Genervt warf Clera das letzte Kleidungsstück in den Korb und hob diesen auf. Ihr Blick wanderte zur Laube hinüber, wo Rita schon den ganzen Vormittag im bequemsten Sessel des Hauses sass und stickte. Ihre Haare waren sorgfältig frisiert, als wäre Sonntag. Clera fragte sich, wann sie sich das letzte Mal so aufwendig frisiert hatte. An Weihnachten vielleicht?
Noch immer schlecht gelaunt stellte sie den Korb in der Stube auf den Tisch und begann, die Wäsche zu sortieren. Es erstaunte sie nicht, dass sie mehr Kleidungsstücke von Rita gewaschen hatte als von sich und ihren Brüdern zusammen. Heute war nicht ihr Tag. Bereits am frühen Morgen hatte sie Massimo auf dem Hof herumschleichen sehen, danach waren sie und Peider wegen einer Kleinigkeit aneinandergeraten und zu allem Überfluss hatten Teodor und Rita beim Frühstück verkündet, dass sie länger bleiben würden als ursprünglich geplant. Ihre Hochzeit sollte Anfang November stattfinden, also in einigen Monaten erst, aber Rita sprach von nichts anderem, seit der Termin feststand. Immerhin hatte diese Neuigkeit sie selbst vor einigen Tagen vor Tadel bewahrt, als sie nach ihrem Abstecher zum See und dem Gespräch mit Konstantin zu spät nach Hause gekommen war. Weil an jenem Tag alle mit Rita und Teodor beschäftigt waren, hatte niemand darauf geachtet, dass Clera nicht da war, und dafür war sie Rita dankbar.
Um sich abzulenken, dachte sie an Grossmutters Buch. Diese Wendung in der Geschichte hatte sie nicht erwartet. Vitus war ihr so freundlich und liebevoll erschienen, niemals hätte sie ihm eine solche Tat zugetraut. Nun brannte sie darauf, zu erfahren, wie die Geschichte weiterging, gleichzeitig war sie jedoch froh, nicht in Katharinas Haut zu stecken.
Sie verteilte die Wäsche auf die verschiedenen Schränke und verstaute den Korb, bevor sie in die Küche ging, um das Mittagessen vorzubereiten. Am Morgen hatte sie zusammen mit ihrer Mutter und Rita Brot gebacken, von dem sie nun einen duftenden Laib auf den Tisch stellte.
«Ach, Clera», sagte Barla, als sie kurze Zeit später am Tisch sassen. «Könntest du heute Nachmittag nach Kandergrund laufen, um Faden und Stoff zu kaufen?»
Verwirrt sah Clera ihre Mutter an. «Wozu?»
«Rita möchte sich eine Schürze nähen, aber der Stoff, den ich letzten Winter gekauft habe, ist bereits aufgebraucht.»
Nun wanderte Cleras finsterer Blick zu ihrer zukünftigen Schwägerin. «Bin ich nun ihre Dienstmagd?», fragte sie auf Rätoromanisch und erntete dafür einen missbilligenden Blick von ihrer Mutter.
«Bitte tu es einfach, ja?»
Da es keinen Sinn machte, sich weiter zu wehren, schwieg Clera. Der Laden, den ihre Mutter meinte, lag in Kandergrund, ein Stück weiter talauswärts, was bedeutete, dass sie gezwungenermassen am Wald vorbeikam, in dem sich der See verbarg.
«Vielen Dank für deine Hilfe, Clera», hörte sie Teodor vom anderen Ende des Tisches. «Wir schätzen sehr, was du für uns machst.»
Sie nickte und bemühte sich um einen weniger finsteren Gesichtsausdruck.
«Übrigens», fuhr Teodor fort, «Vater, ich habe Massimo heute über den Hof schleichen sehen.»
«Ja», erwiderte Chasper, «er wird ab nächster Woche wieder für uns arbeiten. Jemand muss ja die Arbeit erledigen, die Clau bisher gemacht hat.» Er griff nach einer weiteren Scheibe Brot.
Clera liess sich gegen die Wand fallen, die gleichzeitig die Lehne der Eckbank hinter dem Tisch bildete. Auf Massimo konnte sie gerade gut verzichten.
«Aber ist das wirklich nötig?», fragte nun Peider. «Wir kommen mit dem Heuen gut voran und ab September sind Bengiamin und Mattiu wieder hier und können mithelfen. Wir könnten uns das Geld sparen ...»
«Das stimmt», sagte Chasper mit vollem Mund. «Aber trotzdem ist es besser, wenn wir einen zusätzlichen Knecht haben.»
