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Mitholz, Juni 1920

Clera roch schwach den Rauch, als die Kerze erlosch. Die Worte ihrer Grossmutter hatten sie derart gefesselt, dass sie alles um sich herum vergessen hatte. Gähnend klappte sie das Buch zu. Die Schrift war so klein und bei Kerzenlicht entsprechend schwer zu lesen, dass die ersten paar Seiten sie bereits ermüdet hatten.

Am folgenden Tag bat ihr Vater sie, ein Rind zu Vrenas Eltern zu bringen. Es kam öfter vor, dass ihr Nachbar Albert und ihr Vater Tiere austauschten. Zudem besass Albert einen Stier. Für Chasper Catschader war das die günstigste Lösung, seine Kühe decken zu lassen. Der Weg dorthin nahm einige Zeit in Anspruch, sodass Clera auf ihren Waldspaziergang verzichten musste. Immerhin hatte sie von Vrenas Mutter erfahren, dass ihre Freundin bald Mutter würde, und sich vorgenommen, ihr bald wieder einmal einen Brief zu schreiben.

Mehrere Tage vergingen, in denen Clera weder die Zeit zum Schreiben noch zum Spazieren fand. Gleichzeitig wuchs ihre Sorge um das Pferd.

Am nächsten Tag wollte sie unbedingt nach ihm sehen. Clera erledigte ihre Arbeit so schnell sie konnte und machte sich auf den Weg zum See. Sie war neugierig, ob das Pferd noch da war. Vorsorglich nahm sie einen Korb mit, um unterwegs Kräuter oder Beeren zu suchen. Kürzlich war ihr eingefallen, dass sie diesen Sommer noch keine Konfitüre eingekocht hatte. Konfitüre war die einzige Süssigkeit, die sie sich leisten konnten, da Beeren im Wald im Überfluss vorhanden waren. Besonders Michel liebte ihre Konfitüre, und ihm zuliebe hätte sie sogar nachts Beeren gesucht.

Das dichte Blätterdach liess nur einzelne Sonnenstrahlen durch, die ein geflecktes Muster auf den Boden warfen. Clera schloss die Augen, atmete tief durch und lauschte auf die Geräusche, allerdings nicht nur der Vögel wegen, sondern auch, um bei Hufschlägen oder dem Knarren von Rädern sofort im Unterholz verschwinden zu können. Die Drohung des unfreundlichen Reiters hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben, und sie war gar nicht erpicht darauf, ihm nochmals zu begegnen. Fast geräuschlos huschte sie durch das unwegsame Gelände.

Weit und breit war kein Hufgetrappel zu hören, als sie den Felsen erreichte, von dem aus sie auf den See hinausblicken konnte. Es war früher Nachmittag, und am See war alles still. Neben dem grossen Felsen setzte sie sich auf einen Stein und zog die Schuhe aus, um ihre Füsse nach dem langen Marsch ins kühle Wasser zu halten. Es war kälter, als sie erwartet hatte, nicht wärmer als der Bergbach hinter ihrem Hof, aber dennoch empfand sie das Bad als wohltuend. Immer wieder sah sie sich nach dem Pferd um.

