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Am 25. Juni 2009, um 12 Uhr 26, platzte auf einen Notruf hin ein Sanitätsteam in Michael Jacksons Schlafzimmer im Anwesen 100 North Carolwood Drive in Holmby Hills. Man fand Jackson bewusstlos; er atmete nicht mehr. Da alle Wiederbelebungsversuche nichts fruchteten, fuhr man ihn um 13 Uhr 07 in die nur drei Meilen entfernte Universitätsklinik der UCLA. Etwas über eine Stunde später, um 14 Uhr 26 erklärte man Michael Joseph Jackson für tot; als Todesursache nannte man Herzstillstand. Man ordnete eine Autopsie an.

Drei Stunden später trat Michaels Bruder Jermaine vor das Krankenhaus und gab eine Erklärung ab, in der er bestätigte, was die Welt bereits seit einiger Zeit gewusst hatte. Man hatte ihn kaum für tot erklärt, da hatte die Klatschsite TMZ die Nachricht bereits ins Netz gestellt und damit eine beispiellose Welle der Berichterstattung ausgelöst. In den Stunden nach Jacksons Tod stieg der Internettraffic weltweit um fünfzehn Prozent und sorgte für den Absturz von Wikipedia, Twitter und der Website der Los Angeles Times. Das Tempo der Status-Updates auf Facebook verdreifachte sich.

Während die Welt draußen noch googelte, twitterte oder die Nachricht von Jacksons Tod streamte, begann sich eine Schar von Fans und Neugierigen vor der Universitätsklinik zur Totenwache einzufinden. Zu ähnlichen Aufläufen kam es vor dem Anwesen am Carolwood Drive und vor den Toren von Neverland. Am Abend standen bereits riesige Menschenmengen vor dem ehemaligen Hauptquartier von Motown in Detroit und dem Apollo Theater in New York. Bis zum nächsten Morgen gab es derlei spontane Ansammlungen auch auf den Straßen von London, Paris, Mexico City, Nairobi und Moskau.

Am 7. Juli übertrug das Fernsehen eine öffentliche Gedenkfeier im Staples Center in Los Angeles. Jacksons Brüder trugen den Sarg auf die Bühne, jeder mit einem einzelnen weißen Handschuh. Dann folgten Ansprachen von einer ganzen Reihe von Prominenten – von Brooke Shields über Reverend Al Sharpton bis hin zu Motown-Chef Berry Gordy. Zwischen den Ansprachen spielten Künstler wie Mariah Carey, Stevie Wonder und Jennifer Hudson Jacksons größte Hits. Über 31 Millionen Menschen sahen die Übertragung der Feier alleine in den USA, über 6,5 Millionen in England, 18 Millionen in Brasilien und Millionen mehr in der übrigen Welt. Über das Publikum vor den Fernsehern hinaus sahen 33 Millionen das Video online als Stream. Michael Jacksons Abschied war damit die meistgesehene Gedenkfeier der Weltgeschichte.

Die weltweiten Gefühlsäußerungen nach Jacksons Ableben zeigten, wie beliebt der Sänger nach wie vor war. Allein in der Woche, in der er starb, verkaufte Jackson 2,6 Millionen digitale Downloads und über 800 000 Alben; im zweiten Halbjahr 2009 verkaufte er neun Millionen Alben alleine in den Vereinigten Staaten und fünfunddreißig Millionen weltweit. Michael Jackson’s This Is It, der Dokumentarfilm mit Material von den Proben für die O2-Konzerte, kam später für zwei Wochen ins Kino; die zweihunderteinundsechzig Millionen Dollar, die er einspielte, machten ihn zum erfolgreichsten Musikfilm aller Zeiten. Laut Schätzungen von Billboard sorgten seine Fans in dem Jahr nach seinem Tod für Einkünfte in Höhe von über einer Milliarde Dollar, die in die Taschen seiner Erben flossen.

