Clera erwachte, als der Hahn krähte. Im ersten Moment fragte sie sich, warum es im Zimmer so düster war, bis ihr wieder einfiel, warum sie nicht in ihrer Stube geschlafen hatte. Das kleine Fenster dieser Kammer ging nach Westen, sodass es am Morgen wenig Licht abbekam. Hastig zog sie sich an, flocht ihre Haare zu zwei Zöpfen und schlich die Treppe hinunter. Warum sie sich bemühte, keinen Lärm zu machen, wusste sie selbst nicht, in Kürze würden ohnehin alle Familienmitglieder aufstehen. Leise öffnete sie die Tür und trat hinaus in den Hof. Vom Wald her hörte sie die Vögel singen. Die Sonne war noch nicht über die Berge geklettert, doch es war hell genug, um ins Tal hinunterblicken zu können. Floc kam angerannt und liess sich zwischen den Ohren kraulen.
«Es gibt viel zu tun, Floc», murmelte sie, «und jetzt muss ich auch noch Kinder hüten.»
Nachdem sie sich am Brunnen kurz das Gesicht gewaschen hatte, ging sie zurück ins Haus, streifte ihre Schuhe ab und betrat die Küche. Eine Rauchwolke schlug ihr entgegen, als sie die Tür öffnete, sodass sie erschrocken zurückwich. Sie hatte noch kein Feuer gemacht und das vom Vorabend war längst ausgegangen. Entschlossen holte sie Luft, lief durch den Raum und riss das Fenster auf. Der Rauch brannte ihr in den Augen. Geduckt huschte sie hinüber zum Herd, wo sie beinahe mit jemandem zusammenstiess, den sie im dichten Rauch nicht gesehen hatte.
«Rita!», rief sie aus und packte die junge Frau am Arm. Sie trug eine Bluse und einen geblümten Rock, der vermutlich vorhin noch sauber gewesen war. Ohne Widerstand liess Rita sich von ihr vom Ofen wegzerren. Inzwischen hatte sich der Rauch ein wenig gelichtet, sodass Clera wieder den ganzen Raum sehen und erkennen konnte, dass nirgends Flammen loderten.
«Was machst du?», fragte sie die völlig verängstigte Rita, der die Haare strähnenweise ins Gesicht hingen.
«Ich wollte Feuer machen», gestand diese kleinlaut und schaute zu Boden.
Cleras Blick wanderte zum Ofen, aus dem nach wie vor Rauch aufstieg. «Hast du das Ofenrohr geöffnet?»
Rita sah sie fragend an. «Ich dachte, der Kamin sei immer offen ...»
Clera seufzte, ging durch den Rauch zum Ofen hinüber und öffnete den Abzug, bevor sie das Ofentürchen ganz öffnete. Entmutigt setzte sie sich auf den Boden. Rita hatte die ganze Holzwolle, die sie jeweils zum Anzünden verwendete, verbrannt. Das Holz, das sie kreuz und quer darübergelegt hatte, hatte hingegen kein Feuer gefangen.
«Es tut mir leid», hörte sie Rita hinter sich sagen. «Ich wollte nur helfen, aber ... ich habe keine Ahnung, wie man ein Feuer macht.»
Clera dachte an Katharina. Sicherlich hätte diese Louise, die Tochter des Lehrers, auch kein Feuer machen können, weil sie ein Hausmädchen gehabt hatte, und plötzlich fühlte sie sich, wie Katharina sich neben dem anderen Mädchen im Leben ihres Geliebten gefühlt haben musste: Das kleine, einfache Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, das kaum eine Schulbildung genossen hatte und sich keine Kleider, die nicht für die Arbeit gedacht waren, leisten konnte.
«Glaub mir, ich habe das nicht mit Absicht getan», fuhr Rita fort.