Plötzlich erstarrte sie. Hatte sie soeben einen Hund bellen gehört? Angestrengt lauschte sie, doch das Geräusch war verstummt. Vorsichtig erhob sie sich und stieg auf den Felsen neben ihr. Tatsächlich, ein Stück entfernt am Ufer stand ein schwarzer Welpe auf einem Felsen und bellte einen kleinen Jungen an. Clera schätzte ihn sechsjährig ein, und da bei einem spielenden Kind eine Mutter in der Nähe sein musste, zog sie sich langsam wieder hinter ihren Felsen zurück. Der Hund sah aus wie Floc als Welpe, schwarz mit etwas Weiss und Rot im Gesicht. Ein normaler Berner Sennenhund, aber trotzdem fand Clera jeden Hund einzigartig, auch wenn sie noch so ähnlich aussahen. Aufgeregt sprang der Welpe um den Jungen herum und schnappte nach dem Stöckchen, das dieser in der Hand hielt. Der Junge lachte vergnügt und versuchte, dem Hund das Stück Holz, in das er sich verbissen hatte, zu entreissen. Zu spät bemerkte er, dass er sich der Kante des Felsens näherte. Clera sah gerade noch, wie er ausrutschte und ins kristallklare Wasser stürzte. Prustend kam er wieder an die Oberfläche und wedelte panisch mit den Armen. Neben ihm tauchte der Hund auf, das Stöckchen immer noch zwischen den Zähnen. Mit dem unkontrollierten Paddeln näherte sich der Junge zwar dem Ufer, aber der Felsen, von dem er gestürzt war, fiel zum Wasser hin so steil ab, dass er daran keinen Halt finden konnte. Ohne weiter nachzudenken, warf Clera ihren Umhang auf den Korb und eilte auf die Stelle zwischen den Felsen zu, wo feine Wellen ans flache Ufer rollten. Die Kälte an ihren Füssen beachtete sie nicht, als sie ins Wasser sprang und auf den schreienden Jungen zuschwamm. Sie war schon lange nicht mehr geschwommen, und dass sie es überhaupt konnte, verdankte sie nur der Tatsache, dass sie als Kinder oft im kleinen Bergsee neben ihrer Alphütte geschwommen waren. Nach einigen kräftigen Zügen erreichte sie den immer noch panisch paddelnden Jungen, der sie erst jetzt bemerkte. Das Wasser erwies sich als tiefer, als es ausgesehen hatte. Vom Ufer aus konnte Clera bis auf den Grund des Sees sehen, aber jetzt fanden ihre Füsse keinen Halt. Dennoch packte sie den Jungen entschlossen an den Handgelenken.

«Hör auf!», rief sie ihm zu, als er ihr noch immer Wasser ins Gesicht spritzte. «Ich helfe dir, aber dazu musst du stillhalten!» Das letzte Wort zog sie bewusst in die Länge. Langsam beruhigte sich der Junge zu Cleras Überraschung.

«Komm!», sagte sie, griff ihm mit einer Hand unter den Arm und ruderte mit der anderen, bis sie die flache Stelle am Ufer erreichten. Ihr Rock erwies sich als äusserst hinderlich, da der ohnehin schon schwere Stoff unglaublich viel Wasser aufsaugen konnte. Vorsichtig trug sie den Jungen aus dem Wasser und setzte ihn neben dem Felsen, von dem er gefallen war, auf den Boden. Glücklicherweise hatte die Sonne die Steine ein wenig erwärmt.

«Warte hier», ermahnte sie ihn, eilte zurück zu ihrem Korb und kam mit ihrem Umhang zurück.

«Hier, du frierst sicher.» Ihre Zähne klapperten, als sie ihm behutsam den Stoff um die Schultern legte.

Bisher hatte er kein Wort gesagt, doch plötzlich blickte er sie an. «Nika ...»

Clera runzelte die Stirn und beugte sich zu ihm hinunter. «Was hast du gesagt?»

«Nika!», wiederholte er. «Wo ist meine Nika?»

«Nika ...», murmelte Clera und versuchte zu erraten, was er meinte. Das Plätschern hinter ihr war es, das sie schliesslich daran erinnerte. «Meine Güte, der Hund!», rief sie und rannte zurück zu der Stelle, an der sie den Jungen aus dem Wasser getragen hatte.

«Nika!», rief der Junge nochmals und streckte den Kopf, um bis zum Wasser sehen zu können.

Abermals schwamm Clera zum Fuss des Felsens, an dem der kleine Hund vergeblich versuchte, Halt zu finden und aus dem Wasser zu klettern. Inzwischen hatte er sein Stöckchen losgelassen.

Clera packte ihn am Nacken und zog ihn mit sich zu der flacheren Stelle. Als sie Steine unter ihren Füssen spürte, wurde sie langsamer, nahm den Hund auf den Arm und näherte sich Schritt für Schritt dem Ufer. Der Welpe hielt ebenfalls still. Mit treuherzigem Blick sah er sie an und leckte ihre Hand. Clera musste unwillkürlich lächeln. Er sah wirklich aus wie ihr Floc. Sie streichelte seinen Kopf und kletterte vorsichtig an Land, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung.