Clera verdrehte die Augen. Auch wenn nie jemand mit ihr über das Thema sprach, wusste sie genau, dass sie das Geld für einen Knecht nicht hatten. Zwar würde ihr Vater im Herbst die Kälber vom letzten Winter verkaufen, aber bis dahin konnte er niemanden bezahlen.
Die Sekunden zogen sich dahin, bis sie endlich aufstehen und den Tisch abräumen konnte. Hastig goss sie warmes Wasser ins Abwaschbecken und spülte das Geschirr, während Michel die Teller trockenrieb. Niemand hatte ihn darum gebeten, deshalb schätzte sie es umso mehr.
«Danke», flüsterte sie, als er den letzten Teller im Schrank verstaut hatte, und zog ein Stück Schokolade aus ihrer Rocktasche. Da sich ausser ihnen gerade niemand in der Küche aufhielt, musste sie es ihm nicht heimlich zustecken. Er zwinkerte ihr zu und huschte hinaus.
«Clera!» In diesem Moment betrat Barla die Küche.
Schnell liess Clera die angebrochene Tafel Schokolade verschwinden.
«Bring bitte einen Meter von dem hellblauen Stoff, du weisst schon, von welchem.»
Clera nickte.
«Und frag bitte nach dem passenden Faden dazu, Rita legt grossen Wert darauf. Hier ist das Geld.»
Clera starrte auf die paar Münzen in ihrer Hand. «Reicht das?», fragte sie unsicher, doch Barla hatte sich bereits wieder umgedreht.
«Ja, es wird schon reichen», sagte sie ungehalten, «und sonst sagst du, jemand von uns käme nächste Woche vorbei und bezahle den Rest. Ach, und wenn du zurückkommst, könntest du die Socken stopfen, die ich in der Stube neben den Ofen gelegt habe?» Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Raum und liess ihre Tochter stehen.
Clera seufzte und liess die Münzen in ihre Rocktasche gleiten. Sie wusste noch von ihrem letzten Einkauf, dass das Geld nicht reichte, und sie hasste es, die Verkäuferin um Nachsicht zu bitten. Andererseits hätte sie dann nächste Woche abermals einen Vorwand, um nach Kandergrund zu gehen ...
«Hier, damit sollte es reichen», hörte sie plötzlich ein Flüstern hinter sich. Sie hatte nicht bemerkt, dass Rita die Küche betreten hatte und ihr ein paar Münzen hinstreckte. «Ich kann mir vorstellen, dass es furchtbar ist, wenn man an der Kasse steht und nicht genug Geld bei sich hat», flüsterte sie und drückte Clera das Geld in die Hand, als diese sich nicht rührte.
«Danke», murmelte sie. Bevor sie noch etwas sagen konnte, war Rita bereits wieder zurück in die Stube gehuscht.
Der Schweiss rann ihr aus allen Poren, als sie den Weg erreichte, der zum See führte. Sie beschloss jedoch, gleich weiter nach Kandergrund zu laufen und erst auf dem Heimweg nach Horazio zu suchen.
Bevor sie den Laden betrat, strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Alma, die Verkäuferin, redete gerne, was Clera gerade sehr ungelegen kam. Heute konnte sie ihr jedoch glaubhaft erklären, dass sie in Eile sei, weil ihre Schwägerin den Stoff brauche.
«Clera, schön dich zu sehen!», rief Alma, als Clera den Laden betrat. «Was kann ich für dich tun?»
Clera nannte ihr die Wünsche ihrer Mutter. In dem perfekt aufgeräumten Laden musste Alma nicht lange nach dem blauen Stoff suchen. Mit geschickten Händen rollte sie ihn aus und schnitt einen Meter ab. «Bist du in Eile?», fragte sie, als sie zur Kasse ging und den Stoff im Gehen zusammenfaltete.
«Ja», antwortete Clera, «meine zukünftige Schwägerin braucht den Stoff ...»
«Oh, deine zukünftige Schwägerin? Welcher von deinen Brüdern ...?»
«Teodor», unterbrach sie die redselige Verkäuferin. «Was bin ich Euch schuldig?»
«Soll ich es anschreiben?», fragte Alma und nannte den Preis.
Clera fragte sich, ob sie das aus reiner Freundlichkeit sagte, weil sie bei ihrem letzten Einkauf nicht hatte bezahlen können, oder ob sie sich über sie lustig machte.
«Nein, ich bezahle jetzt», sagte sie entschieden und legte alle Münzen auf den Verkaufstisch.
Alma zählte den Betrag ab und schob Clera drei Münzen wieder hin. «Danke, mein Kind», sagte sie dann, «bis zum nächsten Mal.»