Am 3. September 2009 trug man Michael Jackson auf dem Forest Lawn Memorial Park von Los Angeles zu Grabe. In den dazwischenliegenden Wochen waren die Ereignisse um seinen Tod an den Tag gekommen. Die erschütterndste Nachricht war am 27. August das Ergebnis der amtlichen Totenschau, die Jacksons Ableben zum Tötungsdelikt erklärte; als Begründung dafür nannte man eine »akute Propofol-Intoxikation mit Benzodiazepin-Effekt«.

Bei Propofol handelt es sich um ein starkes Anästhetikum; die meisten Menschen hatten vor Jacksons Tod noch nicht einmal davon gehört, da es lediglich in Kliniken zur Sedierung von Patienten bei operativen Eingriffen zur Anwendung kommt; verabreicht man es ohne die nötigen Instrumente zur Messung von Sauerstofflevel, Herzfrequenz und Blutdruck, kann es extrem gefährlich sein. Unter dem immensen physischen und psychischen Stress der Proben für die Londoner Shows hatte Jacksons Schlaflosigkeit Ausmaße angenommen, die ihn funktionsunfähig machten. In seinem verzweifelten Verlangen nach Schlaf hatte er seinen Leibarzt Dr. Conrad Murray immer öfter um das Narkotikum gebeten, weil es ihn schlafen ließ.

Am Abend des 24. Juni war Jackson zu einer Generalprobe im Staples Center erschienen. Nachdem er wochenlang schwach und müde gewirkt hatte, schien der Sänger voll neuer Energie und Frische zu sein, als er die gesamte Show in einem atemberaubenden Auftritt absolvierte, die Regisseur Kenny Ortega als »biolumineszierend« beschrieb. Jackson verließ die Arena um halb eins; zu Hause erwartete ihn eine weitere schlaflose Nacht. Zur Beruhigung nach dem pulstreibenden Auftritt verabreichte Dr. Murray ihm zuerst starke Dosen der Narkotika Lorazepam und Midazolam. Als die Sonne aufging, hatte Jackson noch immer kein Auge zugetan, und um 10 Uhr 40 gab ihm der Arzt dann mit 25 Milligramm Propofol den letzten Stoß.

Eine Stunde später stellte der Arzt eigenen Aussagen zufolge fest, dass Jackson nicht mehr atmete. Nach einigen panischen Wiederbelebungsversuchen lief Murray nach unten und rief um Hilfe. Jacksons Security-Team folgte Murray zusammen mit Prince und Paris Jackson ins Schlafzimmer, wo sie Zeuge der verzweifelten Wiederbelebungsversuche des Arztes wurden. Fast eine halbe Stunde verging zwischen Murrays Auffinden des leblosen Sängers und dem Notruf.

Im Februar 2010, acht Monate nach Jacksons Tod, klagte man Dr. Conrad Murray wegen der Verabreichung besagter tödlicher Dosis Propofol der fahrlässigen Tötung an. Als das Verfahren gegen den Arzt im Herbst 2011 schließlich begann, sagte der Chef der Gerichtsmedizin im Los Angeles County, Dr. Christopher Rogers, im Zeugenstand, dass Michael Jacksons Gesundheit, so untergewichtig und von den Proben erschöpft er auch gewesen sein mochte, dem eines normalen Fünfzigjährigen entsprochen habe. Ohne die Ereignisse des 25. Juni 2009 hätte der Sänger ein durchaus respektables Alter erreichen können. Am 7. November 2011 sprach man Murray der fahrlässigen Tötung für schuldig und verurteilte ihn zu vier Jahren Haft.

Während des Verfahrens rief man auch Bill Whitfield, den Chef von Michael Jacksons Security-Team in Las Vegas, in den Zeugenstand in der Hoffnung, seine und die Erfahrungen seines Teams während ihrer Zeit bei dem Sänger könnten ein klareres Bild vermitteln, ein besseres Verständnis von dem, was am Tag von Michael Jacksons Tod passiert war.