Clera wusste, dass sie jetzt etwas sagen musste, da sie sich sonst weiter entschuldigen würde. «Halb so schlimm», sagte sie, ohne sie anzusehen. Mit geschickten Händen schichtete sie das Holz in den Ofen und zündete es schliesslich an. Vorsichtig blies sie Luft in die Flammen, dann erst wandte sie sich zu Rita um, die immer noch neben ihr sass und ihr zusah. «Jetzt brennt es», sagte sie und stand auf.
«Danke», sagte Rita und erhob sich ebenfalls. «Ich wollte dir keine zusätzliche Arbeit machen, sondern helfen ...»
Clera nickte nur und nahm den Topf vom Haken, den sie jeweils benutzte, um Milch zu erwärmen, und stellte ihn neben dem Herd bereit. Bald müssten ihre Brüder die Milch herüberbringen, doch ihr blieb noch genug Zeit, um vorher die Eier aus dem Hühnerstall zu holen. Sie griff nach dem Korb, der neben der Tür bereitstand und verliess die Küche ohne ein weiteres Wort.
«Wohin gehst du?», hörte sie Rita hinter sich fragen.
«Zu den Hühnern», antwortete sie knapp und trat hinaus auf den Hof.
«Kann ich mitkommen?»
Clera zuckte mit den Schultern. Es spielte für sie keine Rolle, ob sie die Verlobte ihres Bruders in der Küche oder im Hühnerstall beschäftigte.
Rita sah sich interessiert um. Tagsüber liess Clera die Hühner raus auf das umzäunte Stück Wiese neben dem Stall, deshalb standen sie frühmorgens stets dicht gedrängt beim Türchen. Clera scheuchte sie weg und betrat das Häuschen mit der niedrigen Decke. In der einen Hand hielt sie den Korb, mit der anderen hielt sie Rita das Türchen auf. Zu ihrem Erstaunen trat diese ein, ohne zu zögern.
«Dort drüben liegen meist drei oder vier Eier», erklärte Clera ihr und deutete in die eine Ecke. Sie selbst bahnte sich einen Weg durch die flatternde Menge zu ihren Füssen und sammelte die Eier auf der anderen Seite ein.
«Drei sind es», sagte Rita und kam mit drei braunen Eiern in den Händen auf sie zu.
«Vorsicht!», rief Clera einen kurzen Moment zu spät. «Du bist gerade in Hühnermist getreten.»
Ritas Blick wanderte zu ihren Schuhen.
Clera hätte es nie gewagt, mit solchen Schuhen in den Stall zu gehen, doch vermutlich besass Rita keine anderen. Allerdings musste sie zugeben, dass ihr diese Art von Schuhwerk gut gefiel.
Zu ihrer Überraschung begann Rita zu lachen. «Ich werde sie nachher reinigen. Vermutlich sollte ich mir für meinen Aufenthalt hier auf dem Hof bessere Schuhe anschaffen.»
Ohne es zu wollen, lachte Clera mit. Dass Rita nicht in Panik geriet, wenn sie in Hühnermist trat, machte sie gleich sympathischer.
Vorsichtig legte sie die Eier in Cleras Korb. Sie hatte äusserst gepflegte Hände. Ihre Nägel waren blitzsauber, hatten alle dieselbe Länge und an ihrem Ringfinger glänzte ein schlichter Ring. Unauffällig liess Clera den Blick über ihre eigenen Hände schweifen. Sie hielt ihre Fingernägel so kurz wie möglich, und ihre Haut war an vielen Stellen trocken und etwas rissig. Es erstaunte sie, dass Rita keine Sekunde zögerte, die Eier in die Hand zu nehmen oder gar ein Huhn, das auf dem Nest sass, zu streicheln.
«Komm, wir bringen die Eier in die Küche und bereiten das Frühstück vor, sonst kommen wir womöglich zu spät zur Kirche.»
