Wie nun schauen wir auf das, was als liberale Demokratie vor uns steht – heute, da wir ihre Alterungserscheinungen nicht übersehen können und Erschütterungen unterschiedlicher Stärke erfahren haben? Lassen wir uns in Angst versetzen, wenn die Zahl der Demokratien in der Welt abnimmt und destruktive Kräfte versuchen, an den Grundpfeilern unseres freiheitlichen Systems zu rütteln? Oder aktivieren uns die erkannten Gefahren dazu, Fehler und Versäumnisse in der Vergangenheit aufzudecken und zu korrigieren, damit neues Handeln möglich wird? Ebendiesen Weg habe ich mit diesem Buch zu gehen versucht: Ich wollte mir und anderen noch einmal vergegenwärtigen, warum unsere Außen- und Sicherheitspolitik die Verteidigungsfähigkeit vernachlässigt hat, wie zu spätes oder inkonsequentes Handeln der Regierungen in wichtigen innenpolitischen Bereichen die Unzufriedenheit im Land hat wachsen lassen, und schließlich auch, wie neue kulturelle Narrative unser bisheriges kollektives Selbstverständnis angreifen.
Politik und Zivilgesellschaft stellen sich diesen Fragen neu und sehr ernsthaft seit dem 24. Februar 2022, als der brutale russische Überfall auf die unabhängige Ukraine in Europa die heftigste Erschütterung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auslöste. Die Grundannahmen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erwiesen sich als fehlerbehaftet. Denn bis dahin – und selbst noch nach der Annexion der Krim – hatte die deutsche Politik an dem Bemühen um partnerschaftliche Beziehungen mit Russland festgehalten.
Die russische Aggression hat Deutschland und andere europäische Staaten mit einer eklatanten Schwachstelle ihrer Sicherheitspolitik konfrontiert: Keiner von ihnen verfügt über eine angemessene Verteidigungsfähigkeit. Weder Europa und erst recht nicht die einzelnen europäischen Nationalstaaten wären derzeit imstande, einer äußeren Aggression zu widerstehen. Für die Verteidigung Europas sind weiter die NATO und damit in erheblichem Umfang die USA zuständig. Die Vereinigten Staaten sind nicht nur der größte Geldgeber des Militärbündnisses, sie verfügen auch über das schlagkräftigste Militär. Nur mit den USA kann die Ukraine wirksam verteidigt werden; nur mit den USA und ihrem nuklearen Schutzschirm ist Europa sicher.
Da wir angesichts der Weltlage und der globalen Herausforderung durch China jedoch nicht davon ausgehen können, dass sich die USA auch künftig in dem Maße wie während des Ukrainekrieges in Europa engagieren werden, gilt es, endlich den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO zu stärken, eine stärkere europäische Kooperation im militärischen Bereich zu entwickeln und mehr sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen. Immerhin hat Bundeskanzler Scholz mit der »Zeitenwende«-Rede die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes, bis dahin ein Stiefkind der Politik, ins Zentrum von Überlegungen und Bemühungen der Regierung gerückt. Doch die langfristige und ausreichende Unterfütterung mit entsprechenden finanziellen Mitteln und sicherheitspolitischen Zielen und Entscheidungsstrukturen steht noch bevor.
Putins Angriff gilt zwar zunächst einmal der Ukraine. Wenn wir uns aber bewusst machen, dass er mit der Ukraine auch die liberale Ordnung, den Rechtsstaat und die Menschen- und Bürgerrechte an sich angreift, dann wird klar, dass sein Angriff genauso uns gilt, den demokratischen Gesellschaften des Westens. Damit sich Putins Recht des Stärkeren nicht durchsetzt, wird Deutschland der Ukraine möglichst viel Unterstützung zukommen lassen, sodass sie die Souveränität ihres Landes wiederherstellen kann.