Bill: Ich war an dem Vormittag unterwegs, hatte einige Besorgungen zu machen. Ich war mir noch immer nicht schlüssig, ob ich nach L.A. gehen sollte. Als ich nach Hause kam, hatte ich mich dann mehr oder weniger dazu durchgerungen. Ich wollte mich einfach in den Wagen setzen und fahren. Schon um zu wissen, was da los war. Aber kaum war ich ins Haus gekommen, begann das Telefon verrücktzuspielen. Es ging buchstäblich die Post ab: E-Mails, Textmessages, Voice-Mails. Ich nahm eins der Gespräche an, weil es ein Freund von mir war. Er meinte: »Yo, was ist denn mit deinem Kumpel?«

»Wie meinst du das?«

»Mann, dein Kumpel ist tot.«

»Wer denn?!«

»Na, Michael Jackson!«

»Spinnst du?«

Ich glaubte ihm nicht. Ich hörte das nicht zum ersten Mal. Es musste ein Gerücht sein. Aber mein Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Ich sah die Namen von Leuten, die ich noch von New York her kannte, Leuten, mit denen ich eine Ewigkeit nicht gesprochen hatte. Ich bekam es mit der Angst. Ich stand auf und machte den Fernseher an, und da hatte ich die Nachricht auf jedem Kanal.

Javon: Ich war bei Best Buy einkaufen, als mit einem Mal mein Telefon zu klingeln begann. Im selben Augenblick rief eine der Verkäuferinnen drüben bei den CDs: »Mein Gott! Michael Jackson ist tot!« Ich griff nach meinem Telefon, um ranzugehen. Es war mein Cousin Jeff. Er sagte: »Mr. Jackson ist gestorben.«

»Im Ernst?«

»So heißt es jedenfalls überall. Lass mich mehr rausfinden, dann ruf ich zurück.«

Ich atmete tief durch. Alles, was mir durch den Kopf ging, war: Wo sind die Kinder? Haben sie ihren Vater gesehen, als er starb? Bei wem sie wohl waren? Ich raste nach Hause, um mir die Nachrichten selbst anzuschauen.

Bill: Im Fernsehen sah man die Kamerateams vor der Klinik. Der Nachrichtensprecher sagte: »Wir erwarten jeden Augenblick eine Erklärung von einem Angehörigen.« Als ich Jermaine auf das Podium treten sah, dachte ich: Der wird doch jetzt nicht wirklich sagen, was ich befürchte! Jermaine ließ sich Zeit, tat einige tiefe Atemzüge, und schließlich gab er bekannt: »Mein Bruder, der legendäre King of Pop, Michael Jackson, ist verstorben …« Schockiert sank ich zurück in mein Sofa.

Javon: Als das Amt des Coroners, das unter anderem bei unerwarteten Todesfällen tätig wird, seinen Tod bestätigte, ging ich ins Bad, allein, und brach zusammen. Ich fing an zu heulen. Ich sah in den Spiegel, mir rutschte das Herz in die Hose, ich hatte Schmerzen in der Brust. Die Kinder wollten mir nicht aus dem Kopf. Wo mochten sie sein? Wie hatten sie das aufgenommen? Sie kannten den Rest der Familie eigentlich gar nicht. Er hatte sie von allen ferngehalten. Der einzige Mensch, den sie außer ihrem Vater wirklich kannten, war Ms. Grace. Jetzt, wo ihr Papa tot war, wo sollten sie da hin? Wer sollte sich um sie kümmern?

Bill: Als ich den Clip sah, in dem der Rettungswagen von seinem Haus losfährt, war mein erster Gedanke: Die haben auf einen Krankenwagen gewartet? Warum haben sie ihn nicht selber in die Klinik gefahren? Warum haben sie ihn nicht einfach beim ersten Anzeichen, dass was nicht stimmt, in den Wagen verfrachtet und schleunigst in die Klinik gefahren?