Clera mochte den Sonntag. Es war der einzige Tag der Woche, an dem die Familie Arbeiten, die warten konnten, auch warten liess. Der Gang zur Kirche war für sie etwas wie ein Familienausflug, weil immer alle mitkamen, die zu Hause weilten. Bengiamin und Mattiu waren natürlich entschuldigt, solange sie auf der Alp lebten. Auf dem Weg ins Tal hatte sie jeweils Zeit, sich mit ihren Brüdern auszutauschen oder mit Michel Ratespiele zu machen. Ausserdem trug sie ihre Sonntagstracht äusserst gern, schliesslich war es das einzige festliche Kleid, das sie besass. Ritas Tracht unterschied sich leicht von der ihren, einerseits durch die Farbe, andererseits durch den Schmuck. Clera besass kaum Schmuck, aber das vermochte die Freude an ihrer Tracht nicht zu trüben. Sie beobachtete Rita, die – elegant, wie sie war, – neben Teodor herging, die linke Hand in seiner Armbeuge.
Clera ging zuhinterst und beobachtete ihre Familienmitglieder. Clau schien in Gedanken versunken zu sein. Seit Chasper am Vorabend mit ihm über die Stelle in Thun gesprochen hatte, hatte er kaum ein Wort gesagt. Clera konnte das gut verstehen. Auch sie wäre nervös geworden, wenn man ihr gesagt hätte, sie ziehe in wenigen Wochen in die Stadt.
«Ich sehe etwas, was du nicht siehst», riss Michel sie in dem Moment aus ihren Gedanken.
Schweigend bereitete sie das Mittagessen zu, das ihre Mutter morgens vor dem Kirchgang vorbereitet hatte. Braten gab es nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder einem Geburtstag, und anscheinend war Teodors und Ritas Besuch ein solch besonderer Anlass. Barla hatte keinen Finger gerührt, seit sie nach Hause gekommen waren, sondern sass mit Rita am Stubentisch und redete mit ihr über dieses und jenes. Clera hörte mit einem Ohr zu und fragte sich, ob ihre Mutter ihre zukünftige Schwiegertochter zu einem ganz bestimmten Thema ausfragen oder nur nett sein wollte, damit Rita sie mochte.
Die Einzigen, die beim Essen wortlos am Tisch sassen, waren Clau, der noch immer seinen Gedanken nachhing, und Clera, die es bevorzugte, nicht aufzufallen.
«Clau», fragte Teodor schliesslich, «hast du dich schon entschieden, ob du die Stelle in Thun antreten wirst?»
Clau blickte von seinem Teller auf und sah Teodor in die Augen. «Ja», antwortete er bestimmt, «ich würde die Stelle gerne annehmen.» Bei diesen Worten umspielte sogar ein Lächeln seine Lippen.
Auf Barlas Gesicht zeigte sich Freude und unübersehbarer Stolz.
Clera fragte sich, was das für all diejenigen bedeutete, die auf dem Hof zurückblieben. Clau war immer eine starke und zuverlässige Arbeitskraft gewesen. Andererseits freute sie sich für ihn, schliesslich hatte er im Leben noch kaum etwas anderes gesehen als diesen Hof.
«Wann wirst du nach Thun ziehen?», erkundigte sich Barla.
«Er kann die Stelle bereits im Juli antreten», antwortete Teodor für seinen Bruder.
«Und wo wirst du wohnen?», rief nun Michel dazwischen, der bisher kein Wort gesagt hatte. «In einem der grossen Häuser?»
Clera musste schmunzeln. Sie erinnerte sich an ihren letzten Besuch in Thun. Michel war damals fünf gewesen und hatte über die riesigen Häuser gestaunt.
«Nein», antwortete Teodor und lächelte seinen jüngsten Bruder an. «Clau wird in dem Zimmer wohnen, das das Unternehmen bisher mir zur Verfügung gestellt hat. Es befindet sich in einem einfachen kleinen Haus in der Nähe der Fabrik.»
Michel nickte, obwohl er sich darunter sicher nicht viel vorstellen konnte. «Können wir dich besuchen kommen?»
