sonderlacks. Ich bestehe sogar darauf.«

»Ach nee. Ich habe nur jemanden gebraucht, der mich zur Vernunft bringt. Ich komme schon klar.« Jodie schlang die Arme schwungvoll um mich.

Und ich saß mit weit aufgerissenen Augen da.

»Ich hole eure Getränke und Pommes für die ganze Runde.« Jodie marschierte davon.

»Was ist da gerade passiert ?«, wollte Priya wissen.

Meine Serviette fiel meinem Messer zum Opfer. »Ich besitze Charismaten-Magie.« Ich erzählte ihnen von Isaac und Schwester Sarah.

»Ihr habt euch angefreundet?« Priya klatschte begeistert in die Hände.

»Du bist schlimmer als der Hund mit einem neuen Spielzeug«, erwiderte ich.

»Du besitzt wieder Magie? Na ganz toll.« Miles lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Ich wusste, dass du keine Weltige sein kannst«, warf Rafael ein. »Deine Kraftreserven waren leer, deswegen konntest du deine Rüstung nicht beschwören.«

»Ja, aber das Amulett hat mir gesagt, dass ich eine Wahl treffen muss«, gab ich gereizt zurück. »Und das habe ich getan, also weiß ich wirklich nicht, warum ich plötzlich ausgerechnet die Magie meines Vaters besitze.«

»Das Amulett spricht mit dir?« Arkady warf einen Blick zu Kenneth, unserem Karaoke-Gastgeber, der auf die Bühne trat, um den ersten Song anzukündigen. Dann wandte er sich wieder Rafael und mir zu und verzog das Gesicht. »Es ist doch weggeschlossen, oder?«

»Da du keine von der Göttin verliehenen Kräfte hast, bist du sicher«, meinte Rafael. »Ash, erzähl mir ganz genau, wie diese Entscheidung aussehen sollte.«

»Ich konnte entweder Isaacs Magie zerstören und meine Jezebel-Kräfte verlieren oder meine Magie behalten, doch dann würde der Kampf weitergehen. Und dann bekam ich noch den hilfreichen Hinweis, dass ›unsterblich‹ nicht ›unverwundbar‹ bedeutet.«

»Aha!« Rafael deutete mit einem Finger auf mich. »Da ist es. Deine Jezebel-Magie. Das Amulett hat nie behauptet, dass du zur Weltigen wirst. Wenn man es mal logisch betrachtet: Wofür solltest du deine Jezebel-Fähigkeiten noch brauchen, wenn der Job erledigt ist? Es sei denn, du hattest geplant, durch die Gegend zu ziehen und anderen Leuten ihre Magie zu entreißen?«

»Das erklärt aber nicht, woher die Charismaten-Magie kommt.«

»Es ist keine Charismaten-Magie, Holmes«, meinte Priya. »Wenn dem so wäre, hätte Jodie ihre Meinung wieder geändert, nachdem du ihr praktisch befohlen hast, das Auto zu zerkratzen. Du hilfst den Menschen, eine Entscheidung zu treffen – du zwingst ihnen aber keine Entscheidung auf.«

»Eine ganz hervorragende Beschreibung«, lobte Rafael sie.

Priya zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern. »Das ist lieb von dir.«

»Zurück zu mir …«, forderte ich sie auf.

»Du verschaffst ihnen Klarheit«, meinte Arkady.

»Klärungsmagie?« Ich spielte ein wenig mit der Vorstellung herum und nickte dann. »Damit kann ich leben, aber es erklärt nicht, wie ich die bekommen habe.«

»Ich vermute, dass Aschera noch nicht mit dir fertig ist«, sagte Rafael. »Du dienst ihr weiterhin, nur in anderer Funktion. Du wurdest aufgrund deiner Fähigkeiten als Sucherin zur Jezebel berufen, und sie hat entschieden, dich mit Klärungsmagie zu segnen. Sie hat gesehen, wie du durch deine Jezebel-Magie anderen Menschen geholfen hast, eine klarere Sicht auf die Dinge zu bekommen. Also hat sie dir Kräfte verliehen, die sich darauf konzentrieren. Ohne die Blutmagie, die dir so viel abverlangt hat.«

»Wie diese Jungfer in den Legenden, die zur weisen alten Frau wird«, kommentierte Arkady.

