8

Mitholz, Juni 1920

Als die Dämmerung so weit fortgeschritten war, dass sie die Buchstaben kaum mehr erkennen konnte, klappte Clera das Buch zu. In der Ferne hörte sie die Kirchenglocke von Kandergrund schlagen. Sie war so sehr in die Geschichte vertieft gewesen, dass ihr entgangen war, wie viel Zeit verstrichen war, und obwohl es bereits dunkelte, war noch niemand von ihrer Familie nach Hause gekommen.

Als sie die Kirchenglocke das nächste Mal hörte, begann sie sich Sorgen zu machen. Mehrmals kam ihr der Gedanke, ihnen entgegenzugehen, doch sie verwarf ihn jedes Mal wieder. Mit einem mulmigen Gefühl ging sie zurück in die Küche und zündete die Öllampe an. Für einen Moment blieb sie beim Tisch stehen und starrte auf die Flamme. Ihre Finger tasteten nach dem Buch in ihrer Rocktasche. Sie fragte sich, wie lange Katharina und Vitus ihr Versteckspiel wohl hatten aufrechterhalten können, und hoffte, dass nichts Schlimmes passiert war. Und irgendwie musste die Geschichte mit ihr zu tun haben, sonst hätte Grossmutter Chatrina sie nicht für sie aufgeschrieben.

Als sie von draussen Hundegebell hörte, erwachte sie aus ihrer Starre und eilte hinaus.

«Clera», begrüsste ihre Mutter sie, «entschuldige, es ist spät geworden. Wir dachten, wir schaffen die Wiese heute noch.» Sie seufzte und stellte den Rechen, den sie auf der Schulter getragen hatte, an die Wand.

«Jetzt ist sie fertig, und wir auch. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht.»

«Noch nicht», log Clera, «das Abendessen steht auf dem Tisch.

Es dauerte eine Weile, bis sich alle umgezogen und an den Tisch gesetzt hatten. Michel sass als Erster auf der Bank an der Wand und strahlte seine Schwester an. «Stell dir vor, Clera», rief er aufgeregt, «heute habe ich sieben Rehe gesehen!»

Clera schenkte ihm ein warmes Lächeln. Michel hatte grosse Freude an den Tieren des Waldes, er zählte jeden Tag, wie vielen er begegnete. Die Briefe fielen ihr wieder ein. Sie holte ihren Korb, den sie in der Ecke hatte stehen lassen, und legte die Umschläge auf den Tisch.

«Ach, die Post», murmelte ihr Vater, als er an den Tisch trat. Er zog den Brief, der an ihn und Barla adressiert war, unter den anderen hervor, nahm das erstbeste Messer vom Tisch und schlitzte ihn auf. Bis er ihn im schummrigen Licht fertig gelesen hatte, hatten sich alle am Tisch eingefunden. Clera rutschte als Letzte auf die Bank. Während des Tischgebets wanderten ihre Gedanken bereits wieder zu Katharina.

«Teodor hat geschrieben», verkündete ihr Vater, als sich alle auf den Schöpflöffel stürzten, und riss sie damit aus ihren Gedanken. Auch ihre Brüder verstummten mit einem Mal. «Er kommt zurück nach Mitholz.»

Überrascht zog Clera die Augenbrauen hoch. Ihre Brüder jauchzten vor Freude und ihre Mutter sah aus, als hätte sie gerade erfahren, dass ihr verlorener Sohn wohlbehalten gefunden worden sei. Sie alle mochten Teodor, er hatte allen gefehlt, als er vor zwei Jahren nach Thun gegangen war. In letzter Zeit war er kaum hier gewesen. Clera wusste nicht, wieso.

«Was schreibt er denn?», fragte Barla und schnitt ein paar Scheiben Brot ab, die sie auf die ausgestreckten Hände ihrer Söhne verteilte.

Liebe Eltern, liebe Geschwister, las Chasper vor. Ich hoffe, ihr seid alle wohlauf und das Heu zu eurer Zufriedenheit. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich euch in letzter Zeit nicht besucht habe, aber ich hatte hier in der Stadt anderen Verpflichtungen nachzukommen. Stellt euch vor, man hat mir eine Stelle in Mitholz angeboten, deshalb werde ich Thun verlassen und zurück nach Hause kommen. Kommenden Samstag werde ich eintreffen, aber erschreckt nicht, ich komme nicht allein! Ihr erinnert euch doch gewiss an Rita, die Tochter des Gerold Müller aus Thun, von der ich euch vor einigen Monaten geschrieben habe. Damals trafen wir uns ab und zu, inzwischen ist daraus mehr geworden. Eine Verlobungsfeier werden wir nachholen, aber sie wünschte, zuerst meine Familie kennenzulernen. Daher wird sie mich begleiten, wenn ich nach Hause komme.