Clera bedankte sich ebenfalls, legte den Stoff und den Faden in ihren Beutel, liess das Geld wieder in ihre Tasche fallen und verliess den Laden.
Horazio stand zwischen den Bäumen am See, als Clera ankam. Konstantin war wohl nicht in der Gegend, dass das Pferd sich an den See wagte.
«Salü, mein Schöner», begrüsste sie ihren vierbeinigen Freund. «Wir haben uns lange nicht gesehen.» Das Pferd rieb den Kopf an ihrer Schulter. Sein Fell war über und über mit eingetrocknetem Schmutz überzogen, doch das kümmerte Clera nicht. In diesem Moment war die Welt für sie in Ordnung. Es gab keine Rita, die sie für ihre Dienstmagd hielt, und keinen Massimo, der sie anzüglich angrinste und bei jeder Gelegenheit irgendeinen unangebrachten Kommentar von sich gab. Eigentlich musste sie sich eingestehen, dass es nicht Rita war, die sie für ihre Dienstmagd hielt, sondern ihre Mutter, die sie dazu machte.
Leise erzählte sie Horazio ihre Gedanken. «Konstantin hat mich auf seinem anderen Pferd reiten lassen», flüsterte sie ihm ins Ohr. «Meinst du, ich könnte auch auf dir reiten?» Sie dachte daran, wie unruhig Horazio bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Das Bild, das sie von ihm im Kopf hatte, passte überhaupt nicht zu dem ruhigen Pferd, das jetzt neben ihr stand.
«Soll ich es versuchen?» Vorsichtig liess sie ihre Hand über seinen Rücken gleiten. Als er darauf nicht reagierte, stieg sie auf den liegenden Baumstamm neben sich und stützte beide Hände auf den Pferderücken.
«Gutes Pferd», flüsterte sie und hielt sich an der Mähne fest. Selbst als sie auf seinem Rücken sass, stand er noch still, sodass sie Mut fasste.
«Gut so», freute sie sich und trieb ihn sanft an. In diesem Augenblick warf Horazio den Kopf hoch und machte zwei schnelle Schritte nach vorn. Erschrocken klammerte Clera sich an seine Mähne. Als er sich wieder beruhigt hatte, bemerkte sie, dass sie fast auf seinem Mähnenkamm lag, und richtete sich wieder auf. Leise begann sie das Lied zu singen, das sie oft sang, wenn sie durch den Wald ging. Horazio kannte es und brachte es hoffentlich mit guten Erinnerungen in Verbindung.
Ihr Plan ging auf, das Pferd gehorchte ihr und schritt nun artig vorwärts. Mit jedem Schritt fühlte sie sich sicherer. Da sie und Vrena oft ohne Zaumzeug und Sattel geritten waren, verstand sie es gut, das Pferd mit den Beinen und dem Verlagern ihres Gewichts zu lenken. Horazio gehorchte ihr und trug sie durch den Wald bergwärts. Es dauerte nicht lange, bis sie die Felsen erreichten, bis zu denen sie dem Pferd kürzlich gefolgt war. Es sah noch alles genauso aus wie damals. Wahrscheinlich verirrte sich nie ein Mensch hierher. Die Felsen und das Blätterdach, durch das die Sonnenstrahlen fielen, hätte sie noch stundenlang bestaunen können, doch sie wusste, dass ihre Mutter auf den Stoff wartete – nicht, weil die Schürze dringend fertig werden musste, sondern weil es Rita war, die ihn brauchte.
«Ich muss zurück», flüsterte sie Horazio zu und bedeutete ihm umzukehren.
Der Rückweg bis zum Waldrand erschien ihr viel kürzer als erwartet. Bevor sie den Weg erreichte, auf dem sie jeweils den Wald verliess, glitt sie von Horazios Rücken, gab ihm einen Kuss auf die Nüstern und verabschiedete sich. «Mach’s gut, ich komme bald wieder. Lass dich nicht erwischen!»
Als Clera den Hof erreichte, unbemerkt durch die Hintertür ins Haus schlich und einen Blick auf die grosse Wanduhr warf, wusste sie, dass sie zu lange weggewesen war. Da sich gerade niemand in der Stube aufhielt, legte sie den Stoff und den Faden für Rita sowie die überzähligen Münzen auf den Tisch und räumte ihren Stoffbeutel weg, bevor sie die Tür zum Hof einen Spalt öffnete. Niemand war zu sehen, sodass sie ungesehen hinüber zum Hühnerstall huschen konnte, den sie heute noch nicht gemistet hatte. Hastig begrüsste sie jedes einzelne Huhn und kratzte den Mist zusammen. Als sie auf dem Weg zum Misthaufen um die Hausecke bog, stiess sie beinahe mit ihrer Mutter zusammen.
