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Mitholz, Juli 1803

Über den Bergen tauchten bereits die ersten Sonnenstrahlen auf, als Katharina die Vorhänge zurückzog. Vitus war zu Verwandten gefahren, deshalb hatte sie die letzten fünf Nächte durchschlafen können. Zwar vermisste sie ihn, doch gleichzeitig spürte sie, wie sie sich von den Wochen mit zu wenig Schlaf erholte. Sie tastete nach dem Stein, den sie immer unter den Kleidern trug, damit ihn niemand sehen und Fragen stellen konnte. Vitus hatte versprochen, ihr über seine Rückkehr Bescheid zu sagen, deshalb hielt sie andauernd Ausschau nach einem heimlich beim Haus abgelegten Brief. Sie selbst schrieb ihm nicht, einerseits konnte sie nicht gut schreiben, andererseits wusste sie nicht, wie sie ihm den Brief hätte schicken sollen. Er hingegen kam oft an ihrem Elternhaus vorbei und konnte so leicht einen Brief für sie hinterlegen. Sie brauchte ihn nur zu finden, bevor einer ihrer Brüder oder ihre Eltern ihn entdeckten.

Der heutige Tag versprach sonnig und warm zu werden. Katharina liess den Blick über den Himmel schweifen. Die Sonnenstrahlen blendeten sie, sodass sie die Gestalt, die auf der Strasse auf sie zukam, erst im letzten Moment sah.

«Guten Morgen, Fräulein», grüsste Vitus höflich und zwinkerte ihr zu.

Katharinas Herz machte einen Satz. «Guten Morgen, der Herr», erwiderte sie den Gruss. Sie sah, dass sein Blick an ihr vorbei zum Haus wanderte. Im Augenwinkel erkannte sie, dass im ersten Stock jemand am Fenster stand. Wahrscheinlich Maria.

Vitus war langsamer geworden, blieb jedoch nicht stehen und liess unauffällig ein zusammengefaltetes Stück Papier fallen. «Einen schönen Tag», wünschte er, zwinkerte ihr nochmals zu und ging weiter seines Weges.

Katharina nickte ihm zu, stellte den Eimer mit der Milch, den sie gerade aus dem Stall geholt hatte, direkt neben das Papier und tat, als hätte sie einen Stein im Schuh. Hastig steckte sie den Brief in ihren Strumpf und trug dann den Eimer in die Küche.

Nach dem Frühstück zog sie sich in ihr Zimmer zurück, da sie vor Neugier fast platzte. Maria und ihre Mutter hatten sich mit einer Stickarbeit in die Stube gesetzt und leisteten der Grossmutter Gesellschaft. Auch im hohen Alter nahm sie noch Aufträge von reicheren Leuten aus dem Tal entgegen und strickte oder flickte für sie. Es gab Zeiten, da war die Familie auf dieses zusätzliche Geld angewiesen, dieses Jahr jedoch lief Vaters Laden gut, sodass die Familie nicht jede Münze zweimal umdrehen musste. Dennoch mahnte Grossmutter immer wieder dazu, sparsam zu sein, da man nie wissen konnte, was der nächste Monat bringen würde.

Leise schloss Katharina die Tür und klaubte den Brief aus ihrem Strumpf.

K., Liebes, stand in geschwungenen Buchstaben darauf, ich bin zurück im Tale und sehne mich danach, dich wieder in den Arm nehmen zu können. Heute Abend werde ich am dir bekannten Orte weilen. Kommst du auch, so bin ich glücklich. V.

Katharina las den Brief noch einmal und prägte sich jedes Wort ein. In Gedanken hörte sie seine Stimme, die ihr die Worte vorlas. Die Aussicht, ihn bereits am selben Abend wiederzusehen, erfüllte sie mit grosser Freude.

Wie vermutet, wurde der Tag wolkenlos und sommerlich warm. Katharina liebte den Sommer, dennoch war sie froh, als die Luft gegen Abend abkühlte.

Kurz vor Mitternacht verliess sie das Haus und hörte im Garten und in der Wiese die Grillen zirpen. Als sie den Waldrand erreichte, spürte sie, wie ihr der Schweiss über den Rücken rann. Mühelos fand sie den ausgetretenen Trampelpfad, der direkt zum See führte. Sobald sie die Laterne in der Ferne erkannte, wurde ihr warm ums Herz. In diesem Augenblick hörte sie ein Knacken hinter sich und fuhr herum, doch alles war dunkel und still. Sie fragte sich, warum die Geräusche des Waldes sie bisher nicht erschreckt hatten, es heute aber taten. Ohne weiter darüber nachzudenken, eilte sie auf das Licht zu, das Vitus für sie angezündet hatte.