«Martin!», hörte sie eine ihr wohlbekannte Stimme. «Da bist du ja, wo hast du denn gesteckt? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Einfach wegzulaufen ...»

Sein Blick fiel auf Clera, die noch immer mit einem Fuss im Wasser stand. Ihr Zopf hatte sich gelöst, ihre Kleider trieften und ihre langen Haare hatten sich in den Knöpfen ihres Rocks verfangen oder klebten ihr im Gesicht. Langsam stieg sie ganz aus dem Wasser, ohne dabei den unfreundlichen jungen Mann, dem sie seit einiger Zeit aus dem Weg zu gehen versuchte, aus den Augen zu lassen.

Seine Miene wurde von Sekunde zu Sekunde finsterer. «Du schon wieder?», wetterte er, als hätte er sie gestern erst weggeschickt. «Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich hier nie wieder blicken lassen!» Sein Blick fiel auf den tropfnassen Welpen auf ihrem Arm. «Und lass sofort den Hund los!»

Wortlos stellte sie ihn auf den Boden. Der Hund schüttelte sich kurz und rannte dann auf den kleinen Jungen zu, der ihn freudig in die Arme schloss.

«Nika!»

«Versuch jetzt bloss nicht wegzulaufen!», brüllte der Mann weiter, eilte auf Clera zu und packte sie grob am Arm, obwohl sie keine Anstalten gemacht hatte, sich zu entfernen. Dann drehte er sich wieder zu dem Jungen um, den er Martin genannt hatte. «Geh und ruf Papa!», wies er ihn an.

Clera brachte noch immer kein Wort über die Lippen.

«Tu der Frau nicht weh, Konstantin!», sagte der Junge, noch immer auf dem Stein sitzend. «Sie kann gut schwimmen. Ich bin ins Wasser gefallen und sie hat mich wieder rausgezogen!»

Der Kleine strahlte sie an, wodurch ihr sogleich etwas wärmer ums Herz wurde.

Konstantin drehte sich wieder zu ihr um und starrte sie einen Moment verwirrt an. Seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er dachte, seine blauen Augen wirkten so kalt wie der See. Die Sekunden schleppten sich dahin und die Kälte kroch Clera in die Glieder. Sie unterdrückte ihre Angst, brachte aber noch immer kein Wort heraus. Was auch immer sie gesagt hätte, hätte er ihr ohnehin nicht geglaubt. Wahrscheinlich würde er ihr nicht einmal zuhören. Langsam lockerte sich der Griff um ihren Arm.

«Ist das wahr?», fragte er mit leiser Stimme. Seine Miene veränderte sich langsam.

Clera nickte. Die Kälte in seinen Augen wich einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte, als er ihren Arm losliess und den Blick senkte.

«Tut mir leid.»

Erleichtert rieb Clera sich den Oberarm. Sie wollte nur noch weg. «Mir auch», erwiderte sie leise. «Ich dürfte nicht hier sein.» Den Blick auf den Boden geheftet drehte sie sich um.

«Warte!», er legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zurückzuhalten, liess sie aber sofort wieder los, als sie zusammenzuckte. «Martin ist ins Wasser gefallen ... und du bist ihm nachgesprungen, um ihn zu retten?»

Clera wandte sich wieder um und schaute ihm direkt in die Augen. «Er hat hier auf dem Felsen mit dem Hund gespielt, ist ausgerutscht und zusammen mit dem Welpen ins Wasser gefallen.» Sie fragte sich, ob er wohl der Vater des Jungen war, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Dafür sah er zu jung aus, und schliesslich hatte er ihm vorhin zugerufen, er solle Papa holen.

«Sie ist ohne Zögern ins kalte Wasser gesprungen und kann unglaublich schnell schwimmen», plapperte der Kleine los, der immer noch in ihren Umhang gehüllt auf dem Felsen sass und den Hund streichelte. «Sie hat Nika und mich gerettet, sie ist eine Heldin, Konstantin!»