In den nächsten Tagen hatte ich eines im Kopf: Was, wenn ich dort gewesen wäre? Hätte ich etwas tun können? Wäre alles anders gekommen, wäre ich auf seinen Anruf hin nach L.A. gefahren? Später dann, als man den tatsächlichen Notruf brachte, hörte ich jemanden am Telefon der Vermittlung sagen: »Wir haben hier einen Herrn. Er atmet nicht mehr.« So ein Schwachsinn! Ich hätte ihn ins Auto geschmissen und wäre selber mit ihm in die Klinik gerast. Wo die praktisch gleich um die Ecke war. Er atmet nicht? Na dann los! Abflug! Vielleicht wäre es tatsächlich anders gekommen, wäre ich dort gewesen. Vielleicht bilde ich mir meine Reaktion jedoch auch nur ein, aber dass ich einfach rumgesessen und auf die Sanitäter gewartet hätte, glaube ich kaum.

Das Szenario wollte mir nicht aus dem Kopf: Was wäre gewesen, wenn? Immer und immer wieder spielte ich es durch. Aber ich kann Ihnen sagen, was mir bei der Nachricht von seinem Tod nicht in den Sinn kam. Dr. Conrad Murray. An den habe ich noch nicht mal gedacht. Nicht einen Augenblick kam ich auf den Gedanken, dass der damit was zu tun gehabt haben könnte. Propofol? Nie von gehört. Er hat jedenfalls nie so was genommen, um zu schlafen, als wir bei ihm waren, und wir wissen das, weil er nie geschlafen hat.

Alles, was ich tatsächlich über Michael Jackson und rezeptpflichtige Medikamente weiß, ist das, was alle Welt weiß, nämlich das, was darüber in den Medien zu hören war. Es gibt kaum was Negatives, was ich über Michael Jackson nicht gehört hätte, aber es waren alles Gerüchte, also versuchte ich immer nur nach dem zu gehen, was ich mit eigenen Augen sah, und ich habe nicht viel gesehen. Einmal, in Virginia, da wollte er mitten in der Nacht ins Krankenhaus. Das war ungewöhnlich. Die Kamera, die er im Four Seasons aus der Wand gerissen hat? Schön, da war ganz schön was am Dampfen. Aber das war es auch schon. In all der Zeit, in der ich mit ihm auf Tuchfühlung war, bei all dem engen Kontakt mit ihm war das das Einzige, was ich tatsächlich sah. Der Michael Jackson, den ich kannte, der hatte die Nase fast immer in einem Buch oder half den Kindern bei den Hausaufgaben. Das war der Mann, für den ich gearbeitet habe.

Dr. Murray besuchte Mr. Jackson in der Zeit, die ich bei ihm war, vielleicht drei, vier Mal. Und die paar Mal, die er vorbeischaute, da kam er wegen der Kinder. Paris hatte die Grippe, Blanket hatte was mit dem Magen, das war’s. Falls Dr. Murray Mr. Jackson behandelte oder verschreibungspflichtige Medikamente vorbeibrachte, dann hatte ich davon natürlich nichts gewusst. Aber er war nie länger als eine, vielleicht anderthalb Stunden im Haus, höchstens. Und nie über Nacht. Falls Dr. Murray ihm half, Schlaf zu finden, dann jedenfalls nicht zu meiner Zeit. Und warum nicht? Warum war Dr. Murray nicht in Virginia? Warum war er nicht in New Jersey? Weil Michael Jackson ihn nicht brauchte. Es war der King of Pop, der all diesen Mist heraufbeschworen hat, weil hinter dem all die Aasgeier her waren, weil er die vielen Shows zu machen versuchte, er hatte all den Druck am Hals. Das Drama kam erst mit dem King of Pop.

Javon: Noch Wochen danach hätte ich mich in den Hintern treten können. Immer wieder dachte ich: Was, wenn ich dort gewesen wäre? Ich kann nicht hundertprozentig sagen, wie ich das angepackt hätte, aber hätte man ihn für tot erklärt, während ich bei ihm war? Also ich weiß, ich hätte mir Vorwürfe gemacht. Ich hätte mich gefragt: Hab ich was falsch gemacht? Hab ich zu lange mit dem Notruf gewartet? Irgendwas. Es hätte mich fertiggemacht, ihn in meiner Obhut sterben zu sehen – wenn seine Kinder denken würden, wir hätten nicht alles Menschenmögliche getan, um ihren Papa zu retten. Dass ich da nicht dabei war, gab mir wenigstens die Möglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen.

