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Mitholz, Juni 1920

Ausser Atem blieb Clera stehen und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Noch nie war sie den Weg hinunter ins Tal so schnell gegangen. Sie nahm den Korb, in dem sie ein kleines Mittagessen, einen Apfel für das Pferd, den Brief für Vrena und Grossmutters Buch mit sich trug, auf den anderen Arm und hastete weiter. Zwar war sie nicht später mit der Arbeit fertig geworden als sonst, aber sie wollte keine Sekunde verschwenden, die sie am See verbringen konnte.

Inzwischen machte sie sich keine Sorgen mehr wegen Konstantin. Manchmal bereute sie es sogar, dass sie an jenem Tag nicht länger geblieben war. Die kurze Zeit in der geräumigen Stube zusammen mit Hanna, Konstantin und dem Welpen war ihr in guter Erinnerung geblieben. Sie hatte versucht, sich den Geschmack der heissen Schokolade genau einzuprägen. Manchmal fiel es ihr mitten während der Arbeit wieder ein und sie verspürte den Drang, alles stehen und liegen zu lassen und auf dem schnellsten Weg zu Hanna zu laufen.

Ohne die Briefe, die im Postbüro für sie bereitlagen, anzusehen, eilte sie weiter Richtung Wald. Achtlos legte sie sie in den Korb.

Als sie den Waldrand erreichte, wurde sie langsamer, drehte sich kurz um und schaute in Richtung Mitholz. Eines der Häuser an der Strasse musste Katharinas Elternhaus gewesen sein und hier musste sie wohl jeweils über die Wiese zum Wald gelaufen sein.

Gemächlich ging Clera weiter und liess die Stimmung auf sich wirken. Die Geräusche des Waldes waren dieselben wie an jedem anderen Sommertag auch, doch nun betrachtete sie den Wald mit anderen Augen. Sie dachte an die Sage, die Konstantin ihr erzählt hatte. Die Vorstellung, sich auch einmal zu verlieben und den Mann hier am See zu treffen, gefiel ihr. Sie seufzte. Vrena hatte einen Mann geheiratet, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Verliebt hatte sie sich erst nach der Hochzeit. Zumindest hatte sie ihr das in einem Brief anvertraut. Clera ging davon aus, dass es ihr einmal ebenso ergehen würde, obwohl ihre Eltern bisher nie davon gesprochen hatten, dass sie heiraten sollte. Vor wenigen Monaten war sie 21 geworden, lange konnte es also nicht mehr dauern, bis sie sich mit dem Thema befassen würden.

Als das glitzernde Wasser vor ihr auftauchte, machte ihr Herz einen Sprung. Der See sah genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch. Fasziniert betrachtete sie das tiefe Blau, die Augenfarbe des unglücklichen Mädchens aus der Sage. Sie setzte sich auf den Felsen und stellte sich vor, wie Katharina und Vitus vor vielen Jahren hier gesessen hatten. Leise summte sie eine Melodie vor sich hin und holte ihr Mittagessen aus dem Korb, wobei sie darauf achtete, dass die Briefe nicht zerknitterten. Hastig überflog sie die Adressen. Zwei Briefe für ihren Vater, einer für Bengiamin und einer für ihre Eltern. Wer sie geschickt hatte, interessierte sie nicht, doch als sie den Umschlag in der Hand hielt, der an ihre Eltern adressiert war, erkannte sie die Handschrift ihres ältesten Bruders. Er hatte sich schon länger nicht mehr gemeldet, und sie widerstand der Versuchung, den Brief sofort aufzureissen. Etwas enttäuscht, dass kein Brief von Vrena dabei war, legte sie die Umschläge zurück in den Korb und biss in das Stück Brot, das sie mitgenommen hatte.

Das schwarze Pferd tauchte in dem Augenblick auf, als sie Grossmutters Buch aus dem Korb nahm.

«Salü, mein Grosser», flüsterte sie und legte das Buch weg. «Du bist also noch hier.» Sie stand auf und streichelte seine weichen Nüstern. Seine Mähne war noch zerzauster als bei ihrem letzten Treffen und in seinem Fell klebte Schmutz. Der schwarze Hengst schnaubte, als sie ihm den Hals streichelte. Langsam bückte sie sich und nahm den Apfel aus dem Korb, den sie eigens für das Pferd mitgenommen hatte.