Clera fragte sich, woher er dieses Wort wohl kannte.

Ein kühler Wind kam auf und kräuselte die Wasseroberfläche. Clera fröstelte.

«Ich muss mich bei dir bedanken.»

Wortlos sah sie ihn an. Die Kälte in seinen Augen war verschwunden.

«Er ... hätte es allein nie geschafft, er kann nicht schwimmen.» Konstantin suchte nach Worten. «Aber ich hatte dir gesagt, du sollst dich hier nie wieder blicken lassen, und du hast in Kauf genommen, erwischt zu werden, um ihn zu retten.» Wieder eine Pause. «Tut mir leid, dass ich so grob war. Es stört ja wirklich niemanden, wenn du gelegentlich durch den Wald spazierst.» Sein Blick wanderte über ihren Oberarm.

Clera glaubte in seinem Gesicht den Anflug eines Lächelns zu sehen, trotzdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte.

«Weisst du», fuhr er fort, «du hast mich soeben vor sehr grossem Ärger bewahrt.»

«Wie das?»

«Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich meinen kleinen Bruder in den Wald mitnehme. Ich kontrolliere den Zaun da hinten.» Er machte eine vage Handbewegung in den Wald hinter sich.

«Martin hat die ganze Zeit geplappert, und irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und ihn zum See geschickt. Er hat schon oft auf diesem Felsen gespielt, bisher ist das immer gut gegangen. Meine Eltern hätten mir die Hölle heiss gemacht, wenn ihm etwas passiert wäre ...»

Cleras Blick wanderte zu dem Jungen, der sich wieder Nika zugewandt hatte.

«Er ist ihr Ein und Alles, sie hüten ihn wie ihren Augapfel.» Einen Moment schwieg er. «Meine Mutter hat viele Kinder verloren, deshalb auch der Altersunterschied zwischen Martin und mir.»

Clera nickte verständnisvoll.

«Frierst du?», hörte sie Konstantin fragen und spürte seine Hand auf dem Oberarm.

«Es ... geht mir gut», brachte sie heraus.

«Komm mit.» Sein Blick fiel auf ihren Korb. «Ist das deiner?»

Clera nickte, woraufhin er ihn aufhob und ihr bedeutete, ihm zu folgen. «Du musst dich aufwärmen.»

Sie holte Luft, um das Angebot abzulehnen, wurde aber von Martin unterbrochen.

«Kommt sie mit uns?», rief er und sprang auf, als die beiden auf ihn zukamen. «Wir gehen heim», erwiderte Konstantin, ohne auf die Frage zu achten, dann drehte er sich erneut zu Clera um. «Du musst mir deinen Namen noch einmal nennen», sagte er entschuldigend.

Clera erkannte seine Stimme nicht wieder. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass der schuldbewusste Junge, der sie nach ihrem Namen fragte, derselbe war, der sie einige Zeit davor aus dem Wald gejagt hatte. «Clera», antwortete sie.

«Ach, richtig, ich erinnere mich wieder.» Er lächelte ihr aufmunternd zu. «Ich bin Konstantin!»

«Balthasar», ergänzte Clera und brachte ein schwaches Lächeln zustande.

«Genau. Ich sehe, dein Namensgedächtnis ist besser als meins.»

Martin griff nach ihrer Hand, während er mit der anderen ihren Umhang festhielt, den er immer noch über die Schulter trug, doch Clera zögerte noch immer.

«Unsere Köchin wird dir etwas Warmes kochen», meinte Konstantin, als er es bemerkte.

Die Aussicht auf eine warme Suppe oder einen Tee erschien Clera sehr verlockend, sodass sie schliesslich doch in ihre Schuhe schlüpfte, die sie in ihrer Eile abgestreift hatte, und ihm folgte. Er ging ihr voran, bis das verlassene Hotel vor ihnen auftauchte. Martin hielt noch immer ihre Hand und liess den kleinen Hund, der neben ihm herrannte, nicht aus den Augen. Von dem halbzerfallenen Gebäude führte ein Weg nach Norden ins offene Gelände des Tals.

