Seufzend stellte Clera den schweren Korb ab und begann die Wäschestücke zu sortieren. Warme Sonnenstrahlen fielen durch das kleine Fenster und machten selbst den feinsten Staub auf der Scheibe sichtbar. Leise singend faltete sie die Kleider und legte sie ordentlich aufeinander. Lieder, die ihre Grossmutter ihr vorgesungen hatte, als sie noch klein gewesen war, gingen ihr durch den Kopf, während sie beinahe mechanisch ihre Arbeit erledigte, als erfordere kein Handgriff Konzentration.
Sie sang gerne bei der Arbeit, jedoch nur, wenn sie sicher war, dass niemand sie hörte. Heute würde sie niemand hören. Ihre Familie war früh zum Heuen aufgebrochen und würde nicht vor Einbruch der Dämmerung zurück sein.
Sehnsüchtig blickte sie aus dem Fenster. Wie oft hatte sie schon darum gebeten, mitgehen zu dürfen. Sie liebte es, die sonnigen Sommertage draussen auf den Berghängen zu verbringen und den Duft von frischem Heu einzuatmen. Aber irgendwann hatte sie es aufgegeben.
«Wir brauchen nicht so viele Leute», hatte ihr Vater stets gesagt. «Jemand muss doch daheim auf dem Hof bleiben.» Diese fadenscheinige Erklärung hatte Clera im ersten Moment wütend gemacht, doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu betteln. Ihre Mutter hatte zu dieser Frage geschwiegen. Früher, vor dem Tod ihrer Grossmutter, hatte Clera Verständnis gehabt, dass jemand bei ihr bleiben musste, und das hatte ihr nichts ausgemacht. Manchmal hatte Grossmutter Chatrina sie mitten am Nachmittag zu sich in ihre Stube gerufen, ihr Kräutertee gekocht und Geschichten erzählt.
«Wenn sie dich meinetwegen schon nicht mitgehen lassen, dann sollst du es wenigstens hier gut haben», hatte sie immer gesagt.
Clera hatte diese Teepausen geliebt, doch seit Chatrinas Tod vor drei Jahren verstrichen die Tage ohne diese glücklichen Stunden. Drei Jahre, in denen Cleras Alltag im Sommer mehr und mehr eintönig geworden war. Ein Tag glich dem anderen: Oft war sie mit ihrer Arbeit bereits am frühen Nachmittag fertig und erledigte danach Dinge wie Fensterputzen oder Abstauben. Nicht zuletzt lag das daran, dass sie sehr geschickt war und sich gut auf das, was sie tat, konzentrieren konnte.
Auf dem Weg zur Scheune fiel ihr Blick auf die kleine Weide neben dem Stall, die sie vor zwei Jahren gebaut hatten, als sie ein Zicklein von Hand aufziehen mussten. Die Ziege war inzwischen ausgewachsen und brauchte sie nicht mehr. Auch die Hütte des Hofhunds Floc war leer, ihre Familie hatte ihn zum Heuen mitgenommen.
In der Scheune stellte sie den Wäschekorb auf seinen Platz und wischte die Hände an ihrer Schürze ab. Am Himmel zeigte sich keine Wolke, dem Stand der Sonne nach konnte es noch nicht weit nach zwei Uhr sein. Clera überlegte, ob sie ins Dörfchen hinuntersteigen sollte, um nachzusehen, ob Post gekommen war. Mitholz war das einzige Dorf, das sie kannte. Jedes Mal, wenn sie an dem kleinen Schulhaus vorbeiging, überlegte sie, was sie davon abgehalten hatte, länger zur Schule zu gehen. Ihre Brüder waren alle länger zur Schule gegangen als sie, ihr aber hatten die Eltern nur das absolute Minimum zugestanden. Seit sie alt genug war, musste sie daheim auf dem Hof helfen. Später hatte ihre Grossmutter ihr noch ein paar Dinge beigebracht, aber mit der Schule war das nicht zu vergleichen gewesen.