Ich warf ihm eine nasse Serviette an den Kopf.

»Es passt thematisch und ist die logische Weiterentwicklung einer Sucherin. Du hast gesucht und Antworten gefunden, sodass du nun anderen dabei helfen kannst, ihre Antworten zu finden«, meinte Priya. »Und es passt auch weiterhin zu deinem Traum von der Arbeit als Privatdetektivin, weil du durch die Lösung von Fällen deinen Klienten Klarheit verschaffst.«

Ich schaute zu Jodie rüber, die mit unseren Getränken in unsere Richtung kam. Sie lächelte mich fürchterlich uncharakteristisch an, und ich versuchte, mich hinter Arkady zu verstecken. »Heißt das, dass ich noch öfter umarmt werde?«

»Definitiv«, bestätigte Priya.

»Planst du, wieder als Unregistrierte durchs Leben zu gehen, oder hast du eine Erklärung für die Akten parat, die mir genauso wenig gefallen wird?«, fragte Miles.

Arkady holte einen Stressball aus seiner Jackentasche und reichte ihn kommentarlos seinem Freund, der das Ding so heftig bearbeitete, dass die Nähte zu platzen drohten.

»Letzteres«, entgegnete ich sonnig. »Ein rezessives Gen, das durch den Mordversuch von Pastor Nephus aktiviert wurde.«

»Na?«, hakte Arkady nach.

»Ich denke noch.« Miles kippte die Hälfte seines Biers auf einmal runter. »Der Zwischenfall wurde zu den Akten genommen, und wir könnten deine Magie den Empathie-Kräften zuordnen.«

»Wirklich?«

Miles zuckte die Schultern. »Da mein Partner mich zu Tode nerven würde, wenn ich was anderes sage: ja.«

»Partner«, wiederholte Arkady selbstzufrieden.

Ich konnte mich offiziell bei House Pacifica registrieren lassen. Keine Versteckspiele mehr. Meine Privatdetektiv-Träume könnten endlich und bedingungslos in Erfüllung gehen. Das alles hätte ich nie ohne meine Freunde geschafft. Ich schlang die Arme fest um Miles, der mich jedoch hastig von sich schob, also umrundete ich schnell den Tisch, um Rafael zu umarmen. Er tätschelte mir peinlich berührt den Rücken, bevor er sich aus meinen Armen wand.

»Ich freue mich für dich«, sagte er.

Das meinte er ernst, trotzdem klang er niedergeschlagen. Rafaels Leben war an diese Mission gebunden gewesen. Ich hatte meine Detektei, aber was sollte er nun machen?

Ich tippte mir mit einem Finger gegen die Unterlippe. »Was hältst du davon, wenn wir aus der Detektei Cohen and Behar Investigations machen? Ich brauche keinen Sekretär, aber ich hätte gerne einen Geschäftspartner.«

Rafael blinzelte ein paarmal, bevor sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Das würde mich wirklich sehr freuen.«

Ich reichte ihm die Hand, die er schüttelte.

Isabel kehrte zum Tisch zurück. »Was habe ich verpasst?«

»Die Tatsache, dass es jetzt Zeit für ein bisschen Musik ist. Zur Feier des Tages wird gesungen«, antwortete Arkady. Miles stöhnte auf, was ihm einen harten Ellenbogenstoß von Arkady einbrachte. »Du fängst an, Mimi.«

»Nicht dein Ernst«, sagte Pri. »Du singst?«

»Wenn es sein muss.« Miles deutete auf Rafael. »Wenn ich das machen muss, dann musst du auch. Und du«, meinte er zu Isabel.