Konstantin sagte nicht viel, erkundigte sich aber immer wieder höflich, ob sie noch friere oder ob er zu schnell gehe.

Je mehr sie sich dem grossen Haus näherten, das Konstantin ansteuerte, umso mulmiger wurde Clera zumute. Sie ging nur sehr selten zu anderen Leuten zu Besuch, etwa zu Vrenas Eltern oder alle paar Jahre einmal zu Verwandten. Ihr letzter Besuch bei einem Onkel und seiner Familie in Frutigen lag nun aber auch schon viele Jahre zurück. Clera wusste nicht, wie sie sich im Haus von Familie Balthasar verhalten sollte. Alles, was sie über diese Familie wusste, war das, was sie gehört, und das wenige, das Konstantin ihr eben erzählt hatte.

Aus der Nähe wirkte das Wohnhaus noch grösser, als sie es sich vorgestellt hatte. Clera blieb einen Moment stehen und betrachtete die Laube mit dem geschnitzten Geländer, die bunten Blumen vor den Fenstern und das tiefhängende Dach. Dagegen war ihr eigener Hof eine armselige Hütte. In dem eingezäunten Garten vor dem Haus blühten neben einigen Pflanzen, die sie nicht kannte, Rosen in verschiedenen Farben, die mit den Geranien vor den Fenstern um die Wette leuchteten.

Als Konstantin bemerkte, dass sie stehen geblieben war, wartete er geduldig und liess den Blick ebenfalls über die helle Fassade des Hauses schweifen. Martin liess indessen Cleras Hand los, hob einen Ball auf und warf ihn für Nika in die Wiese vor dem Haus.

«Schön, nicht wahr?», fragte Konstantin schliesslich in die Stille hinein.

«Wundervoll», hauchte Clera.

Er lachte. «Wo liegt dein Zuhause? Lebst du in der Gegend?»

Clera schämte sich beinahe, nickte jedoch. «Ich lebe auf einem Hof hoch über dem Tal.» Sie deutete nach Osten. «Man kann ihn von hier aus nicht sehen, er liegt hinter dem Wald.

Konstantin blickte hinauf an den Berghang und nickte. «Sicher habt ihr eine wunderbare Aussicht auf das Tal und abends länger Sonnenschein als wir hier unten.»

Das hatte Clera sich nie überlegt. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als ihr Blick den von Konstantin traf.

«Wir sind uns vor jenem ... unglücklichen Treffen im Wald nie begegnet, nicht wahr?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nicht, dass ich wüsste. Bist du oft hier unterwegs?»

«Seit ich zurück bin, ja. Ich habe in der Stadt studiert, bin seit diesem Frühling aber wieder hier.»

Clera wagte nicht zu fragen, was er studiert hatte, sie konnte sich unter den akademischen Bezeichnungen ohnehin nichts vorstellen.

«Komm, lass uns hineingehen.» Er führte sie am Haupteingang vorbei und öffnete die unscheinbare Tür, die auf der anderen Seite des Hauses direkt in den Gemüsegarten führte. Martin huschte hinein, und Konstantin bedeutete Clera, ebenfalls einzutreten. Sie stolperte dabei fast über Nika, die dem kleinen Jungen auf dem Fusse folgte. Leise schloss Konstantin die Tür hinter ihr und führte sie durch eine makellos saubere Küche.

«Hanna!», hörte sie Konstantin rufen, als sie die nächste Tür erreichten. «Komm doch bitte mal her.»

Vorsichtig stellte er Cleras Korb ab und winkte ihr, sie solle ihm folgen. «Unsere Köchin wird dir ein Handtuch geben, damit du dich abtrocknen kannst», sagte er, als sie die geräumige, helle Stube betraten.

«Danke», erwiderte Clera leise. «Das ist sehr freundlich.»

Er deutete auf die Ofenbank und verliess die Stube wieder, um nach der Köchin zu schauen.