Damals, als ihre Eltern vor über zehn Jahren aus dem Engadin hierher eingewandert waren, war ihre Grossmutter nur widerwillig mitgekommen, sie hatte den Hof in Graubünden nicht verlassen wollen. Gleichzeitig hatte sie das Berner Oberland die «alte Heimat der Familie» genannt, was Clera nie verstanden hatte. Heute bereute sie es, dass sie nie nachgefragt hatte.
Grossmutter Chatrina war die Einzige gewesen, mit der Clera noch Vallader, das rätoromanische Idiom des Unterengadins, gesprochen hatte. Als ihre Brüder zur Schule gingen, hatte aber das Deutsche nach und nach Eingang in ihre Familie gefunden und das Rätoromanische verdrängt.
«Wenn ihr es hier zu etwas bringen wollt, müsst ihr Deutsch beherrschen», hatte ihr Vater einmal gesagt. «Das Rätoromanische brandmarkt uns als Fremde.»
Clera hatte das nie so empfunden, sie sprach beide Sprachen fliessend und war auch in der Schule nie ihrer Herkunft wegen gehänselt worden. Weder ihre Schulkameraden noch ihre Lehrer hatten um ihre Sprachkenntnisse gewusst, aber sie war auch meist sehr schweigsam gewesen im Unterricht.
All dies ging ihr durch den Kopf, als sie den schmalen Pfad Richtung Dorf einschlug. Der Weg war zwar steil und steinig, aber viel kürzer als das Strässchen, das sich in grossen Windungen durch den Wald und die Wiesen schlängelte.
Der Gang erwies sich als umsonst, wie Clera feststellte, als sie das Postamt betrat und einen Blick in die kleine Holzkiste an der Wand warf, über der ihr Familienname ins Holz geritzt war. Sie nickte dem älteren Herrn hinter dem grossen Schreibtisch zu und stiess die Tür auf. In dem Raum hatte sie sich noch nie wohlgefühlt. Sie mochte die neugierigen Blicke des Pöstlers am Schreibtisch ebenso wenig wie die der anderen Bauern, die ihre Post selbst abholen mussten, da ihre Höfe zu abgelegen waren, als dass der Postbote täglich hinging. Seit drei Monaten wartete sie nun auf eine Antwort ihrer besten Freundin Vrena, mit der zusammen sie die Schulbank gedrückt hatte. Sie war ein Jahr älter als Clera und auf einem Hof nur wenige Kilometer entfernt aufgewachsen. In ihrer Schulzeit waren die beiden unzertrennlich gewesen, doch vor einem Jahr hatte Vrena geheiratet und war weggezogen. Seitdem schrieben sie sich Briefe, sahen sich aber nur noch, wenn Vrena ihre Eltern besuchte, was äusserst selten vorkam. Clera wunderte sich darüber. Ihre Freundin wohnte nun in der Nähe von Bern, nicht so weit entfernt also, dass sie nicht zu Besuch kommen könnte.
Die Schatten, die vor ihr auf den Weg fielen, wurden immer länger. Clera war derart mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie das erst bemerkte, als sie zu frösteln begann und feststellte, dass der Wald zu ihrer Rechten die Sonnenstrahlen verschlang. Der Wald ... Wenn sie an der letzten Verzweigung nicht abgebogen wäre, hätte sie der Weg, den kaum jemand zu benutzen schien, durch den dichten Wald geführt. Nachdenklich drehte sie sich um und fragte sich, warum sie den Weg am Waldrand entlang gewählt hatte. In ihrer Schulzeit hatte sie das immer getan und ihre Gewohnheiten nie geändert. Ihr Blick wanderte über die grünen Blätter, irgendwo klopfte ein Specht an einen Baum. Entschlossen kehrte Clera um, ging die wenigen hundert Meter zurück zur Abzweigung und eilte auf dem anderen Weg dem Wald zu.
Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach und zauberten goldene Flecken auf den wildgemusterten Waldboden. Mücken tanzten in Schwärmen im warmen Licht. Gemächlich spazierte Clera durch die unberührt scheinende Wildnis. Ohne dass sie es bemerkte, wurde sie langsamer, beinahe andächtig schritt sie durch den grünen Bogen aus Ästen und Blättern über ihr. Der Wind rauschte sachte in den Blättern, als wollte er sie daran erinnern, dass er auch noch da war und dem Wald Leben einhauchte.
Plötzlich huschte ein Reh vor Clera über den Weg und verschwand im Dickicht. Wie ein Schatten, dachte Clera, während sie noch auf die Stelle starrte, wo das Tier verschwunden war. «Nächstes Mal», flüsterte sie, «gehe ich mit dir quer durch den Wald.»
Als Clera den Hof erreichte, drehte sie sich nochmals um und liess den Blick über das weite Grün schweifen. Von ihrem Zuhause aus sah sie den Wald von oben, sah, wie weit er sich erstreckte, bis zur anderen Talseite. Die Kander verschwand im dunklen Grün, kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein und schlängelte sich weiter durch das Tal.
Langsam drehte Clera sich zum Haus um. Bevor sie die Tür zu dem kleinen Raum unter der Laube aufstiess, nahm sie sich vor, in nächster Zeit öfter in den Wald zu gehen, solange er grün war.
Die Bilder tanzten ihr immer noch durch den Kopf, während sie das Abendessen zubereitete. Viel gab es nicht zu tun, alle Handgriffe gingen ihr geschmeidig von der Hand.
Das Wohnhaus war für eine so grosse Familie eigentlich nicht gross genug, besonders wenn ihr ältester Bruder Teodor zu Besuch war. Seit er in Thun im Metallwerk Selve arbeitete, besuchte er die Familie nur noch alle paar Wochen. Von allen ihren Brüdern stand er ihr fast am nächsten.
Vorsichtig stellte sie die dampfende Schüssel auf den Tisch und warf einen Blick aus dem Fenster. Noch war niemand zu sehen. Seufzend stiess Clera die Tür zu ihrem Zimmer auf. Über zu wenig Platz konnte sie als Einzige nicht klagen. Die übrigen Kammern, die ihre Brüder sich teilen mussten, lagen im oberen Stock, doch sie hatte nach dem Tod ihrer Grossmutter deren geräumige Stube im Erdgeschoss bekommen. Nie würde sie die Diskussionen und die mürrischen Blicke ihrer Brüder vergessen, als ihre Grossmutter ihren Vater gebeten hatte, ihr den Raum zu überlassen. Clera war damals gerade achtzehn geworden, eine junge Dame, wie Grossmutter Chatrina gesagt hatte. In den drei Jahren, die seither vergangen waren, war die Stube für sie zu «ihrem Zimmer» geworden.
Ihr Blick schweifte über das Bücherregal, das sie so belassen hatte, wie ihre Grossmutter es eingerichtet hatte. Sie wollte gerade nach ihrem Märchenbuch greifen, als sie draussen den Hofhund bellen hörte. Rasch ging sie zurück in die Küche. Im Vorbeigehen liess sie ihre Hand über die Schüssel gleiten, um festzustellen, ob die Suppe noch heiss genug war, und stellte sich in den Türrahmen.
«Salü Clera!» Michel, der Jüngste, winkte ihr von der Scheune her zu und hängte seinen Rechen an die Wand.
Mit einem liebevollen Lächeln winkte sie zurück.
«Ist das Abendessen fertig?», erkundigte sich ihre Mutter ohne Gruss und strich sich eine Strähne ihres grau melierten Haares aus dem Gesicht.
«Steht auf dem Tisch.»
Mit gesenktem Blick sass Clera am Tisch, wie sie es immer tat, wenn der Rest der Familie sich über den vergangenen Tag unterhielt. Selbst nach dem Tischgebet, wenn sich alle über die Suppe hermachten, blieb sie teilnahmslos sitzen und starrte vor sich hin, bis der Schöpflöffel frei wurde. Der Reihe nach blickte sie ihre Brüder an. Ihr war bisher nicht aufgefallen, dass Bengiamin und Mattiu, die Zwillinge, die fast drei Jahre älter waren als sie, sich nicht mehr so ähnlich sahen wie früher. Als Kinder hatte man sie kaum auseinanderhalten können. Clau war inzwischen fast zwanzig und wortwörtlich das schwarze Schaf der Familie. Sein Haar war tiefschwarz geworden, fast so dunkel wie seine Augen.