Arkady legte die Hände zusammen. »So viele Jungfrauen. Das ist ja ein regelrechter Karaoke-Gangbang.« Er schnitt eine Grimasse. »Aber alles total einvernehmlich.« Sein Gesichtsausdruck hellte sich wieder auf. »Und mit Gesang!«

Ich nickte. »Gut gerettet.«

»Muss ich wirklich?« Rafael sah aus, als würde ihm schlecht werden, bis Priya ihm was ins Ohr flüsterte. »Ich bin dabei«, lenkte er ein.

»Was singst du, Mimi?«, erkundigte ich mich honigsüß.

Ein Muskel in seiner Wange zuckte. »›Gimme! Gimme! Gimme!‹«

Isabel lächelte strahlend. »Du meinst ›Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)‹, das ABBA 1979 in den Polar-Music-Studios in Stockholm aufgenommen hat?«

Miles verschränkte die Arme, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Das ist korrekt.«

Arkady unterdrückte nur mit Mühe sein Lachen.

»Ich liebe dich«, sagte Priya zu Isabel.

»Hey. Mir hast du das immer noch nicht zurückgesagt«, beschwerte ich mich.

»Sei nicht so anhänglich«, erwiderte Pri und warf mir ein Luftküsschen zu.

Isabel lachte. »Ich dich auch? Das ist ein toller Song, Miles. Ich weiß nicht, was ich singen soll.«

Arkady machte eine scheuchende Handbewegung in Richtung der drei. »Schaut ins Buch. Dort findet ihr bestimmt was.«

Nach einem letzten vernichtenden Blick zu Arkady marschierte Miles los. Rafael begleitete Isabel nach vorn.

»Will ich wissen, wie du ihn zum Singen überredet hast?«, fragte Priya.

»Will ich wissen, wie du Rafael zum Singen gebracht hast?«, konterte Arkady. Sie grinsten sich an, während ich den Vorsatz eines alkoholfreien Abends noch einmal überdachte.

Arkady stieß mich an. »Und nun hebt an zu euren Oden über meinen glorreichen Sieg.«

Ich zeigte ihm einen Vogel.

»Sei nett zu mir. Der Kerl hat mich ordentlich erwischt.« Er klatschte sich auf die Bauchmuskeln. »Die Blutergüsse hatte ich noch lange.«

»Ach, komm schon, Mr Badass mit den Steinfäusten«, entgegnete Priya. »Ich habe uns reingebracht und dazu noch höchst erfolgreich Handschellen verteilt.«

»Apropos.« Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Welcher Teil von ›Zieh dich zurück, sobald du deinen Teil getan hast‹ war so schwer zu verstehen? Du solltest die Sicherheitsfreigaben ändern und die Chips auf der Schlüsselkarte umprogrammieren, die Levi organisiert hat. Mehr nicht.«

Priya warf ihre Haare nach hinten. »Und dabei den ganzen Spaß verpassen? Ich bitte dich.«

Der Rest des Abends markierte einen Neuanfang in meinem Leben. Ich hatte einen festen Freundeskreis, in den Isabel sich perfekt einfügte. Miles sang das griesgrämigste ABBA-Cover aller Zeiten, Isabel hüpfte zu »Girls Just Want to Have Fun« über die Bühne, und Rafael verpasste mir den Schock meines Lebens mit einer mitreißenden Version von Blurs »Song 2«, die die komplette Kneipe von den Stühlen holte. Er verlor während der Performance sogar seine Brille.

Über mir schwebte keine Gefahr mehr, ich musste keine Bösewichte mehr aufhalten, und mit der Rückkehr meiner Magie sah meine berufliche Zukunft rosig aus. Ich war eine moderne Frau, die alles hatte und sich selbst genug war.

Ich leerte mein drittes Glas Cola, betrachtete mein Handy und schickte dann eine Ein-Wort-Antwort ab, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Ja.