«Schau», flüsterte sie und hielt ihm die Frucht vor die Nase. «Sie haben dich nicht erwischt», fuhr sie fort, «sieh zu, dass das so bleibt.» Es erstaunte sie, dass das Pferd noch immer allein durch die Wälder streifen konnte, ohne dass es gefunden wurde. Ausser von ihr.

Wieder dachte sie an Katharina, die genau wie sie jeweils in den Wald gegangen war, um ihren besten Freund zu treffen – mit dem einzigen Unterschied, dass der Freund, den sie damals getroffen hatte, kein Pferd war. Sie lachte leise.

«Ich könnte dich Vitus nennen», flüsterte sie dem Pferd zu, obwohl ihr der Name überhaupt nicht gefiel. «Nein», fügte sie hinzu, «du brauchst keinen Namen. Sicher hast du einen, aber ich kenne ihn nicht.»

Eine Weile stand sie schweigend da und kraulte das Pferd hinter den Ohren, dann strich sie ihm sanft über den Hals und den Rücken. Als ihre Finger seine Kruppe erreichten, machte das Pferd plötzlich einen Schritt nach vorn. Clera zog ihre Hand zurück und sah ihm nach, als es sich ein paar Schritte entfernte. Als sich das Pferd nicht mehr nach ihr umdrehte, griff sie nach ihrem Korb und eilte ihm nach, immer tiefer in den Wald hinein.

Einmal blieb sie stehen, unschlüssig, ob sie nicht doch lieber umkehren sollte. Das Pferd ging immer noch langsam vor ihr her, sodass sie ihm gut folgen konnte. Durch das Blätterdach konnte sie die Sonne sehen, um sich wenigstens ein bisschen orientieren zu können. Erleichtert ging sie weiter. Ohne mit der Wimper zu zucken, schritt das Pferd durch die Kander. Clera war froh, dass der Bach gerade nicht viel Wasser führte. Das Gelände wurde steiler und unwegsamer. Das Pferd hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht und Clera fragte sich, ob es überhaupt wusste, dass sie ihm folgte. Sie bewunderte die moosüberwachsenen Steine, über die sie klettern musste, und staunte über die Farben in diesem scheinbar unberührten Stück Wald.

Als vor ihr grössere Felsen auftauchten, blieb sie einen Moment stehen und fragte sich, wo das Pferd wohl weitergehen wollte. Zu ihrer Überraschung blieb der schwarze Hengst stehen und begann, an den Pflanzen auf dem Waldboden zu knabbern. Clera sah sich um. Unter dem dichten Blätterdach war es düsterer als unten am See, was aber auch an der Tageszeit liegen konnte. Langsam ging sie den Felsen entlang, bis sie auf eine Spalte zwischen zwei Felsblöcken stiess. Der Boden war eben und wenig bewachsen, ausserdem schienen die Felsen den Wind abzuhalten. Ein natürliches Versteck. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Felswand und sah sich um. Die Pflanzen waren weitgehend abgegrast, Äste von jungen Bäumen angeknabbert und überall lag Pferdemist. Langsam ging sie hinüber zu dem schwarzen Pferd, das gerade auf den Zweigen eines jungen Baumes kaute.

«Ist das dein Versteck?», fragte sie leise. Sie strich ihm über die Stirn und sah ihm in die Augen. «Hab keine Angst», flüsterte sie, «ich werde niemandem von dir erzählen, der dich einfangen könnte.»

Das Pferd folgte ihr nicht, als sie eine Weile später den Rückweg antrat. Sie hielt ihren Korb mit beiden Händen fest und folgte den Spuren im Moos und auf dem feuchten Waldboden zurück zum See. Schneller als erwartet erkannte sie vor sich das Glitzern des Wassers zwischen den Bäumen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, denn seit sie den Wald betreten hatte, hatte sie keine Kirchenglocke mehr gehört. Erleichtert atmete sie auf, als sie den schmalen Weg erreichte, der aus dem Wald führte. Sie beschleunigte ihre Schritte und hoffte, dass es noch nicht so spät war, wie ihr Gefühl ihr sagte. Die Sonne stand nicht mehr so hoch am Himmel und das Licht hatte sich bereits merklich verändert.