«Clera!», jemand stiess sie gegen die Schulter.
«Hast du schon mal von dem Ding gehört, das Salz heisst?» Peider sah sie mit vorwurfsvollem Blick an und deutete auf seinen Teller. Stille. Alle schienen auf ihre Antwort zu warten.
«Du hast mich schon oft genug daran erinnert, ich weiss, was Salz ist», knurrte sie, «aber wenn es dir nicht passt, koch in Zukunft selbst.» Wieder diese unangenehme Stille. Clera duckte sich kaum merklich, als erwarte sie eine Bestrafung, doch nichts rührte sich. Entweder war ihre Mutter zu müde oder sie stimmte Clera zu. Wortlos stand Peider auf und holte das Salz.
Dann ging das Gespräch weiter, als wäre nichts gewesen. Wenn Clera einen ihrer Brüder nicht leiden konnte, war es der 14-jährige Peider. Er suchte nur zu gern Streit und beschwerte sich über alles.
«Clera», hörte sie nun ihren Vater, aus dessen Tonfall nicht herauszuhören war, ob er sie tadeln wollte oder nur ein anderes Thema anschnitt, «wir werden morgen zu den höchstgelegenen Wiesen hinaufsteigen und bis spätabends weg sein.» Er legte seinen Löffel in den leeren Teller.
«Könntest du uns ein Mittagessen vorbereiten und einpacken?»
«Natürlich», murmelte sie tonlos. Ihr Blick wanderte zu Michel, der ihr aufmunternd zulächelte. Wie oft hatte sie sich eine Schwester gewünscht, die mit ihr die Hausarbeit erledigt hätte. Mit ihrer Mutter hatte sie sich als Kind gut verstanden, doch in den letzten Jahren hatte sie den Eindruck, dass sie immer öfter aneinandergerieten. Grossmutter Chatrina hatte Barla oft dafür getadelt, dass sie ihrer Tochter so wenig Beachtung schenkte.
«Und könntest du mal zur Post gehen?» Diese Frage kam von Mattiu. «Ich warte auf einen Brief und ...»
«Ich war heute dort», unterbrach sie ihn. «Es war nichts da.» Mattiu wandte sich ohne ein weiteres Wort wieder seinem Teller zu. Clera fragte sich, worum es sich in dem Brief handeln mochte, doch ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.
«Wir brechen morgen um sechs Uhr auf», verkündete ihr Vater, als ihre Brüder begannen, die Teller zusammenzustellen.
«Wer ist morgen früh dran mit Stalldienst?»
«Clau und ich!», rief Peider und stupste seinen älteren Bruder an.
«Bengiamin und Mattiu, könntet ihr noch kurz hinübergehen und nach den Schweinen sehen?», rief ihre Mutter über den Lärm hinweg.
Die Zwillinge nickten und verschwanden aus der Küche.
Clera trug das Geschirr hinüber zur Anrichte und schüttete heisses Wasser aus dem Topf ins Abwaschbecken. Als sie sich umdrehte, stiess sie beinahe mit Michel zusammen, der ihr noch immer zulächelte und die restlichen Teller neben die anderen stellte. Sanft strich Clera ihm über sein kurzes blondes Haar. Er stellte sich immer auf ihre Seite, für ihn war sie in jeder Situation eine Heldin. Er hatte sie nie am Tisch beschimpft, weil die Suppe für seinen Geschmack zu wenig Salz enthielt.
«Danke, Clera», hörte sie Michel sagen, «das Essen hat gut geschmeckt.»
Sie lächelte gerührt. Obwohl Michel schon fast zehn Jahre alt war, war er noch immer ein kleiner Junge, dachte sie und wünschte sich insgeheim, das möge immer so bleiben.