Aus dem Augenwinkel beobachtete Clera die Reaktion ihres Vaters. Michel hatte schon damals, als Teodor nach Thun gegangen war, gefragt, ob sie ihn besuchen könnten. Chasper hatte es ihm versprochen, und doch waren sie nie hingefahren. Diesmal wäre es nicht anders. Michels Augen leuchteten, doch Clera wusste, dass er lange darauf warten würde.
Beinahe gefährlich schnell rannte Clera durch den Wald talwärts. Die Vormittagssonne hatte die Luft bereits so stark erwärmt, dass sie die Kühle des Waldes als angenehm empfand. Dass sich ihr so bald die Gelegenheit bot, zum See zu gehen, hätte sie nicht für möglich gehalten, aber als ihr Vater gefragt hatte, wer den Brief an Claus zukünftigen Arbeitgeber zur Post bringen könnte, hatte sie keine Sekunde gezögert. Als sie aufbrechen wollte, hatte Rita ihr ebenfalls einen Brief an ihre Eltern zugesteckt, was ihrem Gang zur Post zusätzliche Wichtigkeit verlieh.
Kaum war sie ausser Sichtweite gewesen, war sie losgerannt. Je schneller sie die Briefe abgegeben hatte, umso eher konnte sie zum See gehen. Geschickt wich sie einem auf dem schmalen Weg liegenden Ast aus und trat aus dem Wald auf die Lichtung, auf der einige Hütten standen. Der Weg führte durch das trockene Gras, um nach wenigen Hundert Metern wieder im Wald zu verschwinden. Erschrocken wurde sie langsamer, als sie an der ersten Hütte vorbeikam. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier jemanden anzutreffen.
«Ciao bella», rief die Gestalt, die im Schatten der Hütte stand, ihr zu und grinste anzüglich. Seit er auf ihrem Hof herumgeschlichen war, hatte Clera Massimo nicht mehr gesehen, und ihr wären spontan viele Leute eingefallen, denen sie lieber begegnet wäre. Sie fand diesen Mann widerlich und traute ihm nicht. Wortlos eilte sie vorbei und verschwand wieder im Wald, erst dann verlangsamte sie ihr Tempo und sah sich um, froh, dass er ihr nicht folgte. Mehrere Ereignisse fielen ihr ein, deren Erinnerung sie immer noch wütend machte. Da waren einst ihre kleinen Walderdbeerpflanzen, die sie im Wald ausgegraben und mit auf den Hof genommen hatte. Sie hatte sie in Töpfen auf die Laube gestellt, um sie später in den Garten zu setzen, aber eines Tages waren sie weg gewesen. Einer ihrer Brüder hatte gesagt, er habe Massimo dort herumlungern sehen, woraufhin Clera den Italiener zur Rede gestellt hatte. Tatsächlich hatte er zwei ihrer Pflanzen in kleinere Töpfe umgepflanzt und dabei die Wurzeln zerdrückt und den letzten auf den Misthaufen geworfen. Auf die Frage, warum er ihre Pflanzen zerstört habe, hatte er ihr nie geantwortet. Stattdessen hatte er ihr einzureden versucht, sie müsse Respekt vor ihm haben, und ihr unterstellt, sie habe die Pflanzen selbst weggeworfen. Clera hatte ihrem Vater davon erzählt, doch der hatte nichts davon hören wollen.