Bill: Langsam, aber sicher stellte sich bei mir das Gefühl ein, dass wir einfach nicht dort sein sollten. Wir sollten damit nichts zu tun haben, mit dieser ganzen Geschichte um seinen Tod. Jeder, der damals dabei war, hat das den Rest seines Lebens mit sich herumzutragen. Jemand hat mir das sogar mal gesagt. Einer von seinen Fans hat mir so was gesagt. »Er musste ja in L.A. sterben«, meinte sie. »Das Konzert, der Druck, es musste so kommen, und vielleicht lief eure Beziehung mit ihm so, weil er nicht in eurer Obhut sterben sollte. Ihr solltet das nicht mit euch rumtragen müssen.« Daran muss ich noch immer denken: Ich sollte da nicht dabei sein. Oder? Vielleicht ist der Gedanke verrückt, aber ich frage mich das eben. Ich halte daran fest.

Wenn ich jetzt so daran zurückdenke, bin ich in mancher Hinsicht eher erleichtert, als dass mir das Kummer macht. Ich habe es akzeptiert. Irgendwie bin ich der aufrichtigen Überzeugung, dass er nicht gestorben ist. Er ist nur gegangen: Ich geh weg von hier. Ich kehr all dem Scheiß, diesem Leben hier, den Rücken. Ich geh. Weil er nie auch nur die Chance auf ein richtiges Leben gehabt hätte. Niemals. Nicht in dieser Welt. Er hätte nie ein Leben führen können wie Sie und ich – einfach hergehen und frei sein. Michael Jackson hätte immer Aasgeier um sich gehabt; er hätte sich nie ohne Security-Team bewegen können, und das für den Rest seiner Tage. Wer möchte so leben? Er hätte nie Frieden gefunden. Jedenfalls sage ich mir das. Jetzt ruht er in Frieden.

Genau dieses Gefühl stellte sich in den Monaten danach bei mir ein, aber es dauerte eine Weile. Etwa eine Woche nach seinem Tod kam die Gedenkfeier im Staples Center. Ich nahm Kontakt zu einer Frau von AEG auf, wo man das alles arrangierte. Ich sagte ihr, ich bräuchte Karten für mich und Javon. Dann, vielleicht zwei Tage vor der Feier, wir bereiteten gerade die Fahrt nach L.A. vor, kam ein Anruf rein. Ich ging ran. Es war eine weinende Frau. Sie sagte: »Bill, ich bin’s, Joanna.«

Joanna? Ich kenne keine Joanna. Ich sagte: »Wer?«

Sie sagte: »Ich bin’s. Joanna. Friend

Oh. Friend. Die Frau aus Virginia. Ich sagte: »Hey, wie geht’s denn so?«

Sie weinte nur weiter. Sie sagte: »Bill, ich muss Michael sehen. Ich muss mich von ihm verabschieden. Kannst du da helfen, Bill? Bitte.«

Sie bettelte mich an, ihr zu helfen – sie wollte auf die Gedenkfeier. Nicht, dass sie sie so nannte. Sie hatte einen starken osteuropäischen Akzent, und ihr Englisch ging grade mal so. Wörter wie memorial kannte sie nicht. Sie sprach nur von der »Show«. Sie sagte: »Bill, ich muss gehen zu Show.« Nur hatte sie keine Chance, da reinzukommen. Mr. Jackson hatte sie vor der ganzen Welt geheim gehalten. Es gab niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Kein Mensch wusste, wer sie war. Sie sagte nur immer wieder: »Bill, bitte! Sie müssen mich da hineinbringen!« Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Ich sagte ihr, ich würde sie zurückrufen. Dann rief ich Javon an und erzählte ihm von dem Problem.