Und da ist noch etwas: Da meine Arbeitsstelle im Metallwerk nun frei wird, lässt mein Chef fragen, ob einer meiner Brüder vielleicht diesen Posten übernehmen möchte. Er hält viel von uns und ist überzeugt, dass wir alle hart arbeiten können, daher wäre er bereit, jemanden anzulernen.

Ich freue mich darauf, euch wiederzusehen!

Mit besten Grüssen

Euer Teodor.

Barla schlug beide Hände vors Gesicht. Das Geräusch, das sie vor Freude von sich gab, klang in Cleras Ohren nach einem Gemisch aus Schluchzen und Jauchzen. Ein Lächeln huschte über Cleras Lippen. Sie konnte die Freude ihrer Mutter sehr gut verstehen, wunderte sich aber, dass sie nicht damit gerechnet hatte, wenn sie doch von dieser Rita wusste. Sie selbst hatte noch nie von ihr gehört, den letzten Brief hatte ihr Vater nicht am Tisch vorgelesen.

«Ach herrje», rief Barla aus, «das Mädchen kommt aus Thun! Aus der Stadt! Wird sie sich hier überhaupt wohlfühlen?»

Clau lachte leise.

«Mach dich nicht lustig!», tadelte Barla ihren Sohn. «Das Leben in Thun ist völlig anders als unseres hier oben. Wir müssen zusehen, dass das junge Ding sich hier wohlfühlt.» Hektisch sah sie sich im Raum um.

Clera widmete sich wieder ihrem Teller und legte ein Stück Käse auf die Brotscheibe, die vor ihr lag. Sie hatte die Küche und die Stube aufgeräumt und geputzt, es gab nichts daran auszusetzen.

Allmählich beruhigte Barla sich wieder. «Ein Glück, dass die Zwillinge auf der Alp sind», sagte sie nach einer Weile. «Clera, du kannst in ihrem Zimmer schlafen, Rita bekommt Grossmutters Stube.»

Beinahe hätte Clera sich verschluckt. «Wie bitte?», fragte sie ungläubig. «Ich soll das Feld räumen? Wieso ich?»

«Weil nur du ein eigenes Zimmer hast ...», mischte sich Chasper ein.

«Auch nur, weil Grossmutter darauf bestanden hat», unterbrach sie ihn mürrisch.

«... und weil es das wärmste und freundlichste Zimmer des Hauses ist.»

Clera legte die angebissene Brotscheibe zurück auf den Teller, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Wand hinter ihr. Sie war nicht bereit, ihren Rückzugsort einer Fremden zu überlassen.

«Und wer bekommt die Stelle in Thun?», meldete sich nun Peider zu Wort.

Enttäuscht senkte Clera den Blick. Für die anderen schien das Thema erledigt und die Entscheidung gefallen zu sein.

«Vielleicht einer der Zwillinge?», schlug Michel vor, bevor er sich zu seinem grossen Bruder umwandte, der rechts neben ihm sass. «Oder Clau.»

Clau hatte kein Wort gesagt, seit Chasper den Brief vorgelesen hatte.

«Clau oder einer der Zwillinge», sagte Chasper und legte den Brief weg, den er bis jetzt in der Hand gehalten hatte. «Peider und Michel sind noch zu jung, um allein in die Stadt zu ziehen. Aber zuerst müssen wir Teodor fragen, wann er die Stelle antreten soll, die Zwillinge sind schliesslich bis September auf der Alp.»

Clera ass den letzten Bissen Brot, der auf ihrem Teller lag, und begann dann wortlos, den Tisch abzuräumen.

Als sie am Samstagmorgen aufwachte, pochte es in ihren Schläfen. Sie setzte sich auf, überlegte, welcher Tag heute war, und liess sich zurück ins Kissen fallen. Seit sie von Teodors Rückkehr erfahren hatte, hatte sie jeden Abend vor dem Zubettgehen ihre Habseligkeiten sortiert, eingepackt, versteckt, wieder hervorgeholt und neu versteckt. Gähnend stand sie auf, zog sich an und wusch sich das Gesicht. Sie hatte von dem schwarzen Pferd geträumt und von Konstantin. Beinahe mechanisch bereitete sie das Frühstück vor, während ihre Brüder die Stallarbeit erledigten.