Seither weigerte Clera sich, mit Massimo zu reden oder zusammenzuarbeiten, doch der schien das anders zu sehen. Letzten Sommer hatte er ihr unterstellt, sie habe etwas aus der Scheune gestohlen und solle es sofort zurücklegen. Sie hatte zuerst nicht verstanden, worum es ging, schliesslich lebte sie auf dem Hof, der ihrer Familie gehörte. Aber selbst als er sie mit den übelsten Schimpfwörtern, die sie je gehört hatte, bedacht hatte, hatte es ihren Vater nicht gekümmert. Einmal hatte er gesagt, er werde mit Massimo sprechen, aber getan hatte er das nie. Das war in Cleras Augen einer seiner grössten Fehler: Er mochte sich nicht mit Konflikten auseinandersetzen, wollte nicht diskutieren und somit auch keine Missstände beheben, die er obendrein gar nicht sehen wollte. Einmal hatte Massimo mit der Mistgabel beinahe Floc aufgespiesst, der neben Clera gestanden hatte. Seither wusste sie, dass er nur darauf aus war, sie zu provozieren. Ihr Vater hatte zu dem Zeitpunkt ebenfalls neben ihr gestanden, aber später gesagt, das sei nicht wahr, Massimo würde nie so etwas tun. Clera hatte ihren Vater daran erinnert, dass er danebengestanden und alles gesehen hatte, doch das hatte er abgestritten. Seither ging Clera dem Italiener aus dem Weg und sprach kein Wort mit ihm.
Ihre Laune besserte sich, als sie die Briefe in den dunkelgrünen Briefkasten geworfen hatte und sich auf den Weg zum See machte. Die Kirchturmuhr in der Ferne zeigte ihr, dass sie den Weg vom Hof zur Post heute schneller zurückgelegt hatte als jemals zuvor.
Als sie den Waldrand erreichte, hielt sie kurz inne. Auf dem Weg, der weiter nach Kandergrund führte, konnte sie ein Pferd erkennen. Sie wartete einen Augenblick, bis sie den Reiter sehen konnte. Dem braunen Pferd nach zu schliessen musste es Konstantin sein. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
«Clera», begrüsste er sie schon von Weitem. «Was für eine Überraschung!»
Sie grüsste ebenfalls und streichelte sein Pferd.
«Wie geht es dir?»
Clera bemühte sich um ein Lächeln. «Gut», antwortete sie. «Mein Bruder ist nach Hause gekommen. Er arbeitet in Thun ... bis vor Kurzem. Jetzt hat er vor, sich hier im Tal niederzulassen.»
Konstantin sah sie eindringlich an, dann stieg er aus dem Sattel und griff nach den Zügeln seines Pferdes. «Du scheinst nicht glücklich darüber zu sein.»
Clera staunte über seine Beobachtungsgabe und fragte sich, ob ihr ihr Missfallen an der Lage so gut anzusehen war. «Nun», begann sie, «er hat seine Verlobte mitgebracht, eine junge Frau aus Thun. Meine Eltern haben darauf bestanden, dass sie mein Zimmer, die grosse Stube meiner Grossmutter bekommt, solange sie hier weilt.»
Konstantin nickte. «Und nun fühlst du dich ... rausgeworfen?»
«So in etwa.» Sie senkte den Blick.
«Und deshalb gehst du zum See?»
Sie nickte.
«Ich begleite dich ein Stück», entschied Konstantin und setzte sich in Bewegung. Sein Pferd folgte ihm gehorsam. In seiner Gegenwart fühlte Clera sich sehr wohl, was ihr nach der Begegnung mit Massimo wie gerufen kam.
«Was bedrückt dich noch?», hörte sie Konstantin fragen. «Das war sicher nicht alles.»
Sie seufzte und erzählte ihm von Massimo.
Konstantin hörte ihr geduldig zu, während seine Miene immer finsterer wurde. «Und wieso hat dein Vater ihm nie gesagt, er solle verschwinden? Er hätte doch schnell einen neuen Knecht gefunden.»
Clera zuckte mit den Schultern. Wie oft hatte sie sich diese Frage schon gestellt.
Inzwischen hatten sie den See erreicht, der im Licht der Sommersonne wie tausend Bergkristalle glitzerte.
«Ein herrliches Fleckchen Erde», flüsterte Konstantin vor sich hin.