«Clera», rief diese, «du bist zurück, sehr gut.»
«Ja, der Stoff liegt drinnen auf dem Tisch.»
Erleichtert stellte sie fest, dass im Blick ihrer Mutter nichts Argwöhnisches lag. Anscheinend war sie im Wald gewesen, im Korb, den sie über dem Arm trug, konnte Clera ein paar Pilze und Kräuter sowie ein grosses Glas mit Beeren sehen. Sie seufzte. Früher waren sie oft am Nachmittag alle zusammen in den Wald gegangen, um Beeren zu pflücken. Das waren schöne Familienausflüge gewesen, die obendrein dazu geführt hatten, dass sie später Konfitüre im Haus hatten. Sie ging die letzten Schritte zum Misthaufen und leerte den Eimer aus, ihre Gedanken wanderten aber bereits zu den nächsten Arbeiten, die sie zu erledigen hatte. Heute musste alles ein bisschen schneller gehen, um die Zeit aufzuholen, die sie bei Horazio verloren hatte. Zwar bereute sie es nicht, das Pferd besucht zu haben, aber ihre Familie sollte glauben, sie sei früher zurückgekommen und habe ihre Arbeiten erledigt. Zur Not würde sie behaupten, Alma habe sie in ein Gespräch verwickelt.
Die Sonne berührte gerade den Grat der Berge auf der anderen Talseite, als Clera zum Haus zurückging. Sie hatte alles erledigt, nun würde sie sich um das Abendessen kümmern, doch als sie das Panorama sah, das sich ihr bot, blieb sie kurz stehen und schaute in die Ferne. Der Wald um den See herum lag bereits im Schatten, ein angenehm lauer Wind zog über die Wiesen und das Sonnenlicht zeigte schon den ersten rötlichen Stich. Clera schloss die Augen und atmete tief durch. Die Luft roch nach Heu, nach Sommer.
«Clera, die Arbeit macht sich nicht von allein!» Der Lieblingsspruch ihrer Mutter. Barla hatte das kleine Küchenfenster gerade so weit geöffnet, dass sie hinausrufen konnte. Seufzend riss Clera sich von der Aussicht los und lief ins Haus. In der Eile liess sie ihre Schuhe achtlos in die Ecke fallen, anstatt sie ordentlich ins Regal zu stellen, schlüpfte in ihre Pantoffeln und rannte in die Küche.
«Das Abendessen kocht sich nicht von selbst», tadelte ihre Mutter sie, ohne sich umzudrehen. Sie stand am Herd und legte Holz nach.
«Ich weiss», erwiderte Clera, «entschuldige, Mutter.»
«Ich habe neben dem Kochen noch viel anderes zu tun», fuhr Barla fort.
«Ich auch», dachte Clera. Ihr fielen spontan ein Dutzend Dinge ein, die sie lieber machte als Kochen.
«Warst du bei den Hühnern?»
«Ja», antwortete Clera tonlos, während sie Wasser aus dem Eimer in den Krug schöpfte.
«Hast du die Konfitüre eingekocht?»
«Ja.»
«Hast du die Gläser angeschrieben?»
«Ja.»
«Und hast du die Socken geflickt?»
Clera erstarrte. Die Socken hatte sie vergessen. In diesem Moment verschüttete sie einen Teil des Wassers, das sie soeben in den Krug gegossen hatte. «Ach herrje!», rief sie aus und griff nach einem Lappen, während sie panisch nach einer Ausrede suchte.
«Clera, die Socken», wiederholte Barla und sah ihr zu, wie sie das Wasser aufwischte. «Du warst fast den ganzen Nachmittag hier und hast es nicht geschafft, die Socken zu flicken, worum ich dich gebeten hatte?» Die Stimme ihrer Mutter wurde immer lauter. «Wann bist du zurückgekommen?»
Clera holte Luft, um etwas zu sagen, doch in dem Augenblick wandte ihre Mutter sich von ihr ab.
«Barla, ich unterbreche Euch nur ungern», hörte sie eine sanfte Stimme von der Tür her. «Ich hörte gerade, dass Ihr Clera nach den Socken fragtet, meintet Ihr diese hier?»
Langsam wandte Clera sich um und sah Rita an, die im Türrahmen stand und den Korb hochhielt, in dem Barla die Socken bereitgelegt hatte. «Der Korb stand auf der Ofenbank, vielleicht habt Ihr ihn nicht gesehen», fuhr Rita fort, betrat den Raum und stellte den Korb auf den Küchentisch.
