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Mitholz, Mai 1803

Das Mondlicht zeichnete gespenstische Schatten auf den Boden, als Katharina Wandfluh aus dem Haus trat. Leise schloss sie die Tür des alten Bauernhauses und lauschte in die Dunkelheit. Kein Laut war zu hören, Mitholz schien tief und fest zu schlafen. Den Weg kannte sie inzwischen auswendig und hätte ihn auch im Stockfinsteren gefunden. Heute hatte sie Glück, dass es nicht ganz so dunkel war. Sie mied die Strasse und eilte über die Wiesen auf den Wald zu. In keinem der Häuser, deren Umrisse langsam im Dunkeln verschwanden, sah sie Licht brennen.

Als sie den Waldrand erreichte, wurde sie langsamer. Früher hätte sie sich nie nachts in den Wald getraut, nur der Gedanke daran, was sie erwartete, nahm ihr die Angst und trieb sie voran. Sie hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal ihrer Schwester Maria, mit der sie sonst jedes Geheimnis teilte.

Aber dieses Geheimnis, das sie nun seit einigen Wochen hütete, gehörte nur ihr. Bisher hatte sie sich keine Gedanken gemacht, wie das weitergehen sollte. Irgendwann würde es ans Licht kommen, aber dann würden sich alle mit ihr freuen.

Weit vor sich sah sie einen Lichtschein zwischen den Bäumen. Er war schon da.

«Liebste, da bist du ja», hörte sie den jungen Mann sagen, der neben der Laterne auf dem Felsen sass und ihr nun entgegenging.

«Grüss dich, Vitus», sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus.

«Hat dich niemand gesehen?», fragte er und legte beide Arme um sie.

«Nein», flüsterte sie. «Ich habe das Haus ohne Laterne verlassen und nirgendwo Licht gesehen.»

Zufrieden nickte er. Er trug das Béret, das er immer aufhatte, und unter dem kurze, hellbraune Haare hervorlugten. Katharina war ihm noch nicht oft bei Tag begegnet, trotzdem kannte sie jedes Detail an ihm. Vorsichtig küsste er sie auf die Wange wie ein scheuer Schuljunge, obwohl sie wusste, dass er alles andere als scheu war. Ihm war durchaus bewusst, dass viele junge Mädchen sich nach ihm umdrehten, wenn sie ihm im Dorf begegneten, und Katharina schätzte sich glücklich, dass er sich gerade in sie verliebt hatte. Da seine Familie aber einer Verbindung mit ihr, der Tochter eines einfachen Korbmachers aus Mitholz, niemals zugestimmt hätte, mussten sie sich heimlich treffen. Zumindest vorerst, hoffte sie.

Sie sah ihm tief in die Augen und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. Er strich ihr sanft über das Gesicht und deutete dann auf die Decke, die er auf dem Felsen ausgebreitet hatte, wie er es jedes Mal tat, wenn sie sich hier am See trafen. Sie setzte sich hin und wartete, bis er neben ihr Platz genommen und den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Oft sassen sie stundenlang eng umschlungen da und sprachen kein Wort, doch für Katharina war es genug, einfach nur in seiner Nähe zu sein. Sie liebte es, wenn er ihr mit den Fingern durch die langen, dunklen Haare strich.

Manchmal erzählte er ihr von den Reisen, die er gemacht hatte. Sie selbst hatte das Kandertal noch kaum einmal verlassen, er aber war schon in der ganzen Schweiz herumgekommen. Seinem Vater gehörte ein grosses Gut in der Nähe des kleinen Sees. Alle im Tal kannten Adalbert Balthasar, der weitherum grosses Ansehen genoss, da er sich an jeder nur erdenklichen Stelle engagierte, sowohl im Gemeinderat als auch in jedem Rat grösserer Unternehmen. Ebenso kannten alle seinen einzigen Sohn Vitus, der das Anwesen einmal erben würde. Er arbeitete für seinen Vater, der ihm die Aufsicht über den Kiesabbau übertragen hatte.