«Katharina», begrüsste er sie und ging ihr mit offenen Armen entgegen.

«Vitus!» Sie warf sich in seine Arme und liess sich von ihm an sich drücken. «Du hast mir gefehlt!»

«Du mir auch», erwiderte er. «Die Tage in Spiez waren so lang ohne dich und die Nächte ungewohnt einsam.»

Sie nickte. «So ist es mir auch ergangen. Aber der Stein hat mich immer an dich erinnert.»

Er sah sie an. «Du trägst ihn ja gar nicht.»

«Doch, natürlich», lachte sie und zog die Kette unter dem Stoff ihrer Bluse hervor. «Ich verstecke ihn nur, damit niemand ihn sieht und fragt, woher ich ihn habe.»

«Kluges Kind», flüsterte er und drückte sie erneut an sich. «Mich haben die Tage ohne dich gelehrt ...»

Er unterbrach sich, als er ein Rascheln im Wald hörte. Katharina erschrak und drehte sich um. Im Dunkeln leuchtete ein schwaches Licht auf, das sogleich wieder verschwand, und das Rascheln kam in regelmässigen Abständen wie Schritte auf sie zu. Ängstlich drückte sich Katharina an Vitus, der die Arme schützend um sie legte.

«Wer ist da?», rief er mit fester Stimme in die Dunkelheit hinein. Plötzlich flammte das Licht wieder auf, ganz nahe bei ihnen, und Katharina konnte im Licht von Vitus’ Laterne eine dunkle Gestalt erkennen. Sie blieb vor den beiden stehen und streifte langsam die Kapuze ab. Unter dem dunklen Stoff kam das zerfurchte Gesicht einer alten Frau zum Vorschein. Ihre grauen Haare waren zerzaust, ihr langer Mantel voller Flecken und Staub, doch ihre Augen blitzten, als könnte sie jemanden damit aufspiessen.

«Vitus Balthasar», sagte sie mit schneidender Stimme. «Das habe ich mir gedacht.»

Vitus kniff die Augen zusammen und starrte die alte Frau eiskalt an. Sie verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln, das mehrere Zahnlücken sichtbar werden liess. Katharina zitterte und klammerte sich noch mehr an ihren Geliebten.

«Elsa», zischte Vitus plötzlich. «Was wollt Ihr hier?»

Katharina erstarrte. Es erstaunte sie, dass Vitus diese alte, furchteinflössende Frau kannte.

«Nun», begann diese, «ich war von Anfang an überzeugt, dass du Louise hintergehst.»

Sein Blick wurde noch kälter. Katharina konnte förmlich spüren, dass er sich gern auf die Gestalt gestürzt hätte.

«Deine Verlobte, eine rechtschaffene junge Frau, weilt artig in ihrer Stube und bereitet ihre Aussteuer vor, während du dich im dunklen Wald mit einem anderen Weibe triffst», schnatterte die Alte weiter.

Katharina schloss die Augen und schüttelte kurz den Kopf, überzeugt, dass sie sich verhört hatte.

«Ihr werdet es nicht wagen, Louise darüber in Kenntnis zu setzen!», fauchte Vitus, dessen Augen einen Ausdruck angenommen hatten, den Katharina nicht deuten konnte.

«Oh, das werde ich! Sie ist meine Grossnichte, und es gereicht mir zum Schmerz, mitansehen zu müssen, wie du sie hintergehst. Du wirst nicht ungeschoren davonkommen, junger Mann.»

«Alte Hexe!», brüllte Vitus, als sie sich umdrehte, um zurück ins Dorf zu gehen. Er liess Katharina los und stürmte der Alten nach, die sich bereits ein paar Schritte entfernt hatte. «Vor nicht allzu langer Zeit hat man Hexen wie dich noch bei lebendigem Leibe verbrannt!»

Wie gelähmt sah Katharina mit an, wie ihr Geliebter sich auf Elsa stürzte und sie zu Boden riss, während er sie aufs Übelste beschimpfte. Als er die Faust hob, wandte sie sich ab. Die Alte schrie auf, doch Katharina sah nicht noch einmal hin, auch nicht, als sie die Faustschläge hörte. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und hielt sich die Ohren zu.

«Die Alte lügt», murmelte sie und sank auf die Knie, «aber ...» Plötzlich verstummten die Schreie und die Schläge hörten auf. Sie drehte sich um und erkannte im schwachen Licht der Laterne Vitus, der über einen dunklen Haufen gebeugt dastand und sich das Handgelenk rieb. Als hätte er gespürt, dass sie ihn anschaute, sah er zu ihr hinüber.