Gleichzeitig gilt es, für die Verteidigungsfähigkeit unseres eigenen Staates zu sorgen, also die jährlichen Ausgaben für die Verteidigung auf mindestens 2 Prozent anzuheben, die Bundeswehr ausreichend mit Personal, Waffensystemen und Munition zu versorgen, Strategie, Struktur und Führung der Bundeswehr zu reformieren und die Soldaten statt wie bisher vor allem für friedenssichernde Einsätze im Ausland auch auf die klassischen Aufgaben von Landes- und Bündnisverteidigung vorzubereiten. Es heißt aber auch, nichtmilitärische Bereiche für einen Ernstfall vorzubereiten, der etwa durch Cyberangriffe ausgelöst werden und großflächige Ausfälle von Stromnetzen und digitaler Infrastruktur nach sich ziehen kann. IT-Sicherheit wird zukünftig eine ungleich größere Rolle spielen müssen als in der Vergangenheit. Des Weiteren gilt es, den Zivilschutz des Landes aus- und aufzubauen, den Katastrophenschutz zu stärken und dabei den Selbstschutz und die Selbsthilfe der Bürger mehr ins Bewusstsein zu rücken.
Mindestens so einschneidend wie der Kurswechsel in der Sicherheitspolitik ist es, dass sich der Mentalitätswandel innerhalb der deutschen Gesellschaft fortsetzt. Ein großer Schritt ist schon getan. Bis zur Wiedervereinigung hatten sich nicht einmal zwei Fünftel der Bundesdeutschen dafür ausgesprochen, Sicherheit durch eigene militärische Stärke zu schaffen – 2022 waren es beinahe zwei Drittel. Deutschland, das sich vor dreißig Jahren mehrheitlich dem Pazifismus zuneigte, bekennt sich heute mehrheitlich zur Notwendigkeit einer militärischen Verteidigung. Wir haben erneut gelernt, was eine alte politische Erfahrung ist: Solange es auf der Welt Mächte gibt, die das Recht des Stärkeren durchsetzen wollen, müssen sich auch jene rüsten, die die Stärke des Rechts vertreten. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung bekennt sich zu einer derartigen wehrhaften Demokratie.
Die Debatte im Land ist aber nicht beendet. Eine relevante Minderheit hält an Positionen der Friedensbewegung fest. »Frieden schaffen ohne Waffen« lautet danach wieder die oberste Maxime. Um Leben zu retten, müsse der Westen die Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen; und für den Angegriffenen bestehe die »moralische Pflicht«, die Kampfhandlungen möglichst schnell einzustellen, um menschliches Leid zu mildern. Das Opfer habe einem Waffenstillstand selbst dann zuzustimmen, wenn das vom Aggressor geschaffene Unrecht festgeschrieben würde.
Ich kann nur noch einmal vor dieser Logik warnen, denn eine unbedingte Friedensverpflichtung stellt das Völkerrecht auf den Kopf. Sie relativiert und untergräbt das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und das Recht auf Selbstverteidigung. Und benutzt zusätzlich die Angst von Menschen im Westen vor einem möglichen Atomkrieg, um eine Position der Nachgiebigkeit gegenüber Russland durchzusetzen. Die Freiheit der Ukraine hingegen ist in diesem Denken nur von nachrangiger Bedeutung.
Und nicht einmal der Frieden wäre wirklich für sie gesichert. Denn ein Frieden, der lediglich als Einstellung der Kampfhandlungen verstanden wird, ist nicht automatisch imstande, das Leben von Menschen zu schützen. Schließlich sehen wir doch, dass Ukrainer im »Frieden« unter russischer Besatzung verfolgt, gefoltert, vertrieben, vergewaltigt oder getötet werden. Dass sie ihrer Sprache, ihrer Kultur und letztlich ihrer Identität beraubt werden. Eine bedingungslose Friedensverpflichtung verdrängt wie der Pazifismus die Tatsache, dass das Recht des Stärkeren erneut hingenommen und aufgrund der normativen Kraft des Faktischen quasi legitimiert würde. So ist es angesichts des gegenwärtigen Angriffskrieges eine bittere, aber unumstößliche Wahrheit: Je schneller und je mehr Waffen der Westen liefert, umso eher lassen sich dem Aggressor seine Möglichkeiten für weiteres aggressives Vorgehen nehmen, ein tragbarer Frieden mit einer souveränen Ukraine finden und die Sicherheit Europas gewährleisten.