Den ganzen Vormittag sprach sie kein Wort. Gehorsam putzte sie die Küche und die Stube sowie ihr Zimmer und bezog das Bett neu. Ihre persönlichen Sachen hatte sie in Grossmutters Truhe gepackt und unter den kleinen Tisch geschoben, bis sie an der Wand anstand. Schliesslich hatte sie das grösste Tischtuch, das sie finden konnte, darübergebreitet. Nur das Buch trug sie in ihrer Rocktasche bei sich.

Sie war gerade dabei, den Tisch zu decken, als Michel von der Tür her rief, dass Teodor angekommen sei. Barla liess mit einem nervösen Aufschrei das Besteck, das sie in der Hand hielt, auf den Tisch fallen, wischte hastig die Hände an ihrer Schürze ab und eilte nach draussen. Clera rollte die Augen, verteilte das Besteck und lauschte, ob sie draussen irgendjemanden sprechen hörte. Jemand redete, doch sie konnte nichts verstehen, dann plötzlich rief jemand ihren Namen. Sie seufzte, stellte die Schüssel hin und folgte ihrer Familie in den Hof. Da standen sie, wie sie jeweils um Michel herumstanden, wenn er eine Maus gefangen hatte und sie allen zeigen wollte. Teodor hatte sich nicht verändert, aber Cleras Aufmerksamkeit galt mehr der jungen Frau, die neben ihm stand und fast übertrieben fröhlich lächelte. Clera hatte sich vorgenommen, sie nicht zu mögen, trotzdem war sie neugierig, was sie aber nie zugegeben hätte.

«Clera!», rief Teodor, als er sie sah, machte mit seinen langen, dünnen Beinen zwei Schritte auf sie zu und umarmte sie. «Wie gross du geworden bist!»

Sie lachte. «Erzähl keinen Unsinn, seit deinem letzten Besuch bin ich nicht gewachsen.»

«Du siehst prächtig aus, kleine Schwester», lachte er und liess sie los.

Für einen Moment vergass Clera, dass sie sich vorgenommen hatte, schlecht gelaunt zu sein.

«Darf ich dir Rita vorstellen?», sagte er und deutete auf seine Begleitung.

Clera zwang sich zu einem Lächeln und reichte ihr die Hand.

«Salü Clara», begrüsste Rita sie.

«Clera», korrigierte Clera sie. «Freut mich.» Ihrer Stimme war jedoch anzuhören, dass das Gegenteil der Fall war.

«Ach, tut mir leid!», entschuldigte sich Rita und schenkte ihr ein versöhnendes Lächeln. «Der Name ist mir noch fremd.»

Clera nickte und liess ihren Blick unauffällig über ihr Kleid wandern. Der Rock war viel heller als alle ihre Kleider, und sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie einen Fleck darauf fand. Ihre Schuhe waren nicht stabil genug für die Berge, doch für das Haus würden sie reichen, und den Hut, den sie trug, würde wohl der kleinste Windstoss davontragen. Als Clera merkte, dass Michel sie beobachtete, drehte sie den Kopf in seine Richtung.

«Du magst sie nicht», flüsterte er ihr zu.

«Wenn sie mir nicht mein Zimmer wegnehmen würde, würde ich sie vielleicht mögen», gab sie zurück.

«Soll ich sie für dich vertreiben?»

Sie sah sein spitzbübisches Grinsen und musste lachen.

Auch während des Mittagessens sprach sie kaum ein Wort, sondern hörte den anderen zu, die Rita richtiggehend mit Fragen löcherten. Die junge Frau war sehr höflich und wirkte zudem überglücklich. Vielleicht erwies sie sich deswegen als derart geduldig. Mehr als einmal versuchte sie, mit Clera ein Gespräch anzufangen, doch diese gab nur einsilbige Antworten.

Wie Clera den Nachmittag überstanden hatte, wusste sie später nicht mehr. Zwischendurch hatte sie sich in den Stall zurückgezogen und nach den Tieren gesehen, um dem Rummel um Rita zu entgehen. Beim Spaziergang, den sie sonst jeweils sonntags machten, aber heute ausnahmsweise vorzogen, war sie immer ein paar Schritte hinter den anderen hergegangen. Eine Zeit lang ging Michel neben ihr her. Er sagte nichts, wusste aber, dass es sie freute, wenn er ihr Aufmerksamkeit schenkte.