Ihr Blick wanderte zu der reglosen Gestalt, die zu seinen Füssen lag, dann wieder zu ihm. «Vitus», presste sie hervor, «was ... du hast doch nicht ...» Als er nicht antwortete, erhob sie sich langsam und ging mit zitternden Knien zu ihm hinüber. «Ist sie tot?», fragte sie kaum hörbar, und griff nach seinem Arm.

«Ich weiss nicht», gab er ebenso leise zurück. «Auf jeden Fall müssen wir sie wegschaffen. Tritt zurück.»

Sie liess ihn los und machte zwei Schritte rückwärts. Noch immer durcheinander sah sie zu, wie er die Alte an den Armen packte und über den steinigen Boden zum Felsen schleifte, auf dem die Laterne stand. Sie atmete tief durch und hoffte, ihr rasender Puls würde sich dadurch beruhigen.

«Katharina», hörte sie Vitus rufen. «Komm und hilf mir! Nimm ihre Beine.»

Doch Katharina konnte sich nicht rühren. Sie hörte seine Stimme, aber ihre Füsse gehorchten ihr nicht.

Erst als sie ein Platschen hörte, löste sie sich aus ihrer Erstarrung. Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Sie eilte zu Vitus, der neben der Laterne stand und auf den See hinausblickte. Vor seinen Füssen fiel der Felsen etwas mehr als einen Meter senkrecht ab ins Wasser. Auf der Oberfläche rollten kleine Wellen ringförmig von ihm weg.

«Du hast sie ...», sie brach ab. Tränen rollten über ihre Wangen. «Vitus, du hast sie getötet!»

Vitus packte sie an den Schultern. «Katharina», sagte er mit fester Stimme und sah sie eindringlich an. «Du darfst nie auch nur ein Wort darüber verlieren. Erzähl keinem Menschen davon, hörst du?»

Sie nickte und atmete langsam aus.

Er schien zu spüren, dass sie sich allmählich beruhigte, denn er lockerte den Griff um ihre Oberarme.

«Du kanntest sie, nicht wahr?», fragte sie leise und versuchte, im Wasser etwas zu erkennen.

«Ja», antwortete er, ohne zu zögern. «Sie war Louises Grosstante. Eine alte Hexe, die an allen Fehler sucht. Du hast gehört, was für Lügen sie über mich verbreiten wollte.» Er sah ihr direkt in die Augen.

Katharina nickte. «Es ... ist nichts davon wahr, oder?», fragte sie mit zitternder Stimme.

«Nein, Liebes.» Er legte beide Arme um sie. «Ich habe dir doch bereits erklärt, dass ich nicht mit Louise verlobt bin. Unsere Eltern fänden Gefallen an einer Verbindung, aber ich nicht.» Er streichelte ihr Haar. «Ich will nur dich.»

Wieder begann ihr Herz zu rasen.

«Katharina.» Er machte einen Schritt rückwärts und nahm ihre Hände in seine. «Dieses Geheimnis wird uns für immer verbinden. Kannst du dir vorstellen, mit mir zusammenzuleben?»

Sie hörte zwar, dass sie irgendeinen Laut von sich gab, aber ein Wort brachte sie nicht zustande, daher nickte sie nur.

Er lächelte sie an, um sie zu beruhigen. «Ich verspreche dir», begann er, «sollten meine Eltern eines Tages beschliessen, dass ich Louise heiraten sollte, werde ich ablehnen und sagen, ich sei bereits mit dir verlobt. Und dann gehen wir beide weg von hier, an einen Ort, wo uns niemand kennt.»

Sie war noch immer aufgewühlt, als er sie zum Waldrand begleitete. Zuvor hatten sie mit der Laterne den Boden nach möglichen Spuren abgesucht, Schmuck, den die Hexe verloren hatte, oder Stofffetzen, doch sie hatten nichts gefunden.

«Man wird sie finden», hatte Katharina gesagt. «Und dann kommen wir in die Hölle!» Sie nahm sich vor, ab heute jeden Tag ein zusätzliches Gebet zu sprechen, um die Untat wenigstens ein wenig wiedergutzumachen. Vitus hatte ihr versichert, dass niemand im See nach der Alten suchen würde.

«Aber ... könnten wir uns trotzdem in Zukunft auf der anderen Seite des Sees treffen?», hatte sie ihn gebeten. Er hatte mit den Schultern gezuckt und genickt.

Es war noch stockfinster, als sie den Waldrand erreichten.

«Es wird alles gut», flüsterte Vitus und nahm sie in den Arm. «Bewahre das Geheimnis.»

Sie nickte. Ihre Knie zitterten noch immer.