Clera stellte sich neben den grossen Kachelofen. Ihre eigene Stube wirkte im Gegensatz zu dieser wie eine dunkle Abstellkammer. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Fensterreihe auf der Frontseite des Hauses. Vorsichtig legte sie eine Hand auf die kalten Kacheln. Im Sommer wurde wohl auch hier nicht eingeheizt. Vor der Tür hörte sie Konstantin mit jemandem reden, und im nächsten Moment betrat eine ältere Frau die Stube.

«Meine Liebe», sagte sie und eilte auf Clera zu. «Du hast dem kleinen Martin das Leben gerettet.» Die rundliche Frau ergriff ihre Hände. Sie trug eine mit Flecken übersäte Schürze, ihr grau-blondes Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen.

Clera konnte nicht anders als ihr liebevolles Lächeln zu erwidern. «Ich war zur richtigen Zeit da», sagte sie und nahm das Handtuch, das die Köchin ihr reichte, dankend entgegen.

«Trockne dich erst einmal ab und wärm dich auf», meinte Hanna. «Das ist ja wohl das Mindeste, was wir für dich tun können.» Sie deutete auf die grauen Sessel neben dem Ofen.

«Ich muss kurz zurück in die Küche. Kann ich dir etwas bringen, einen Tee oder Suppe?»

Clera zögerte einen Moment, während sie sich die Haare abtrocknete. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand für sie kochte.

«Ich kann dir auch eine heisse Schokolade machen, wenn du magst.»

Cleras Augen begannen zu leuchten. Sie hatte erst einmal in ihrem Leben Schokolade gekostet. «Liebend gern, vielen Dank.»

Hanna lächelte ihr zu und verliess den Raum. Als die Köchin verschwunden war und sie allein in der Stube stand, atmete sie erst einmal tief durch. Das Haus konnte durchaus heimelig und gemütlich sein, aber ihr flösste es Unbehagen ein. Ihr Blick blieb an den kunstvollen Verzierungen hängen. In einer Ecke stand ein hölzerner Tisch mit Eckbank. Das Holz wirkte viel neuer als das der Möbel, die Clera kannte. Als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, drehte sie den Kopf in die Richtung, sodass ihr die nassen Strähnen ins Gesicht fielen. In der Tür stand ein kleiner Hund, der sie mit seinen dunklen Augen musterte. Er war etwa gleich gross und gleich gefärbt wie Nika, doch sein Gesichtsausdruck wich ein wenig von Nikas ab. Einen Moment lang legte er den Kopf schief und sah sie an, dann rannte er auf die tapsige Art und Weise los, wie kleine Hunde rennen, wenn sie spielen. Der Welpe rannte quer durch die Stube zur anderen Tür. Clera sah ihm nach, als er auf dem glatten Boden ausrutschte und wild mit den Beinchen zappelte, um den Halt nicht zu verlieren, und lachte, als der Kleine auf der Nase landete. Er stand sofort wieder auf, schüttelte sich kurz und rannte weiter.

«Hier, bitte sehr», sagte Hanna, die in diesem Augenblick den Raum betrat, und stellte eine Tasse auf den Tisch in der Ecke.

«Danke», sagte Konstantin, der hinter ihr eingetreten war, anstelle von Clera. «Das ist sehr freundlich.»

«Ich bitte Euch, Konstantin, das tue ich gern.» Sie lächelte Clera an und ging zurück zur Tür, wo sie stehen blieb.

Clera war es recht, dass sie in der Nähe blieb. Sie erwiderte ihr Lächeln und griff nach der Tasse.

«Setz dich», sagte Konstantin, als er ihr Zögern bemerkte, und deutete auf die Sessel neben dem Ofen.

Sie nickte und setzte sich auf das bestickte Polster. Konstantin nahm ihr gegenüber Platz. Sie war froh um die Tasse, da sie sonst nicht gewusst hätte, was sie mit ihren Händen tun sollte. Vorsichtig nippte sie an der heissen Schokolade und suchte nach Worten, nur um irgendetwas zu sagen.

«Gehst du oft zum See?», fragte er just in dem Moment, als ihr die Stille langsam unangenehm wurde.

Sie starrte in die Tasse. «Ich ... nein, ich ... darf ja nicht.» Obwohl sie ihn nicht ansah, wusste sie, dass er lächelte.