Was der russische Angriffskrieg uns aber auch gelehrt hat: Die Leitlinie »Wandel durch Handel« hat in Krisenlagen keinen Bestand. Die deutsche Wirtschaft darf nicht wieder wie im Fall von Russland in einem Maße abhängig von Staaten werden, dass sie erpressbar wird. Vielmehr werden deutsche Unternehmen in der globalisierten Wirtschaft Strategien entwickeln müssen, die verhindern, dass, sollten sie im Ausland etwa durch autoritäre Regierungen in eine Krise geraten, die ganze deutsche Volkswirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird. Wir brauchen Diversität im Import wie im Export. Lieferketten dürfen nicht grundsätzlich gefährdet sein, wenn einzelne ausländische Handelspartner ausfallen. Umgekehrt brauchen wir auch eine Kontrolle und eine Begrenzung ausländischer Investitionen in Deutschland, etwa wenn chinesische Firmen in Europa Häfen, Flughäfen oder Schienennetze übernehmen wollen oder digitale Hardware liefern, mit denen geschützte Daten gestohlen werden können.
Deutschland ist zwar das größte Land in Europa und die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat sich bisher aber davor gescheut, eine führende Rolle im europäischen Bündnis zu spielen. Die neue Lage hat indes erneut die Dringlichkeit unterstrichen, sich zwar als enger Partner der USA, aber dennoch als eigenständig und wirklich handlungsmächtig zu begreifen. Deutschland steht vor der Aufgabe, sich für eine Stärkung der EU einzusetzen und neue offensive Anstrengungen für eine intensivere Zusammenarbeit mit den zahlreichen Ländern in Asien, Afrika, Lateinamerika und auf dem Balkan zu unternehmen, die sich zwischen den beiden Polen USA und China befinden.
Eine wertegeleitete Außenpolitik sollte dabei im Kontakt mit nichtdemokratischen Staaten nicht moralisch neutral sein, nicht gänzlich über Menschenrechtsverletzungen hinwegschauen, sondern am Bekenntnis zu den eigenen Grundsätzen festhalten – und dennoch der eigenen Interessen wegen nicht auf realpolitische Kompromisse verzichten: Politik und Wirtschaft verlangen Kompromisse, aber keine Verleugnung der eigenen Haltung. Reibungen zwischen Werten und Interessen sind unausweichlich, auch verschiedene Werte und verschiedene Interessen müssen gegeneinander abgewogen werden. Realistischerweise kann die Durchsetzung der eigenen Werte keine Vorbedingung beim Abschluss interessenbestimmter Verträge sein, aber eine interessengeleitete Politik ohne moralische Richtschnur verliert ihren Kompass.
Führt man sich die umfassenden Veränderungen vor Augen, die Deutschland zu signifikanten außen- und innenpolitischen Kurskorrekturen zwingen, so ist es fast erstaunlich, dass sich die übergroße Mehrheit unserer Gesellschaft, mag sie auch vieles an unserer Politik auszusetzen haben, in einem Punkt doch einig ist: Sie vertraut und akzeptiert Kursänderungen innerhalb des bestehenden Systems. Sie will keinen Systemwechsel, sie will allerdings, dass die Demokratie die neuen Herausforderungen ernst nimmt, den Anforderungen der Zeit effektiver nachkommt und auch die Partizipationswünsche in der Bevölkerung stärker berücksichtigt.
Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, welch große Bedeutung effektivem Handeln der Verantwortlichen auf den Ebenen von Gemeinden, Kreisen, Ländern und auf der Ebene des Bundes zukommt. Die Bürger honorieren, wenn Regierende einhalten, was sie versprechen, und wenn sie Probleme nicht aussitzen, sondern ihr Handeln tatsächlich auf deren Lösung ausrichten.
Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Kommunikation. Politikerinnen und Politiker sollten das, was sie tun oder umgekehrt verwerfen, den Bürgerinnen und Bürgern auf transparente Weise vermitteln. Wenn Menschen erfahren, welche Entscheidungen warum getroffen wurden und was auf sie zukommt, entsteht Vertrauen, das auch in schwierigen Zeiten trägt, wenn die Regierung Maßnahmen ergreift, die nicht bei allen auf Zustimmung stoßen. Entschlossene Führung ist in der liberalen Demokratie keine Gefahr, sondern ein Gebot.