Clera war froh über den Themenwechsel. Noch vor wenigen Wochen hätte sie nicht gedacht, dass er so gefühlvoll sein konnte. Seine blauen Augen waren viel sanfter als bei ihrer ersten Begegnung.
«Ich komme hierher, wann immer es mir möglich ist, ohne das Wissen meiner Familie den Hof zu verlassen.»
«Wieso darf niemand wissen, dass du herkommst?»
Clera verkniff sich das Lachen. «Stell dir vor, was meine Mutter sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich mich hier herumtreibe, noch dazu mit einem Mann.»
Konstantin hob lachend die Hände. «Ich verspreche dir, ich werde dir nichts tun. Ich bin ein Ehrenmann, nicht wie dieser Tschingg, von dem du erzählt hast.»
Clera sah ihn fragend an. «Tschingg?»
«Ein abschätziges Wort für Italiener», erklärte Konstantin. «Hast du das noch nie gehört?»
Clera schüttelte den Kopf und blickte wieder auf den See hinaus.
«Mein Vater hat mir irgendwann nicht mehr erlaubt, zur Schule zu gehen. Seither arbeite ich auf dem Hof, komme ab und zu ins Tal, wenn ich zur Post gehen muss, und meine letzte Reise in die Stadt ist einige Jahre her.»
«Unglaublich», sagte er, «wie unterschiedlich die Leben verschiedener Leute aus demselben Tal sein können.»
Als Clera hinter sich ein Pferd schnauben hörte, drehte sie sich um. Konstantins Brauner, der artig neben dem Baum stand, an dem er festgebunden war, hob den Kopf und stellte die Ohren auf, als er bemerkte, dass sie ihn ansah.
«Kannst du reiten?»
«Ja», antwortete sie. «Wir besitzen zwar kein Pferd, aber die Eltern meiner besten Freundin. Auf deren Pferden haben wir, Vrena und ich, reiten gelernt.»
«Dann haben wir doch etwas gemeinsam», lachte Konstantin, «ich bin schon als Kind geritten, mein Vater hat darauf bestanden, da er selbst Pferde züchtet.» Er deutete auf den Braunen, der gerade seinen Kopf an der Baumrinde rieb.
«Wenn du ein Pferd hättest, würdest du wahrscheinlich bei deinem Gang zur Post und dem heimlichen Abstecher zum See viel Zeit sparen.»
Clera zuckte mit den Schultern. Der Weg war zwar steil und schmal, aber zu Pferd sicher zu meistern. Das schwarze Pferd fiel ihr wieder ein. «Hast du eigentlich das verschwundene Pferd wiedergefunden?»
Konstantin senkte den Blick und schüttelte den Kopf. «Nein. Wir glauben, dass es gestohlen worden ist. Mein Vater hat mich beauftragt, das Pferd zu suchen und nun erwartet er von mir, dass ich den Dieb finde. Er meint, es müsse jemand aus dem Tal gewesen sein. Diese Sache kostet sehr viel Zeit, die ich nicht habe.»
Clera liess sich seine Worte nochmals durch den Kopf gehen. Dass das Pferd gestohlen worden war, konnte sie ausschliessen, sonst hätte sie es nicht im Wald angetroffen. Und nun sollte Konstantin einen Dieb suchen, der nicht existierte.
«Dabei liegt mir gar nicht viel an dem Pferd», fuhr er fort, «es hat nur Probleme gemacht, und als mein Vater es verkaufen wollte, wollte es niemand haben.»
«Aber es war doch ein sehr schönes Tier», warf Clera ein.
Konstantin lachte. «Damit ist es aber nicht getan, Clera», erklärte er, «ein Pferd muss nicht nur schön sein, sondern auch zum Arbeiten taugen. Ein Pferd, das sich nicht reiten lässt, will niemand haben, schon gar nicht zu dem Preis, den mein Vater verlangt hat.» Er seufzte. «Mir bleibt nur zu hoffen, dass der Dieb ebenfalls Probleme mit Horazio hat.»