Javon: Ich wollte da nicht hin. Ich war zu dem Zeitpunkt viel zu frustriert. Ich hatte all die Artikel in den Zeitungen gelesen und die Sendungen im Fernsehen gesehen. Überall, wo man hinsah: Michael Jackson, Michael Jackson, Michael Jackson. Es kam so weit, dass man in Dancing with the Stars die Wettbewerber fragte: »Wie stehen Sie denn zu Michael Jacksons Tod?«

Ich hatte kein Problem mit Leuten, die einfach sagten: »Okay, er war ein großer Entertainer, und wir werden seine Musik nie vergessen.« Das störte mich nicht. Was ich nicht haben konnte, das waren all die Prominenten, die aus dem Unterholz kamen und so taten, als wären sie seine besten Freunde gewesen, als hätten sie jeden Tag mit ihm geredet. Da gab es welche, die meinten: »Ja, so vor einem Jahr hing ich mit Michael ab …« Und ich sitze vor dem Fernseher und sage mir: »Nein, stimmt doch nicht. Ich war die ganze Zeit über bei ihm, und du warst nicht da.«

Ich wusste, die Beerdigung würde eine total verlogene Angelegenheit. Und mit so viel Verlogenheit wollte ich nichts zu tun haben. Ich wusste, ich würde mich da unmöglich beherrschen können. Also sagte ich zu Bill: »Also echt, Mann, wenn ich da hingehe, tue ich einem was an.« Ich hätte Mr. Jackson gerne die letzte Ehre erwiesen, aber ich wusste, das würde was ganz anderes. Ich hatte schon meine Bedenken, als Bill wegen Friend anrief. Ich sagte ihm: »Bill, geh du für uns beide hin und gib meine Karte ihr. Sie sollte dabei sein.«

Bill fragte: »Bist du sicher?«

Ich antwortete: »Ja, ich bin sicher.«

Bill: Es ist nicht so, dass ich darauf brannte, da hinzugehen. Mir ging’s da irgendwie wie Javon, aber ich war eher hin- und hergerissen. Ich fand es wichtig, dabei zu sein. Ich rief Friend zurück, blieb mit ihr in Verbindung, sprach mich mit ihr ab. Sie war noch nicht mal in den Staaten, als sie anrief, brauchte aber nicht mal einen Tag, um von Europa rüberzukommen.

Am Morgen der Feier fuhr ich rüber zum SLS Hotel in Beverly Hills, wo die Karten ausgegeben wurden. Ich fuhr hin, stellte mich an, bekam die Karten und ging wieder raus, um auf Friend zu warten. Ich sah eine Gruppe von Leuten, die Karten im Radio gewonnen hatten – man hatte in irgendeiner Sendung welche verlost. Dass man eine Karte für Michael Jacksons Gedenkfeier gewinnen konnte, machte mir wirklich zu schaffen. Aber schließlich hörte ich hinter mir ein lautes: »Bill!« Ich drehte mich um und sah Friend auf mich zukommen. Sie weinte noch immer. Man hätte meinen können, sie hätte die letzten zehn Tage durchgeheult. Sie kam rüber. Ich nahm sie in den Arm und gab ihr die Karte. Dann sah ich sie erst wieder, als wir drinnen waren.

Vor dem Staples Center herrschte Chaos. Überall war Polizei, man hatte mehrere Straßenblöcke abgeriegelt. Ich parkte in einer Garage gut zehn Straßen weiter und ging dann zu Fuß. Seine Fans säumten hinter Polizeibarrikaden die Straßen, sie hatten Schilder und Blumen dabei. Eine Menge Leute hatte sich angezogen wie er, die verspiegelte Sonnenbrille, den Schlapphut. Es waren Tausende da.

Nachdem ich endlich drin war und auf meinem Platz saß, war mir klar, dass das genau der verlogene Zirkus werden würde, den wir befürchtet hatten. Die ganze Geschichte war Hollywood in Reinkultur, eine Gelegenheit, sich sehen zu lassen, ein Who’s who. Ich sah mich um und sah einen Prominenten neben dem anderen. Die Leute unterhielten sich, lachten, es war eine Party. Sogar die Kardashians waren da. Spinn ich? Javon wäre ausgeklinkt, wenn er das gesehen hätte.