Wortlos griff Barla nach dem obersten Sockenpaar und betrachtete es. «Sehr schön», sagte sie schliesslich. «Tut mir leid, Clera, ich dachte, du hättest getrödelt.»
Cleras Blick wanderte zu Rita, die ihr aufmunternd zulächelte.
«Danke», flüsterte Clera, als ihre Mutter durch die Tür verschwunden war.
«Kein Problem», sagte Rita ebenso leise. «Du hast schliesslich den Stoff für mich geholt.»
Clera erwiderte ihr Lächeln. «Du hast mir gerade das Leben gerettet.»
Rita sah sie verschwörerisch an. «Ich habe dich gehört, als du zurückgekommen bist. Du warst lange unterwegs, hattest du Probleme?»
«Nein», antwortete Clera, «mit dem Stoff hat alles geklappt. Ich habe einen ... Umweg gemacht.»
Rita sah sie mit grossen Augen an. «Hast du einen Mann getroffen?» Ihre Augen blitzten auf, sodass Clera beinahe lachen musste.
«Nein. Ein Pferd.»
Ritas Miene verwandelte sich in ein fragendes Gesicht.
«Es ist seinem Besitzer entlaufen und lebt nun da unten im Wald. Kennst du den kleinen See?»
Rita schüttelte den Kopf.
«In besagtem Wald liegt ein kleiner See, der blauer ist als alle anderen Bergseen. Wenn die Sonne scheint, glitzert die Oberfläche wie tausend Bergkristalle. Es ist der schönste Ort auf Erden, und da wollte ich hin.»
«Aber wieso darf niemand davon erfahren?»
«Weil ... weil meine Familie genau dasselbe denken würde wie du», erwiderte Clera. «Dass ich einen Mann getroffen hätte. Ausserdem gibt es hier genug Arbeit, die erledigt werden muss, und du hast ja selbst gehört, wie wenig meine Mutter Trödeln leiden kann.»
Rita nickte. «Meine Güte, und dann komme auch noch ich hierher und helfe kein bisschen. Du musst dich furchtbar ausgenutzt fühlen.»
Clera zögerte einen Moment, ob sie ihr sagen sollte, wie recht sie mit diesen Worten hatte, doch sie schwieg.
«Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen.»
Dieses Angebot verblüffte Clera.
«Ich halte dir den Rücken frei, falls du einmal deinen vierbeinigen Freund besuchen willst.» Rita zwinkerte ihr zu.
In diesem Augenblick kehrte Barla zurück und Clera huschte zum Herd. Vermutlich war es Ritas Anwesenheit zu verdanken, dass sie nichts sagte, doch Clera spürte ihren kalten, tadelnden Blick im Nacken, als sie den Kessel aufsetzte.
«Teodor», sagte Clera überrascht, als sie am nächsten Tag frühmorgens auf die Laube trat. «Du bist schon wach?»
«Morgen, Clera», begrüsste er seine kleine Schwester. «Ja, der Hahn hat mich geweckt. In Thun höre ich nie einen Hahn, aber ich erwache immer noch, wenn morgens einer kräht. Ausserdem war Mutter auch schon auf den Beinen. Sie ist früh aufgebrochen, um im Wald Pilze und Beeren zu suchen. Morgens ist es noch nicht so heiss.» Er liess den Blick über das Tal schweifen. «Der Morgen ist die schönste Tageszeit, findest du nicht auch?»
Clera nickte.
«Und ich geniesse es sehr, wieder hier zu sein.»
«Wirst du diese Aussicht vermissen, wenn du in Mitholz wohnst?», fragte sie.
«Oh ja. Aber es ist besser als in der Stadt. Dort habe ich von meinem Zimmer aus immer nur die Wand des Nachbarhauses gesehen.» Er blickte auf den Korb in ihrer Hand. «Brauchst du Hilfe?»
«Nein», wehrte sie lachend ab. «Danke. Die Eier einzusammeln ist keine schwere Arbeit. Bis nachher.» Damit drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zum Hühnerstall. Floc kam ihr schwanzwedelnd entgegen.
«Kommst du mit?», fragte sie den Hofhund, der ihr artig zum Hühnerstall folgte. Als sie das Türchen kurz darauf hinter sich schloss, lief er neben ihr her zur Scheune, in der sein Napf stand. «Floc, Michel füttert dich morgens, nicht ich», sagte sie zu ihm und streichelte seinen Kopf. «Na, schön. Ich hole dir etwas.»