Als sie um die Ecke bog, blieb sie abrupt stehen. Durch ihr plötzliches Auftauchen hatte sie das Pferd eines Reiters erschreckt, das beinahe panisch den Kopf hochwarf und einige Schritte rückwärtsging.

Wie gelähmt stand Clera da und starrte das Tier an. «Entschuldigt vielmals», sagte sie kaum hörbar, als das Pferd wieder ruhig stand.

«Clera?», hörte sie den Reiter fragen und blickte zu ihm auf. Über Konstantins Gesicht huschte ein Lächeln. Er trug einen gewöhnlichen Hut und unauffällige Kleidung. Wenn Clera nicht gewusst hätte, dass er aus einer reichen Familie stammte, hätte sie ihn für einen von ihnen, einen Bauern aus dem Tal, gehalten. «Bist du in Eile?»

«Ich muss nach Hause, das Abendessen vorbereiten», antwortete sie. «Ich bedaure, dass ich dein Pferd erschreckt habe.»

Er blickte kurz auf den Mähnenkamm seines Reittiers und sah dann wieder sie an. «Ach, dieses hier ist normalerweise ganz ruhig», sagte er. «Und erschrickt es doch einmal, beruhigt es sich schnell wieder. Jenes, das ich vor diesem hier ritt, war viel nervöser.»

Clera dachte an den Rappen. «Das schwarze?», fragte sie beiläufig und streckte die Hand nach dem braunen Pferd aus.

«Genau», erwiderte Konstantin. «Mit jenem hatte ich grosse Mühe, es war andauernd unruhig, aber mein Vater hat darauf bestanden, dass ich es reite. Er meinte, es beruhige sich bald. Das hat es aber nicht, und eines Tages ist es von der Weide verschwunden. Der Knecht, dem ich es anvertraut hatte, sollte es in den Stall bringen, sagte dann aber, das Pferd sei weg gewesen.» Seine Miene verdüsterte sich.

«Wie, weg ...?», fragte Clera.

«Weg. Verschwunden.»

«Und du glaubst ihm das nicht?», mutmasste Clera, unsicher, ob sie diese Worte wirklich aussprechen sollte.

«Nicht alles, was er sagt», meinte Konstantin. Er zuckte mit den Schultern. «Der Knecht ist ein Taugenichts, ich verstehe nicht, warum mein Vater ihn weiter beschäftigt.» Er schüttelte den Kopf.

«Und jetzt suchst du nach dem Pferd?», fragte Clera vorsichtig.

«Ich muss», schnaubte Konstantin. «Mein Vater besteht darauf, der Hengst ist wertvoll und soll verkauft werden.»

Clera nickte verständnisvoll, dachte jedoch keine Sekunde daran, ihm zu erzählen, dass genau dieses Pferd nicht weit entfernt im Wald lebte.

«Solltest du es irgendwo sehen, komm zu unserem Hof», meinte Konstantin, «vielleicht bezahlt mein Vater dir einen Finderlohn ...»

« ...oder er beschuldigt mich, das Tier gestohlen zu haben», murmelte Clera.

Konstantin seufzte. «Auch möglich.»

«Wie geht es Martin?», fragte Clera, um das Thema zu wechseln. «Hat er sich von dem Schrecken erholt?»

«Ja, es geht ihm gut. Unsere Eltern haben nichts davon erfahren.»

Clera sah seiner Miene an, wie froh er darüber war.

«Ich werde dir ewig dankbar sein, Clera.»

Scheu erwiderte sie sein Lächeln.

«Ich muss weiter», sagte er, «es hat mich gefreut, dich wiederzusehen, Clera. Mach’s gut!»

Sie wusste nicht, ob er ihren leisen Abschiedsgruss gehört hatte. Einen Augenblick sah sie ihm nach, als er davonritt, dann lief sie weiter. Sie hatte bereits zu viel Zeit verloren und musste sich beeilen, um das Abendessen rechtzeitig auf den Tisch zu bringen.