Katharina verstand nichts davon, dennoch gefiel ihr der Gedanke, dass ihr Liebster eine geachtete Person im ganzen Tal war. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und liess den Blick über den stillen See schweifen, in dem sich der Mond spiegelte. Sie hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft sie sich bereits hier getroffen hatten. Seit sie ihn kennengelernt hatte, waren erst wenige Wochen vergangen. Sie war auf dem Heimweg vom Dorfladen gewesen und beinahe mit ihm zusammengestossen, als er in grosser Eile um die Ecke bog. Beim Zusammenstoss war ihr Korb zu Boden gefallen. Glücklicherweise war nichts beschädigt worden, doch er hatte darauf bestanden, die Waren genau zu überprüfen und sie nach Hause zu begleiten. Überaus hilfsbereit hatte er ihren Korb getragen. In den darauffolgenden Tagen war ihr aufgefallen, dass er jeweils morgens auf dem Weg zur Arbeit und abends auf dem Heimweg an ihrem Elternhaus vorbeiging, was er davor nie getan hatte. Eines Abends hatte sie draussen auf ihn gewartet. Sie hatten ein paar Worte gewechselt, dann war er weitergegangen. Am nächsten Morgen hatte sie darauf geachtet, eine Arbeit vor dem Haus zu erledigen, um ihm nochmals zufällig begegnen zu können. Wieder war er zur gleichen Zeit wie immer vorbeigekommen, hatte sie höflich gegrüsst und ihr heimlich einen Umschlag zugesteckt.

Ich muss immerfort an dich denken. Kennst du den kleinen See im Wald? Komm heute um Mitternacht dorthin, ich werde eine Laterne anzünden, damit du den Weg findest. Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen. Vitus

Im ersten Moment hatte sie den Brief verbrennen wollen. Niemals hätte sie es gewagt, nachts das Haus zu verlassen, doch mit jeder Stunde, die verging, gefiel ihr der Gedanke, den gutaussehenden jungen Mann wiederzusehen, besser.

Gegen Abend war sie allerdings nervös geworden, hatte kaum etwas gegessen und sich unruhig im Bett hin und her gewälzt. Als sie in der Ferne die Kirchturmuhr Viertel nach elf schlagen gehört hatte, war sie aufgestanden, hatte sich vergewissert, dass ihre Schwester schlief, und das Haus verlassen. Die Anspannung war erst von ihr abgefallen, als sie das Licht im Wald erblickt hatte. Vitus hatte auf einem Stein gesessen und in die Dunkelheit gestarrt, doch als sie aus dem Dunkel in den Lichtschein der Laterne getreten war, war er sogleich aufgesprungen und hatte ihr wortreich gesagt, wie sehr er sich freue, sie zu sehen.

«Nachdem ich in deine Augen geschaut hatte, konnte ich das Bild nicht mehr aus meinem Kopf verdrängen», hatte er erzählt und ihre Hände in die seinen genommen. «Ich frage mich, warum du mir nicht schon früher aufgefallen bist.»

Seither hatten sie sich alle paar Tage getroffen. Meist schlief Katharina in diesen Nächten höchstens zwei Stunden, doch das war es ihr wert. Sie musste nur darauf achten, dass ihr Schlafmangel niemandem auffiel. Gleichzeitig war sie so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Sie seufzte und schmiegte sich enger an ihn.

«Frierst du?», fragte er und legte ihr seinen Mantel über die Schultern. Es war eine laue Sommernacht, und Katharina wusste, dass er den Mantel nicht für sich mitgenommen hatte.

«Nein», antwortete sie und hob den Kopf, um ihm in die Augen sehen zu können. «Ich habe nur gerade an den Tag zurückgedacht, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.»

Er erwiderte ihr Lächeln und gab ihr einen sanften Kuss auf den Mund. «Das war der beste Tag meines Lebens», flüsterte er. «Ich wüsste nicht mehr, was ich ohne dich machen sollte.»

Sie suchte nach Worten, um ihm zu sagen, dass sie ebenso empfand, verhaspelte sich jedoch schon in Gedanken so sehr, dass sie schwieg.

«Ich würde dich aber gern öfter sehen», sagte sie nach einer Weile. «Nicht nur nachts ...»

Er nickte. «Ich weiss. Irgendwann werden wir uns nicht mehr verstecken, ich verspreche es dir. Aber vorerst ...» Er streichelte ihr Haar. «Komm morgen Nacht wieder her, ich warte um Mitternacht auf dich.»

«In Ordnung», sagte sie, ohne aufzusehen, und suchte mit den Augen den Osthimmel ab, ob schon das erste Licht des anbrechenden Morgens zu sehen war. Normalerweise sagte er diese Worte, wenn sie aufbrechen musste. Im Mai und Juni wurde es so früh hell, dass ihr die Nacht viel zu kurz erschien.

Er begleitete sie bis zum Waldrand, wo er sie noch einmal in die Arme nahm und sie fest an sich drückte. «Wir sehen uns morgen», flüsterte er ihr ins Ohr. «Pass auf dich auf.»