Eine Regierung hat zwar den Mehrheitswillen zu erfüllen, darf aber Minderheiten nicht unberücksichtigt lassen. Sie darf andererseits nicht jeder Umfrage hinterherlaufen, sondern muss notfalls auch gegen aktuelle Mehrheiten entscheiden. Sie wird in solchen Fällen mehr für ihre Entscheidung zu werben haben, aber, wenn sie letztlich berechenbar und konsistent auftritt, Respekt und Vertrauen erfahren. Gute Führung weiß, was einer Gesellschaft zugemutet werden kann und was nicht. Gute Führung schafft Mehrheiten und Handlungsspielraum durch Argumente und ermöglicht Konsense, deren Notwendigkeit die meisten akzeptieren können.
Gute Führung versteht es nicht zuletzt, tatsächlich Gemeinschaft zu schaffen, obwohl die Diversität beständig zunimmt. Die Demokratie lebt bewusst von Pluralität, aber je mehr sich die Gesellschaft auffächert, je mehr Ethnien, Religionen und sexuelle Orientierungen sie enthält, je mehr sich kulturelle Traditionen und politische Auffassungen ihrer Bürgerinnen und Bürger unterscheiden, desto »verdünnter« (Georg Simmel) wird das Element der Gemeinsamkeit, desto weniger wird es einfaches wortloses Verstehen und gewachsenen emotionalen Gleichklang geben.
Umso wichtiger wird dann der gemeinsame Orientierungsrahmen, die gemeinsame Wertebasis, die für alle verpflichtend ist und an der sich alle messen lassen müssen. Umso unerlässlicher wird auch die Toleranz. Wer polarisiert, sei es durch rassistische, antisemitische, antiweiße oder sexuelle Diskriminierung, wer die Gesellschaft in »wir« und »sie« einteilt, in »das Volk« und »das Establishment« beziehungsweise »die Elite«, der sät Misstrauen und Angst und verstärkt die Konflikte in der Gesellschaft. Er ist weder innovativ noch zukunftsorientiert, sondern schürt als »Wutbürger« Ressentiments, Bitterkeit und Vorurteile – bedrückende Lebensgefühle, die nicht selten in Aggression und sogar Gewalt münden. Radikalisierung und Polarisierung aus unterschiedlichen Quellen sind heute die Hauptgefahren für die liberale Demokratie.
So mancher übersieht in seinem Verwerfungsfuror, sei er nun progressiv oder autoritär begründet, welche unleugbaren Errungenschaften der liberalen Demokratie unseren Alltag bestimmen. Es gibt eine verhängnisvolle Gewöhnung an das Gute; dieses wird schließlich so selbstverständlich, dass es banal erscheint. Doch der Vergleich mit anderen Ordnungen zeigt: Es gibt kein anderes System,
– in dem jeder Bürger Grundrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit genießt, die ihm niemand entziehen kann,
– in dem das Bundesverfassungsgericht (oder ähnliche Instanzen) und die gesamte Rechtsordnung garantieren, dass die Rechte des Bürgers nicht nur auf dem Papier stehen,
– in dem der Bürger in freien und geheimen Wahlen Regierungen abwählen und einen friedlichen Regierungswechsel herbeiführen kann,
– in dem Menschen in Vereinen, Bürgerinitiativen, Parteien und Gewerkschaften aktiv werden können,
– in dem Wohlstand für viele und soziale Absicherung für Bedürftige gesichert sind
– und in dem jeder, der dies will, das Land verlassen kann, ohne dass ihn jemand davon abhält.