Sie fragte sich, warum das Scheunentor offen stand, vermutete aber, dass einer ihrer Brüder oder ihr Vater bereits da war, und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, als sie eintrat, um in der Ecke Flocs Napf zu holen. Sie hatte sich kaum mehr als drei Schritte vom Tor entfernt, als sie zusammenzuckte. Sie hätte nicht gedacht, dass Massimo sich so früh am Morgen bereits auf dem Hof herumtrieb. Schnell ging sie an ihm vorbei zu Flocs Napf, hob ihn auf und lief zurück zum Tor, als Massimo ihr etwas zurief. Sie verstand die Worte nicht, hörte aber an der Satzmelodie, dass es nichts Nettes war.
«Lass mich in Ruhe!», brüllte sie ihn an und rannte zum Tor, doch er war mit wenigen Schritten bei ihr und packte sie am Unterarm. Sie schrie auf und schlug auf den kleinen Italiener ein und zuckte zusammen, als er ihr ins Gesicht schlug. Flocs Napf fiel scheppernd zu Boden. Im Augenwinkel sah Clera den Hund herbeistürmen und an Massimo hochspringen. Sie trat nach ihrem Angreifer und bereute es, dass sie nicht die schweren Bergschuhe angezogen hatte. Abermals trat sie nach ihm und fühlte sich plötzlich wie gelähmt, als sie seine Hand an ihrem Hals spürte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sie von Panik ergriffen. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie ohnmächtig zu Boden sank, und was er dann tun würde. Nein, so weit wollte sie es nicht kommen lassen. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, schlug sie ihre Fingernägel in seinen Hals, bis sich sein Griff um ihren Hals lockerte. Panisch befreite sie sich und rannte ins Freie. Floc folgte ihr. Als sie ihren Vater erblickte, blieb sie verständnislos stehen. Er stand nur wenige Meter entfernt, lehnte an der Wand und blickte auf die halboffene Tür.
Wutentbrannt eilte sie auf ihn zu. «Hast du das mitbekommen?» Sie spürte, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Chasper hob abwehrend die Hände. «Ich war nicht dabei, ich weiss von nichts.»
«Du hast mich schreien gehört und hieltest es nicht einmal für notwendig nachzusehen, was los ist?», schrie sie ihn an und deutete auf die blutigen Kratzer an ihren Armen. Als er nichts sagte, rannte sie an ihm vorbei ins Haus, um das Blut abzuwaschen und die Wunden zu verbinden. Bei der Haustür stiess sie beinahe mit Rita zusammen, eilte aber wortlos an ihr vorbei. Tränen rollten über ihre Wangen, als sie die Kratzer verarztete.
«Clera, was ist geschehen?», hörte sie plötzlich Ritas Stimme hinter sich.
«Massimo, der Knecht, hat mich angegriffen», brach es aus ihr heraus. «Er hat mich blutig gekratzt, geschlagen und gewürgt.» Durch einen Tränenschleier hindurch sah sie Ritas entsetztes Gesicht.
«Das ist nicht wahr!», rief diese aus und legte die Arme um ihre zukünftige Schwägerin. «Ich sage deinem Vater Bescheid.»
Clera schüttelte heftig den Kopf. «Der weiss bereits davon», schluchzte sie, «und es kümmert ihn nicht!» In wenigen Worten und von vielen Schluchzern unterbrochen erzählte sie Rita, was geschehen war.
«Das ist doch nicht möglich», sagte diese verständnislos. «So etwas kann er doch nicht machen!»
«Du hast recht», sagte Clera und löste sich aus ihrer Umarmung. Als sie gefolgt von Rita aus dem Haus trat, sah sie, dass ihr Vater gerade die Scheune verliess. Entschlossen trat sie ihm entgegen. «Und was gedenkst du jetzt zu unternehmen?», rief sie und verschränkte die Arme. Wie erwartet erhielt sie darauf keine Antwort.
«Schau, Clera», begann er, «ich habe jetzt mit Massimo gesprochen ...»
«Natürlich», unterbrach sie ihn. «Du kümmerst dich zuerst um Massimo.»
«Ja, nun habe ich seine Version der Geschichte gehört, jetzt höre ich mir deine an.»
Clera spürte die Wut, die in ihr kochte. Dank ihr waren die Tränen versiegt, und sie konnte ihrem Vater lautstark erzählen, was ihr widerfahren war. Als er jedoch wieder zu sprechen begann, fragte sie sich, ob er ihr überhaupt zugehört hatte. Sie unterbrach ihn, als er anfing, von Dingen zu sprechen, die Jahre zurücklagen und nichts mit dem Problem zu tun hatten.
«Schau, Clera», begann er noch einmal, «es ist unglaublich schwer, einen solchen Hof zu führen.»