Als sie sich dem Hof näherte, atmete sie auf. Ihre Eltern und Brüder schienen noch nicht zurück zu sein. Das Küchenfenster stand noch immer offen und Floc kam ihr nicht entgegengerannt. Am Stand der Sonne erkannte sie, dass es noch nicht so spät war, wie sie vermutet hatte. Nun brauchte sie nicht mehr zu hetzen. In aller Ruhe versteckte sie Grossmutters Buch und begann, das Abendessen vorzubereiten. Leise singend stellte sie die Teller auf den alten Holztisch, holte Brot und Käse aus der Speisekammer und unterhielt das Feuer im Ofen.

Als alles bereitstand, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Das Tal versank bereits in Schatten, die Sonnenstrahlen erreichten aber die höher gelegenen Höfe gerade noch. Sie liebte den Anblick der Berge im Licht der Abendsonne, wenn es im Tal bereits dunkelte.

Plötzlich zog eine Bewegung auf dem kleinen Pfad unterhalb des Hofs ihre Aufmerksamkeit auf sich. Da stand jemand.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. «Nein», seufzte sie, als sie den Knecht erkannte, den ihr Vater schon mehrere Male angestellt hatte, wenn Not am Mann war. Massimo lebte in einer kleinen Hütte unweit ihres Hofes, verschwand jedoch immer wieder für mehrere Monate, um irgendwann völlig unerwartet wieder aufzutauchen. Clera wusste nicht viel über ihn, nur dass er aus dem Süden stammte. Ihre Brüder hatten zudem erzählt, man munkle in der Umgebung, dass seine Frau ihn verlassen habe, weil er sie schlecht behandelt und alleingelassen habe. Mehr war ihr nicht bekannt und sie wollte es auch nicht wissen. Es genügte, wenn sie wusste, dass er faul war und sie ihn nicht ausstehen konnte. Wenn ihr Vater etwas nicht leiden konnte, war das Faulheit. Oft genug hatte er sie und ihre Brüder getadelt, wenn sie sich bei der Arbeit einmal kurz hingesetzt hatten, um einen Stein aus dem Schuh zu klauben, aber gegenüber Massimo missbilligte er nie etwas. Da Clera im Sommer tagsüber allein auf dem Hof weilte, war sie die Einzige der Familie, die sah, wie Massimo arbeitete. Zum Heuen ging er nie mit, das sei ihm zu anstrengend, hatte er einmal gesagt. Wenn er da war, verbrachte er folglich den ganzen Tag auf dem Hof und flickte seine Schuhe, bürstete seine Kleider, sass in der Sonne und spielte mit dem Werkzeug aus der Werkstatt, während Clera ihren Arbeiten nachging. Nicht selten kam es vor, dass einer ihrer Brüder abends ein Werkzeug suchte und es nicht finden konnte. Wandte er sich dann an Vater, sagte ihm dieser nur, er müsse Massimo fragen. Clera hatte es satt, vor jedem Handgriff Massimo fragen zu müssen, weshalb sie alles, was sie brauchte, so verwahrte, dass nur sie es finden konnte. Einmal hatte sie allen Mut zusammengenommen und ihrem Vater von Massimos Arbeitsverhalten erzählt. Es hatte ihn nicht gekümmert. Auch nach mehreren Jahren wollte er nicht einsehen, dass sein Knecht nichts taugte und in Wirklichkeit Clera die Arbeiten erledigte, die auf dem Hof anstanden.

Sie wartete, bis er wieder im Wald verschwunden war, und hoffte, er würde nicht zurückkehren. Wahrscheinlich hatte er nur nachsehen wollen, ob jemand da war, sie aber nicht bemerkt. Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, huschte sie in ihre Stube, holte Grossmutters Buch und öffnete die Tür, die auf den Hof führte. Von der Bank aus, die vor dem Haus stand, konnte sie den Weg sehen, über den ihre Familie heimkommen sollte. Sie warf einen Blick bergaufwärts, und als sie niemanden kommen sah, schlug sie das alte Buch auf.