Als der Hahn am Morgen krähte, fühlte Katharina sich besser als an den Tagen zuvor. Eilig wusch sie sich das Gesicht, flocht ihre langen, dunklen Haare zu einem Zopf und knöpfte ihren Arbeitsrock zu. Es war Samstag, Waschtag also. Waschen war die Arbeit, die Katharina am wenigsten mochte, daher war sie froh, dass Maria ihrer Mutter dabei half. Vor dem Frühstück musste sie allerdings in den Stall, um die Kuh zu melken. Diese Arbeiten gefielen ihr besser als Waschen oder Flicken. Sticken und Stricken mochte sie, gerade an langen Winterabenden sass die Familie oft zusammen in der Stube, dem einzigen wirklich warmen Raum im Haus. Ihre Grossmutter las oft Geschichten vor, während sie und Maria ihrer Handarbeit nachgingen.
Ihre Gedanken wanderten zu Vitus, als sie die Kuh begrüsste und den Eimer holte. Er muss bestimmt nicht morgens vor dem Frühstück melken gehen, dachte sie, dafür hat er sicher einen Knecht.
Wie jeden Samstag machte sie sich am späten Vormittag auf den Weg zum Dorfladen, um für den bevorstehenden Sonntag einzukaufen. In Gedanken ging sie ihre Einkaufsliste durch, während sie sich immer wieder umsah, ob Vitus auch im Dorf unterwegs war.
«Guten Morgen, Katharina», hörte sie die Frau des Bäckers vom Balkon aus rufen. Sie winkte zurück und bemühte sich, nicht nervös zu wirken. Das Dorf war klein, die Leute kannten sich. Besonders beim Einkaufen traf Katharina immer wieder dieselben Frauen aus der Nachbarschaft. Bevor sie eintrat, sah sie sich nochmals um, doch sie konnte Vitus nirgendwo entdecken.
Ungeduldig blickte sie auf die grosse Uhr in der Stube, als sie zurückkam. Es war noch nicht einmal Mittag, zwölf Stunden würde sie noch warten müssen, bis sie sich auf den Weg zum kleinen See machen konnte. Sie seufzte und brachte die Einkäufe in die Küche. Ihre Mutter hatte sie gebeten, das Mittagessen zuzubereiten, da sie und Maria nicht früh genug vom Waschen zurückkamen. Ihre drei Brüder waren mit ihrem Vater mitgegangen und die Grossmutter sass neben dem Ofen und strickte.
«Mein Kind», begrüsste sie Katharina, als diese die Küche betrat.
«Grüss dich, Grossmutter», erwiderte sie und lächelte sie an.
«Du siehst müde aus.»
Katharina biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte wissen müssen, dass ihrer Grossmutter nichts entging. «Ich habe schlecht geschlafen in letzter Zeit», log sie und versuchte, überzeugend zu klingen.
«Geht es dir gut? Soll ich dir einen Tee kochen?» Sie legte ihre Strickarbeit weg und wollte aufstehen.
«Nein, vielen Dank», wehrte Katharina ab. «Ich ... mir geht’s gut, wirklich!» Hastig begann sie, das Gemüse, das sie aus dem Garten geholt hatte, bevor sie zum Einkaufen ins Dorf gegangen war, zu waschen. Während sie das Mittagessen kochte, spürte sie die ganze Zeit über Grossmutters beobachtenden Blick auf dem Rücken.
Das Unbehagen, das sich in ihr breitmachte, verschwand erst wieder, als ihre drei Brüder in die Küche gestürmt kamen und Grossmutter ausführlich und vor allem laut von ihren Erlebnissen in Vaters Werkstatt erzählten. Jeder wollte es zuerst berichten und versuchte, den anderen an Lautstärke zu übertreffen, bis Katharina alle aus der Küche scheuchte.
Als das Essen fertig war, rief sie ihre Brüder zu Tisch und schickte Georg, den ältesten von ihnen, los, um ihren Vater zu holen, der im Schuppen hinter dem Haus irgendeine Arbeit erledigte. In diesem Moment kehrten ihre Mutter und Maria mit der Wäsche zurück.
«Entschuldige, es hat heute lange gedauert.» Ihre Mutter, die den gleichen Namen trug wie sie, stellte den Wäschekorb ab und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
«Wir mussten lange warten, alle anderen wollten zur gleichen Zeit waschen wie wir.» Maria nickte und stellte den kleinen Korb, den sie getragen hatte, neben den grossen.
«Warum waschen wir nicht zu Hause?», fragte Katharina und stellte das Essen, das sie für die beiden beiseite gestellt hatte, in den Ofen.
«Der Wasserverbrauch wäre enorm, das weisst du doch», sagte ihre Mutter müde und liess sich auf einen Stuhl fallen.
Katharina stellte das Essen auf den Tisch.
Am Nachmittag schien die Zeit schneller zu vergehen, obwohl sie bei jeder Gelegenheit einen Blick auf die Wanduhr warf.