Clera verdrehte die Augen.
«Und wenn meine Kinder nicht mit meinem Knecht zusammenarbeiten können, dann muss wohl jemand von beiden gehen.» Er hob die Schultern, als sei er völlig machtlos.
Sie zog eine Augenbraue hoch. «Na, wer wohl?»
Doch ihr Vater redete unbeirrt weiter und erzählte etwas von Geld, was sie nicht nachvollziehen konnte.
«Das hat nichts mit der Sache zu tun!», rief sie ihm in Erinnerung.
«Unterbrich mich nicht!», gab er zurück und erzählte weiter von seinen Geschwistern und Barlas Eltern, mit denen er selten Umgang gepflegt hatte, weil er sie für minderwertig hielt.
Clera hatte allerdings nie erfahren, warum. «Das hat nichts mit der Sache zu tun!», wiederholte sie, diesmal etwas lauter. Als sie sah, dass Massimo sich näherte, wich sie einen Schritt zurück und vergewisserte sich, dass Rita noch hinter ihr stand.
«Nun, Massimo», wandte ihr Vater sich an den Knecht. Clera wurde beinahe übel, als sie in die Fratze des kleinen Italieners schaute. Solchen Hochmut hatte sie noch nie gesehen. «Was ist geschehen?»
«Ich war in der Scheune, und Chiara hat ...»
«Ich heisse Clera, du verdammter Tschingg!», brüllte sie ihn an.
«Ja, entschuldige», sagte Massimo und hob abwehrend die Hände. «Sie hat mich angeschrien.»
«Weil du mir Schimpfwörter nachgerufen hast!», gab sie zurück und hob trotzig das Kinn. «Und ich habe nur gesagt, er solle die Klappe halten.»
«Das ist nicht wahr, ich habe nur guten Morgen gesagt.»
«Lüg mich nicht an!», schrie Clera. Den italienischen Ausdruck für «Guten Morgen» kannte sie. «Dann übersetze doch, was du gesagt hast!»
Massimo druckste ein wenig herum und begann dann, von etwas anderem zu sprechen.
«Siehst du?», wandte sich Clera an ihren Vater. «Er kann es nicht einmal übersetzen, weil er genau weiss, dass es unangebracht war!»
«Ich wollte dich doch nur provozieren!», rechtfertigte sich der Knecht.
Clera schnitt eine Grimasse. «Wie bitte?»
«Damit du mit mir redest!»
Auf die Grimasse folgte ein Würgegeräusch. «Ich rede mit niemandem, der meine Pflanzen wegwirft, mir Schimpfwörter nachruft und meinen Hund mit der Mistgabel aufzuspiessen versucht!»
«Clera, jetzt gehst du zu weit», mischte sich Chasper ein.
«Nein, das tue ich nicht!», rief sie. «Das alles hat er getan!»
«Das höre ich zum ersten Mal», meinte Chasper.
«Lügner! Ich habe es dir erzählt, Mutter hat er dir erzählt, aber dich hat es nicht gekümmert! Hauptsache, dein Knecht, den du heiliggesprochen hast, hat nichts falsch gemacht!»
Massimo wischte sich eine Träne aus dem Auge.
«Ach, und jetzt spielt er auch noch das Opfer!»
«Ja, schau, du hast mir wehgetan ...» Er deutete auf die Kratzer an seinem Hals und sein Schienbein, das in einer schmutzigen, zerrissenen Hose steckte.
«Oh, du Armer!», sagte Rita mit ironischem Unterton.
«Ich kann den nicht mehr sehen, da muss sich ja jeder vernünftige Mensch übergeben!» Clera drehte sich um und warf Rita einen dankbaren Blick zu. «Mit dir kann man nicht reden!», rief sie ihrem Vater zu und rannte zum Haus. Rita folgte ihr und schloss die Tür. In der Küche liess sie sich auf einen Stuhl fallen.
«Das glaube ich nicht», sagte Rita. Sie war kreideweiss geworden, während Cleras Kopf vor Wut noch immer glühte.
«Ich muss hier weg», flüsterte Clera und begann erneut zu schluchzen.
«Teodor!», hörte sie Rita durchs Haus rufen, bevor diese sich neben sie setzte und ihr den Arm um die Schulter legte. Es dauerte nicht lange, bis Teodor in die Küche gestürzt kam.
«Was ist passiert?», fragte er ausser sich, als er seine Schwester und seine Verlobte am Tisch kauern sah.
«Euer Knecht hat Clera angegriffen», antwortete Rita.
«Das ist nicht dein Ernst!», empörte sich Teodor.