«Meinst du, sie reist wieder ab, wenn sie eine Maus in ihrem Zimmer findet?», flüsterte er nach einer Weile und zwinkerte verschwörerisch.

Clera sah ihn mit grossen Augen an.

«Du weisst natürlich von nichts», sagte er mit Unschuldsmiene, bevor sie irgendetwas einwenden konnte.

Sie lachte. Vielleicht wollte sie wirklich nicht alles wissen.

Sie war froh, als sie sich in die Küche zurückziehen und das Abendessen vorbereiten konnte. Aus der Stube nebenan hörte sie Rita und Teodor leise miteinander sprechen. Barla hatte darauf bestanden, dass mindestens Michel sich ebenfalls in der Stube aufhalten oder zumindest die Tür zur Küche offen stehen musste.

«Ach, Teodor», hörte Clera Rita gerade sagen, als sie in die Flammen blies, um das Feuer am Leben zu erhalten. «Ich weiss, es ist dein Zuhause und alle geben sich grosse Mühe, aber ... ich bin das Landleben ... nicht gewohnt.»

«Was du nicht sagst», murmelte Clera und schloss leise die Ofentür.

«Mach dir keine Sorgen, Liebes», erwiderte Teodor, «bald haben wir unser eigenes Zuhause, unten in Mitholz.» Das schien die junge Frau zu trösten, zumindest hörte Clera nichts mehr. In Gedanken zählte sie die Wochen, die noch vergehen würden, bis der Herbst begann und alle Wege um den Hof herum schlammig wurden. Spätestens dann musste die Stadtpflanze bestimmt wieder abreisen und Clera konnte zurück in ihr Zimmer ziehen.

Sie war froh, als ihr Vater sich nach dem Abendessen zurückzog, um mit Clau über die Arbeitsstelle in Thun zu sprechen. Peider und Michel machten den Kontrollgang im Stall und Barla hatte Rita gleich nach dem Essen aus dem Raum gezogen, um ihr zu zeigen, wo sie sich waschen konnte. Seufzend wischte Clera den Tisch ab.

«Clera!» Teodors Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht bemerkt, dass er in der Tür stand, doch nun kam er auf sie zu und streckte die Hand nach dem Lappen aus. Mit einer raschen Handbewegung gab sie ihm zu verstehen, dass sie keine Hilfe brauchte. Wortlos zog er seine Hand zurück und steckte sie in die Tasche seiner Sonntagshose.

«Wie geht es dir?»

Clera hielt inne.

Teodor war schon immer der einfühlsamste unter ihren Brüdern gewesen, abgesehen von Michel, der ihm nacheiferte.

«Mir geht’s gut», sagte sie so locker wie möglich und hob die Kerze an, um die darunterliegende Stelle der Tischplatte zu putzen.

«Konntest du diesen Sommer einmal beim Heuen helfen?»

Sie hätte wissen müssen, dass er sie durchschaute. Er wusste nur zu gut Bescheid, da er seine Familienmitglieder genau beobachtete, mehr mit ihnen redete als die anderen und sie daher gut einschätzen konnte.

«Nein», gestand sie leise. «Kein einziges Mal. Ich bin immer hier.» Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber sie wollte ihm nicht vom See, dem Pferd und schon gar nicht von Konstantin erzählen.

«Und jetzt bist auch noch du diejenige, die ihr Zimmer für Rita aufgeben muss.» Sie wandte sich ab und hängte den Lappen über die Schnur über dem Ofen, die schon lange wieder einmal nachgespannt werden sollte.

«Das tut mir sehr leid.»

Sie zuckte mit den Schultern. «Es war ja wohl nicht deine Schuld.»

Nun war er es, der den Blick senkte. «Schau, ich habe dir etwas mitgebracht.» Er zog etwas aus der hinteren Hosentasche und hielt es ihr hin.

«Schokolade?», entfuhr es ihr, als sie die Tafel in der Hand hielt. Sie spürte förmlich, wie ihre Augen aufleuchteten und der Ärger in den Hintergrund rückte. «Oh, Teodor, ich danke dir», sagte sie und fiel ihm um den Hals. Für Schokolade hätte sie fast alles getan. Sie entschädigte sie zwar nicht für den Verlust ihrer Stube, aber sie machte es wenigstens erträglicher. Dennoch fühlte sie sich nicht verpflichtet, Rita zu mögen.