Der Abschnitt, in dem ich saß, fasste so um die fünfzehnhundert Leute, und ich sah vielleicht dreißig, vierzig, die wirklich trauerten. Ich sah das Mädchen mit dem roten Wagen, das immer vor dem Haus am Monte Cristo Way gestanden hatte. Sie war auch dabei. Als ich die sah, dachte ich bei mir, das ist genau die Art von Fan, die hier dabei sein sollte. Man sollte all die falschen Arschgeigen auf die Straße setzen, die Türen aufmachen und die Fans reinlassen. Sie waren es, die es verdient hätten, hier zu sein. Seine Fans waren die Einzigen, die ihn nie im Stich gelassen haben. Immer, wenn die Fans sagten: »Wir lieben dich, Michael«, antwortete er: »Ich liebe euch noch mehr.« Und er meinte es ernst. Sie bedeuteten ihm noch mehr als er ihnen. Sie lagen ihm so sehr am Herzen, dass sie in gewisser Hinsicht die einzige feste und anhaltende Beziehung in seinem Leben, seine einzige wirkliche Liebesaffäre waren.

Als man das Programm abzuspulen begann, achtete ich eigentlich gar nicht darauf, was sich auf der Bühne abspielte. Ich war eher in Gedanken verloren. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass die Leute da vorne sich alle von einem anderen Menschen verabschiedeten als ich. Trotz all der Künstler, die auftraten, Usher, Mariah Carey, John Mayer, ich hörte nicht mal zu. Ehrlich. Friend hatte völlig Recht gehabt. Das war keine Gedenkfeier. Es war eine Show. Eine Show und nichts anderes.

Zum Schluss holten sie auch noch seine Familie auf die Bühne. Einige seiner Brüder sprachen ein paar Worte, und dann meinte jemand: »Paris möchte ein paar Worte sagen.« Als ich das hörte, fuhr meine Hand automatisch in die Jackentasche und holte die Sonnenbrille raus. Ich setzte sie auf. Ich wusste, mir würde das Wasser in den Augen stehen, wenn sie den Mund aufmachte. Sie trat vor, und sie schraubten das Mikro runter für sie. Sie machte sich an ihren Vers, und als sie sagte: »Daddy war der beste Vater, den ihr euch vorstellen könnt«, konnte ich einfach nicht mehr. Ich ging total aus dem Leim. Ich hörte noch nicht mal den Rest von dem, was sie sagte. Es tat einfach zu weh. Ich wollte es gar nicht hören.

Dann begann sie zu weinen. Und mir wurde in dem Augenblick klar, dass ich sie noch nie hatte weinen sehen. Ich kannte nur das kleine fröhliche Mädchen, das immer ein Lächeln oder ein Lachen für einen hatte. Das galt auch für Prince und Blanket. Prince weinte, als er den Hund in New Jersey zurücklassen musste, das war aber auch das einzige Mal. Darüber hinaus hatte ich keines der Kinder je weinen oder sich auch nur aufregen sehen. Sie waren wirklich die denkbar glücklichsten Kinder gewesen. Sie liebten ihren Daddy, und sie liebten einander. Sie waren immer eine richtig glückliche Familie.

Nachdem Paris fertig war, kam Marlon Jackson auf die Bühne und dankte allen fürs Kommen. Dann traten er und die anderen Jackson-Brüder an den Sarg und trugen ihn raus. Man spielte »Man in the Mirror«, und die Leute riefen: »Wir lieben dich, Michael!« Als ich mir das so ansah, ging mir eine ganz bestimmte Erinnerung durch den Kopf, und zwar eine Unterhaltung mit Grace im Haus am Monte Cristo Way, noch ganz am Anfang meiner Zeit bei ihm. Wir waren zusammen in der Garage. Ich setzte irgendwelchen Überwachungskram zusammen, und sie saß an dem kleinen Arbeitsplatz, den sie sich dort aufgebaut hatte. Mr. Jackson hatte ihr aufgetragen, irgendjemandem weiß Gott was von ihm auszurichten. Die Aufgabe frustrierte sie zusehends, bis sie schließlich sagte: »Der Boss will, dass ich die Person da kontaktiere, aber ich hinterlasse eine Nachricht nach der anderen, und kein Mensch ruft zurück. Er scheint manchmal zu vergessen, dass es Leute gibt, die nach der ganzen Geschichte nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.«