Unsere liberale Demokratie ist keine Zwangsjacke von Geboten und Verboten, die ein bestimmtes und kein anderes Verhalten diktieren. Sie ist vielmehr eine Grundlage, die Individuen und Gruppen ermöglicht, den Raum, in dem sie leben, immer wieder zu ordnen und zu kritisieren, um den selbst gesteckten Idealen der Menschenwürde und der politischen Gleichheit gerechter zu werden. Der liberale Staat setzt keine ewige und absolute Wahrheit, er fördert ausdrücklich Diskurse, um sich einer Wahrheit anzunähern, die der Realität so weit wie jeweils möglich entspricht. Es handelt sich mithin um ein System, das auf eine stete Verbesserung der Gegenwart zielt: nicht auf eine revolutionäre Weise, die alles auf den Kopf stellt, auch nicht auf eine reaktionäre Weise, die an überkommene Muster fesselt. Ein work in progress. Einfach gesagt: Unsere Demokratie ist immer im Werden – wenn denn die Menschen sich dieser Aufgabe bewusst sind und sich ihr stellen.
Die liberale Demokratie lebt von Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Konflikte und politischen Auseinandersetzungen friedlich und mit einem Mindestmaß an Respekt austragen. Dies geschieht zum einen mithilfe von Institutionen, in denen unterschiedliche Interessen und Positionen abgewogen und Konflikte unter Beachtung von Regeln beigelegt werden können. Dies kann zum anderen dann, wenn die Konflikte in Krisen nicht mehr in den vorgesehenen Institutionen beigelegt werden können, auch durch außerparlamentarische Opposition und Protestbewegungen erfolgen. Es gehört zum Wesen der liberalen Demokratie, eine breite Meinungsvielfalt ebenso auszuhalten wie die Tatsache, dass unser Leben, je komplexer und diverser es wird, umso mehr Ambivalenzen enthält, die kaum aufgehoben werden können.
Für das Individuum bedeutet all dies, die Rolle eines Citoyens anzunehmen und sich gerade in Krisensituationen den neuen Herausforderungen zu stellen. Solange sich nur Einzelne dieser Mitverantwortung entziehen, ist noch keine Erschütterung in der Gesellschaft zu spüren. Wenn es viele Einzelne tun, dann sehr wohl. Deswegen gilt es, dieses Ja zur Verantwortung beständig wachzuhalten und es in jeder Generation neu zu erwecken. Machen wir uns außerdem bewusst: Als aus Untertanen Demokraten wurden, ist uns eine Würde zugewachsen, ohne die unsere Demokratie gar nicht zu denken ist.
Zum Schluss möchte ich auf eine oft zitierte Erkenntnis des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde verweisen. Ein freiheitlicher Staat, sagte er, könne nur von innen heraus, »aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert« werden. Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe daher von Voraussetzungen, die »er selbst nicht garantieren« könne.[1]
In anderen Worten: Es steht und fällt alles mit uns! Auch und gerade heute.
Es liegt an uns, ob und wie weit wir uns der Spirale von Polarisierung und Radikalisierung widersetzen.
Es liegt an uns, ob und wie weit wir ein von Rechtsstaatlichkeit und Toleranz geprägtes Zusammenleben in einer Gesellschaft der Verschiedenen verteidigen.
Um die Demokratie als eine Ordnung der Freiheit und Gleichheit zu erhalten, muss sie von einem verantwortungsstarken Geist ihrer Bürger getragen sein. Dann werden Krisen nicht Flucht und Endzeitstimmungen auslösen, sondern zu einem Aufbruch führen, wie er nur aus dem Geist ermächtigter Bürger erwachsen kann. Dabei gewinnen wir Zuversicht und Mut, wenn wir aus Vergangenem das Zutrauen zu künftigem Gelingen schöpfen.
Wer einst – wie im Westen Deutschlands – eine verlässliche Demokratie und eine starke Zivilgesellschaft errichten konnte und – wie im Osten – eine Gesellschaft der Ohnmächtigen in eine Gesellschaft der Freien verwandelte, der wird an eine gute Zukunft unserer Demokratie glauben. Er träumt nicht vom Gelingen, sondern hat tatsächlich eine Lebenswirklichkeit geschaffen, die Menschen einst nur ersehnt hatten. Und mag er heute auch erschüttert oder bedroht sein, so weiß dieser Bürger doch genau, was zu tun ist: Ich werde beseitigen, was sich als falsch erwiesen hat, ich werde neu schaffen, was erforderlich ist, und ich werde verteidigen, was sich als gut erwiesen hat – ein Leben in Freiheit und Würde, wie es nur unter dem Dach unserer Demokratie möglich ist.