«Horazio», dachte Clera. Den Namen hatte sie noch nie gehört, doch er gefiel ihr. «Hast du ihn so genannt?»
«Nein, das war die Idee meines Vaters. Es ist der Name irgendeines Dichters.»
Als er nicht weitersprach, blickte Clera wieder auf den See hinaus. Plötzlich hatte sie das Gefühl, Konstantin schon lange zu kennen, und etwas sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte. Es gefiel ihr, wie sanft er dem braunen Pferd die Nüstern streichelte.
«Konstantin», sagte sie entschlossen. «Das Pferd ... Horazio ...» Sie suchte nach Worten. «Es ist nicht gestohlen worden. Du brauchst nicht weiter nach einem Dieb zu suchen.» Sie sah das Erstaunen in seinem Gesicht. «Ich ... ich habe ihn hier im Wald gesehen.»
«Was sagst du da?»
«Horazio ist tatsächlich entlaufen», sagte sie mit fester Stimme. «Ich habe ihn hier im Wald gesehen, mehrmals. Es geht ihm gut.»
Konstantin drehte die Reitgerte, die er nicht abgelegt hatte, seit er abgestiegen war, in seinen Händen. «Warum hast du nichts gesagt?»
Clera senkte den Blick und suchte nach einer Erklärung. «Ich wollte nicht, dass er wieder eingefangen wird», sagte sie schliesslich und bereute ihre Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. «Als ich ihn das erste Mal allein antraf, kannte ich dich noch als den unfreundlichen Fremden, der mich aus dem Wald gejagt hat.» Sie biss sich auf die Unterlippe. «Hinzu kommt die Freiheit, die er hier hat ...»
Zu ihrem Erstaunen nickte Konstantin. «Du wolltest ihn vor mir beschützen.»
«Oder vor deinem Vater.»
«Du hast ein gutes Herz, Clera. Aber ...»
Erschrocken schlug Clera die Hände vor den Mund und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. «Du denkst doch jetzt nicht etwa, ich hätte das Pferd gestohlen?»
Konstantin legte ihr eine Hand auf die Schulter und schüttelte beruhigend den Kopf. «Du könntest niemals ein Pferd stehlen, Clera, wie denn auch? Wo würdest du es verstecken wollen?»
Clera liess die Hände sinken und atmete tief durch. «Und du bist mir nicht böse, weil ich dich angelogen habe?»
Konstantin lachte laut und nahm die Hand von ihrer Schulter. «Du hast mich nicht angelogen», sagte er, «du hast mir lediglich etwas verschwiegen. Das kann ich dir nicht übelnehmen, schliesslich war ich bei unserer ersten Begegnung nicht gerade freundlich zu dir. Du hattest allen Grund, mir zu misstrauen.»
Nun musste auch Clera lachen.
«Eigentlich müsste ich dir sogar den Finderlohn zahlen.»
Clera sah ihn verdutzt an. Sie hatte noch nie mehr als ein paar Münzen besessen. Wenn man ihr einmal Geld in die Hand gab, dann nur, damit sie Briefe verschicken oder auf dem Rückweg im kleinen Laden Lebensmittel einkaufen konnte.
«Noch hast du das Pferd aber nicht», gab sie zu bedenken.
Er zwinkerte ihr zu. «Stimmt!»
«Und willst du es immer noch einfangen?»
Er zuckte mit den Schultern und sah an ihr vorbei in den Wald hinein. «Ich muss wohl. Ansonsten wird mein Vater möglicherweise irgendwann die Geduld verlieren und den Jäger aufbieten.»
Clera schnappte nach Luft. «Nein, bitte nicht!»
«Sei beruhigt, ich werde sehen, was ich tun kann.»
«Kannst du nicht behaupten, du wüsstest von nichts?», fragte sie.