«Vergiss, was ich gesagt habe», hörte sie ihn sagen. «Ich hätte dir nicht verbieten sollen, in den Wald zu gehen. Das tut mir leid.»

Sie nickte, hob den Blick aber immer noch nicht. «Ich sollte zu Hause auf dem Hof sein», sagte sie leise, «meine Eltern würden es nicht gerne sehen, dass ich allein zum See gehe. Ich darf nur zum Postamt gehen, manchmal auch zum Einkaufen oder zum Kräutersammeln.» Er nickte, aber Clera war überzeugt, dass er sich ihr Leben nicht vorstellen konnte.

«Martin und ich sind dir sehr dankbar, dass du dich nicht an dieses Verbot gehalten hast.» Seine warmen Worte entlockten ihr ein Lächeln.

«Ist dir wieder warm?», fragte er, als sie nichts erwiderte.

«Ja ...», stammelte sie, «danke.»

«Weisst du, ich kann gut verstehen, warum du gern zu diesem See gehst», begann er, «er ist ein wahres Juwel hier im Tal.»

Wieder kam der kleine Hund in die Stube gerannt. Konstantin sprang auf und packte ihn im Nacken. «Nein, Kleiner», sagte er zu ihm, «das ist nicht der richtige Platz zum Spielen. Du solltest draussen sein, bei den anderen.» Vorsichtig hob er den Hund hoch, der sogleich begann, ihm das Gesicht zu lecken. Als Konstantin sah, dass auch Clera lachte, ging er zu ihr hinüber. Vorsichtig berührte sie das flauschige Fell.

«Das ist Nikas Bruder», erklärte Konstantin. «Er darf nicht ins Haus, aber Martin nimmt es mit dieser Regel manchmal nicht so genau.» Er lachte. «Der Kleine mag dich.»

Sie lachte mit, als der Hund begann, ihre Finger abzulecken. «Ich ihn auch», flüsterte sie. «Wir haben auch einen Hund, Floc ...» In diesem Augenblick hätte sie sich gewünscht, sie könnte den Welpen, dessen Fell sie gerade kraulte, mitnehmen. Er wäre immer bei ihr, wo sie auch hinging. Aber sie wusste, dass ihre Eltern keinen zweiten Hund auf dem Hof dulden würden. Ausserdem wollte sie ihnen nicht erzählen, woher sie ihn hatte. Sie spürte Konstantins Blick auf sich und schaute zu ihm auf. Er hielt noch immer den Hund, blickte ihr aber direkt in die Augen. Im Augenwinkel sah sie, dass Hanna bei der Tür Platz genommen hatte und Socken stopfte.

«Kennst du die Sage vom blauen See?», fragte er plötzlich. Sie schüttelte den Kopf, ohne von dem Hund aufzublicken.

«Unser Lehrer hat einmal etwas erwähnt, aber ich glaube, er hat vorausgesetzt, dass wir Bescheid wissen, und sie daher nicht erzählt», sagte sie leise.

Konstantin setzte den Hund vorsichtig auf ihrem Schoss ab, bevor er zu seinem Sessel zurückging und sich wieder setzte. Der Welpe hatte sich inzwischen beruhigt und lag entspannt auf Cleras Schoss, wobei er immer ihrer Hand nachschaute, die langsam über seinen Rücken wanderte.

«Vor vielen Jahren, sagt man, habe sich ein junges Mädchen in einen Jungen aus dem Tal verliebt», begann Konstantin. «Sie trafen sich oft in mondhellen Nächten am blauen See und verbrachten viele glückliche Stunden an seinem Ufer. Eines Tages jedoch kam der Bursche zu Tode. Das Mädchen war untröstlich. Oft ging es allein zu dem kleinen See, um um seinen Liebsten zu trauern, bis man es irgendwann zusammen mit dem Kahn des jungen Burschen auf dem Grund des Sees fand. Seit diesem Tag habe der See seine tiefblaue Farbe. Es sei das Blau der Augen des unglücklichen jungen Mädchens.»