Da Clera stets die Letzte war, die abends die Küche verliess, nahm sie die Kerze mit. Die Flamme zuckte, als ein Windstoss durch den Raum zog.

«Clera», hörte sie Rita von der anderen Seite des Raumes.

Erstaunt drehte sie sich um.

Rita stand in der Tür, ebenfalls mit einer Kerze in der Hand. Ihr blütenweisses Nachthemd sah viel weicher aus als ihr eigenes und reichte bis zum Boden. Sie hatte die hochgesteckten Haare geöffnet, sodass ihr die blonden Locken wie Wasserfälle über die Schultern flossen.

In Cleras Augen war sie fast unerträglich perfekt. Entschlossen verdrängte sie den Gedanken, dass sie neidisch war. Neidisch auf Ritas schönes Haar, ihre geschmackvolle Kleidung und ihre Fröhlichkeit.

«Danke, dass du mir dein Zimmer überlässt.»

Clera stockte der Atem. Damit hatte sie nicht gerechnet. Rita hatte auf sie einen eingebildeten Eindruck gemacht, obwohl sie gar nicht sagen konnte, wieso. «Überlassen ...», murmelte sie. «Ich hatte keine Wahl. Meine Eltern haben beschlossen, dass du das schönste Zimmer bekommen sollst. Ich schlafe oben in der Kammer meiner Brüder, die nicht hier sind.» Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren kühl, doch Rita nickte nur.

«Bengiamin und Mattiu, nicht wahr? Sie weilen auf der Alp.»

«So ist es.»

«Es tut mir leid für dich», fuhr Rita fort. «Ich wollte dich nicht aus deinem Zimmer vertreiben. Wenn du willst, schlafe ich oben ...»

«Nein ...», stammelte Clera, «das ... ist schon in Ordnung so.» Plötzlich tat es ihr leid, dass sie den ganzen Tag missmutig gewesen war. Sie hatte ihre zukünftige Schwägerin wohl falsch eingeschätzt. Rita war ein äusserst freundlicher Mensch, und langsam verstand Clera, warum Teodor sie mochte. Und sie hatte eine gewisse Eleganz, um die Clera sie tatsächlich beneidete.

«Ich hoffe, wir werden Freundinnen», hörte sie Rita sagen.

«Ja ... das wäre schön.» Sie wusste nicht, ob sie das wirklich so sah oder es nur aus Höflichkeit sagte. Unsicher warf sie einen Blick auf ihre Kerze und tastete mit der anderen Hand nach dem Buch und der Schokolade in ihrer Rocktasche. «Schlaf gut.»

«Du auch.» Mit einem freundlichen Lächeln zog Rita sich zurück.

Clera seufzte, eilte die Treppe hinauf und öffnete leise die Tür zur kleinen Kammer der Zwillinge. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen, sodass sie auf direktem Wege zu dem kleinen Fenster hinüberging, um es zu öffnen. Sie stellte die Kerze auf die kleine Kommode und sah sich um. Nachdem ihre Brüder zur Alp aufgebrochen waren, hatte sie diesen Raum geputzt, jedoch hatte ihn seither niemand betreten und auch nie jemand gelüftet.

Sie legte sich auf das Bett, dessen Strohsack noch nicht ganz durchgelegen war, löschte die Kerze und starrte in die Dunkelheit. Teodor hatte noch nicht mitgeteilt, wie lange er und Rita bleiben wollten. Obwohl sie sich gewünscht hätte, dass ihr Bruder länger blieb, hoffte sie, dass er das nicht vorhatte. Rita würde sicherlich nicht zum Heuen mitgehen, folglich würde sie hier auf sie aufpassen müssen. Sie würde vielleicht bis im Herbst keine Gelegenheit mehr haben, zum See zu gehen, und dann wäre das Pferd wohl nicht mehr da. Der Gedanke daran gab ihr einen Stich ins Herz. Sie fragte sich, ob sie Konstantin davon erzählen sollte. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Sie kannte ihn kaum und wusste nicht, wie er darauf reagieren würde. Bestimmt würde er das Pferd sofort einfangen. Aber vielleicht wäre das sogar die bessere Lösung, als wenn ein Jäger es entdeckte.