Konstantin sah das verschmitzte Lächeln in ihrem Gesicht und erwiderte es. «Das könnte ich in der Tat tun», sagte er. «Und gleichzeitig horche ich meinen Vater aus, was er zu unternehmen gedenkt. Das Pferd hat es bis jetzt geschafft, sich vor uns zu verstecken, warum sollte ihm das in Zukunft nicht auch gelingen?»
Clera fiel ein Stein vom Herzen. Liebend gern hätte sie Konstantin umarmt, doch sie hielt sich zurück. «Danke», sagte sie stattdessen. «Danke, dass du Horazio seine neue Freiheit nicht nimmst.»
Als ihr Blick auf den Stoffbeutel fiel, den sie auf den grossen Stein neben sich gelegt hatte, zuckte sie zusammen. «Ach herrje!», rief sie aus. «Ich muss nach Hause, meine Mutter erwartet mich.» Sie griff nach dem Stoffbeutel.
«Ich begleite dich ein Stück», bot Konstantin an. «Setz dich auf das Pferd.»
Clera sah ihn erstaunt an. «Und du?»
«Ich gehe nebenher.» Ehe sie sichs versehen konnte, sass sie im Sattel, froh, dass ihr Rock weit genug war.
«Wie lautet eigentlich dein Familienname?», fragte Konstantin, der neben dem Braunen herging.
«Catschader», antwortete sie.
«Das klingt nicht, als stamme deine Familie von hier.»
«Wir kommen aus dem Engadin», erklärte Clera, «daher auch mein eher ungewöhnlicher Vorname. Meine Eltern sind mit uns hierhergekommen, als ich noch klein war. Ich habe den grössten Teil meines Lebens hier verbracht und bin nie wieder im Engadin gewesen.»
Konstantin hörte ihr interessiert zu.
«Aber kürzlich habe ich erfahren, dass meine Vorfahren aus Mitholz stammten», fuhr sie fort. «Meine Ururgrossmutter hat als junge Frau hier gelebt ...» Sie brach ab.
«Und sie ist ins Engadin ausgewandert?», fragte Konstantin.
Clera zuckte mit den Schultern. «Ich weiss nicht ... Meine Grossmutter hat mir ein Buch überlassen, in dem sie die Geschichte aufgeschrieben hat. Ich lese sie gerade, aber ich habe noch nicht herausgefunden, wer von meinen Vorfahren ausgewandert ist und warum.»
«Das wirst du herausfinden», sagte Konstantin zuversichtlich. «Und wenn nicht, suchen wir in den Archiven von Mitholz und Kandergrund.»
«Ich kann doch nicht nach Mitholz marschieren und sagen, ich wolle die alten Papiere über meine Ururgrossmutter sehen!»
Konstantin grinste sie an. «Nein, du vermutlich nicht. Aber ich kann das.»
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Inzwischen hatten sie den Waldrand erreicht und Konstantin hielt sein Pferd an. «Hier trennen sich unsere Wege», sagte er und nahm den Hut ab. «Clera, es hat mich sehr gefreut. Ich hoffe, dich bald wieder zu treffen.»
«Ganz meinerseits», erwiderte sie und reichte ihm die Hand.
Er hielt sie einen Moment länger fest als nötig und lächelte sie an. «Es ist ungewohnt, eine so starke Frauenhand zu halten», sagte er und liess sie los. «Die meisten Damen, die mir die Hand reichen, haben zarte, weisse Händchen.»
Clera betrachtete ihre Hände. Sie waren weder zierlich noch weiss, von der Sommersonne waren sie besonders auf dem Handrücken gebräunt.
«Das ist ein Kompliment, Clera», hörte sie Konstantin sagen. «Du kannst mit anpacken, das ist eine gute Eigenschaft.»
Sie erwiderte sein Lächeln. «Danke, Konstantin», flüsterte sie. «Pass gut auf dich auf.»
«Du auch», sagte er, «und auf Horazio.»