Ich hakte nach: »Was für ’ner Geschichte? Was meinen Sie?«

»Na, der Prozess«, sagte sie. »Seit dem Prozess rufen eine Menge Leute einfach nicht mehr zurück.«

Sie ließ mir damit eine Warnung zukommen; wie so oft sagte sie mir damit indirekt, wie es um Michael Jackson stand. Sie erzählte mir dann von der Zeit unmittelbar nach dem Verfahren. »Nach seinem Freispruch«, sagte sie, »gaben wir ihm in Neverland eine Party, aber niemand kam.«

»Niemand?«

»Na ja, ein paar schon«, sagte sie, »aber nicht viele.«

Sie erzählte, dass sie eine Gästeliste mit all seinen Freunden aufgesetzt hätten, Leute, mit denen Mr. Jackson im Lauf der Jahre gearbeitet habe. Fast dreihundert Leute hatten sie eingeladen. Es kamen vielleicht fünfzig. Und das waren größtenteils welche, die für ihn arbeiteten. Die Leute, die sich in Neverland um das Anwesen kümmerten. Leute aus den Kanzleien seiner diversen Anwälte. Leute, mit anderen Worten, die fürs Kommen bezahlt wurden. Alle anderen sagten ab, sie hätten keine Zeit oder schon was anderes vor. »Und er wusste Bescheid«, sagte Grace. »Er wusste, warum die nicht kamen. Die Leute riefen an und sagten ihm, wie gern sie ihn hätten, und dass sie für ihn beteten, aber nur ganz wenige sagten in aller Öffentlichkeit, dass sie ihm glaubten. Eine Menge Leute tun so, als wären sie seine Freunde, aber das sind sie nicht wirklich. In dem Augenblick, in dem sie an ihm nicht verdienen können, ist von denen kaum einer wirklich da.«

Mr. Jackson hatte nach dem Freispruch fest daran glauben wollen, dass alles wieder so würde wie früher. Er dachte, die Welt wüsste jetzt, dass er unschuldig war, dass man ihn zu Unrecht angeklagt hatte, dass alle wieder zurückkommen und ihn wieder mögen würden. Aber dazu kam es nicht. Es hat ihm das Herz gebrochen. Wir haben ja heute noch all die Prozesse, die eidesstaatlichen Aussagen, all die Leute, die den und den beschuldigen, Fragen stellen, einer verklagt den anderen, all das Gezanke darüber, wer oder was nun für Michael Jacksons Tod verantwortlich war. Für mich ist völlig offensichtlich, was Michael Jackson umgebracht hat.

Als ich in der Halle saß und mir die Leute ansah, die sie rund um mich füllten, da wollte mir besagtes Gespräch mit Grace nicht aus dem Kopf. Ich wollte nur mit meinen Gedanken alleine sein, meinen ganz persönlichen Augenblick der Trauer. Aber das ging nicht. Weil ich einen solchen Zorn in mir hatte. Der stellte alles andere in den Schatten. Ich saß da mit all den Leuten, die auf die Bühne kamen und darüber quatschten, was für ein guter Freund Michael gewesen sei und was er ihnen bedeutet habe, und alles, woran ich denken konnte, war: Wo waren die denn? Wo waren die an all den Tagen, die vergangen waren, ohne dass nur einmal das Telefon geklingelt hätte? Als er nächtelang nicht schlafen konnte und er keinen Menschen auf der Welt hatte, den er hätte anrufen können? Oder wenn Paris Geburtstag hatte und kein Mensch aufkreuzte, um zuzuschauen, wie sie ihre Geschenke auspackte – außer ihrem Kindermädchen und zwei Bodyguards? Wo waren die denn, als man ihn aus Hotels rauswarf und seine Kinder aus dem Koffer lebten und wir noch nicht mal das Geld fürs Benzin hatten? Wo waren die Leute da?

Wo waren die alle, als er sie gebraucht hätte?