Als sie das Abendessen vorbereitete, musste sie ein Gähnen unterdrücken. Ach herrje, dachte sie, wie soll ich nur bis Mitternacht wach bleiben und morgen in der Kirche nicht einschlafen? Sie verscheuchte die Gedanken wieder und machte weiter mit der Arbeit. In Gedanken ging sie noch einmal ihre Aufgaben von diesem Tag durch und stellte fest, dass alles erledigt war. Jetzt musste es nur noch Mitternacht werden.
Katharina fuhr aus dem Schlaf hoch. Die Uhr in der Stube hatte gerade geschlagen, doch sie hatte nicht mitgezählt. Sie musste eingeschlafen sein. Mit wild klopfendem Herzen sprang sie auf und huschte ins Wohnzimmer. Im Licht einer hastig angezündeten Kerze konnte sie das Zifferblatt sehen.
Viertel vor zwölf? Ich müsste längst auf dem Weg zum See sein, schoss es ihr durch den Kopf. Vitus wird wieder nach Hause gehen, wenn ich nicht auftauche!
Sie griff nach ihrem Umhang, den sie an einen Haken bei der Haustür gehängt hatte, und öffnete die alte Tür einen Spalt. Lautlos huschte sie hinaus und rannte los. Der Gedanke an Vitus, der im Wald auf sie wartete, spornte sie an, mit einem Mal fiel alle Müdigkeit von ihr ab. Irgendwo bellte ein Hund, doch Katharina achtete nicht darauf. Die Kirchturmuhr von Kandergrund schlug Mitternacht, als sie den Waldrand erreichte. Völlig ausser Atem rannte sie weiter, bis zwischen den Bäumen das langersehnte Licht von Vitus’ Laterne auftauchte.
Vitus nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. «Ist etwas passiert?», fragte er besorgt und strich ihr mit der einen Hand sanft über den Rücken.
«Nein», erwiderte sie völlig ausser Atem. «Ich bin eingeschlafen und zu spät aufgebrochen.» Sie sah ihm in die Augen. «Und ich fürchtete, du wärst nicht mehr da, wenn ich ankomme.»
«Ach, Liebes», flüsterte er. «Ich hätte noch lange auf dich gewartet, weil ich nicht hätte glauben wollen, dass du nicht kommst. Aber ich hätte mir Sorgen gemacht.» Sie legte den Kopf an seine Brust und schloss die Augen. In den raren Momenten, in denen er sie so festhielt, war die Welt für sie in Ordnung.
«Komm, setz dich», sagte er nach einer Weile. «Du bist ja völlig erschöpft.»
Sie liess sich auf der Decke nieder. Er setzte sich neben sie, stellte die Laterne auf den grossen Stein zu seiner Linken und holte aus einem Beutel, den Katharina noch gar nicht bemerkt hatte, ein kleines Paket hervor.
«Unser Hausmädchen hat Kuchen gebacken», sagte er und hielt ihr das Paket hin.
Katharina hatte schon lange nichts Süsses mehr gegessen und griff erfreut nach einem Stück. «Vielen Dank», sagte sie und biss hinein.
«Früchtekuchen», sagte er zwischen zwei Bissen. «Der beste im ganzen Tal.»
Sie nickte. Ihr selbst wollte Kuchen oft nicht gelingen.
Er bot ihr das letzte Stück an und legte das Paket dann weg.
«Hast du gesehen, wie hell die Sterne heute leuchten?», fragte er und deutete zum Himmel empor.
Katharina wischte sich die letzten Krümel vom Mund und liess ihren Blick über das Firmament schweifen. «Wundervoll», hauchte sie.
Er legte sich auf den Rücken, um die Sterne besser sehen zu können, und schob sich die Hände unter den Kopf.
Sie legte sich neben ihn und wartete, ob eine Sternschnuppe fallen würde. Tatsächlich schoss bald darauf eine über den Nachthimmel. «Unglaublich, wie schnell so eine Sternschnuppe ist ...», flüsterte sie, ohne den Blick vom Himmel zu lösen.
«Sie sind unvorstellbar schnell», hörte sie Vitus sagen. «So schnell, wie du mein Herz erobert hast.» Er drehte sich zu ihr um und stützte den Kopf mit dem Ellbogen ab.
Ein Lächeln huschte über Katharinas Gesicht. So etwas hatte noch nie jemand zu ihr gesagt.
«Fühlst du nicht auch so?»
Sie nickte und schloss die Augen, als er die Hand auf ihren Oberarm legte. Er zog sie näher zu sich heran, sodass sie den Kopf an seine Schulter legen konnte. Wie gerne wäre sie so eingeschlafen, doch in diesem Moment fühlte sie sich so wach wie den ganzen Tag nicht. Er küsste sie sanft und liess seine rechte Hand über ihre Taille gleiten, dann über ihre Hüfte.
Sie zuckte zusammen, als er den Saum ihres Kleides nach oben schob. «Vitus», flüsterte sie kaum hörbar, doch die Gefühle, die in diesem Moment wie eine Welle über sie rollten, brachten ihre Stimme zum Verstummen. Ihre weiteren Worte und alle Bedenken blieben unausgesprochen.
«Ich liebe dich, Katharina», hauchte er ihr ins Ohr. «Bleib bei mir ...»