Clera nickte und erzählte ihm unter Tränen, was geschehen war, und dass ihr Vater nicht hinter ihr stand, sondern lieber seinen Knecht verteidigte.
«Ich hätte ihn mit der Mistgabel über alle Bergwiesen davongejagt», knurrte Teodor.
«Jeder hätte das getan», pflichtete Rita ihm bei und strich Clera mit der Hand über den Rücken.
«Er hat gar nichts unternommen?», hakte Teodor nach.
Clera schüttelte den Kopf. «Nicht einmal getadelt hat er ihn.»
«Das lasse ich mir aber nicht gefallen», murmelte Teodor und eilte zur Tür.
«Was hast du vor?», rief Rita ihm nach.
«Ich werde diesem Nichtsnutz eine Lektion erteilen!»
Bevor Rita und Clera irgendetwas einwenden konnten, war er bereits draussen. Sie hörten die Haustür ins Schloss fallen und sahen sich mit grossen Augen an. Zeitgleich sprangen sie auf und eilten zum Fenster. Von draussen hörten sie Teodors aufgebrachte Stimme und Flocs Gebell, dazwischen ein Wort des Italieners und Faustschläge. Clera drückte das Gesicht an die Scheibe, um etwas sehen zu können, doch Massimo war unter Teodors Schlägen bereits zu weit hinter das Haus getaumelt.
«Komm», sagte Rita nach einer Weile und legte Clera die Hand auf die Schulter. «Ich koche dir einen Tee. Hast du schon gefrühstückt?»
Clera schüttelte den Kopf und liess sich zurück in die Küche führen. Erschöpft liess sie sich auf die Eckbank fallen, während Rita ihr Brot, Milch und einen Kräutertee brachte. Erst jetzt fiel ihr der grosse blaue Fleck auf ihrem Knie auf. Sie musste ihn mit dem Knie getroffen haben. Als Rita bemerkte, dass sie auf den Bluterguss starrte, brachte sie ihr einen kalten, nassen Lappen. «Hoffentlich hat er auch so einen Fleck davongetragen.»
«Danke», sagte Clera. Während sie an ihrem Tee nippte, beobachtete sie Rita, die nach dem Feuer sah und frisches Wasser in den Kessel über den Flammen goss. Sie hatte einiges dazugelernt, Clera sah in ihr nicht mehr das Stadtmädchen.
Einige Minuten sprach keine ein Wort, dann hörten sie die Haustür. Clera sprang auf, als Teodor die Küche betrat. Er hielt sein rechtes Handgelenk und bewegte die Faust im Kreis.
«Hast du dich verletzt?», rief Clera erschrocken, doch ihr Bruder schüttelte den Kopf, bevor er sich auf einen Stuhl sinken liess. Sein Atem beruhigte sich langsam und er lächelte Clera zufrieden an. «Ich habe es ihm gegeben», sagte er triumphierend. «Er ist unter meinen Faustschlägen regelrecht zu Boden gegangen und hat mindestens zwei blaue Augen und eine Platzwunde am Kopf davongetragen.»
«Und die Kratzer an seinem Hals, die Clera ihm zugefügt hat», fügte Rita hinzu und stellte auch Teodor eine Tasse Tee hin. Über ihr Gesicht huschte ein schelmisches Grinsen.
«Geschieht ihm recht.» Clera brachte ein schwaches Lächeln zustande.
«Ruh dich aus», sagte Teodor zu ihr, als sie aufstehen wollte. «Ich kümmere mich um die Arbeit, die du erledigen müsstest. Am besten bleibst du im Haus, hier kann Massimo dir nichts tun. Rita, du kümmerst dich um sie.»
«Natürlich.»
«Und geh nicht allein nach draussen», wies er sie an, bevor er die Küche verliess. «Es ist nicht nötig, dass du dich nochmals in Gefahr begibst.»
Clera nickte. «Danke!»
Selbst als sie wenig später auf ihrem eigenen Bett lag und zur Decke starrte, spürte sie, dass sie immer noch zitterte. Ihre Gedanken kreisten um das Geschehene und sie bereute es, dass sie nicht heftiger zurückgeschlagen hatte. Hätte sie doch mehr auf seine Nase gezielt ...
Von Zeit zu Zeit betrat Rita ihre Stube und erkundigte sich nach ihrem Befinden und ob sie ihr etwas bringen könne. Dazwischen versuchte Clera sich von ihrem Grübeln abzulenken. Sie dachte an Horazio, an Konstantin, an ihre Grossmutter, an Katharina, doch die schlechten Erinnerungen kehrten immer wieder zurück.
Schliesslich griff sie nach Grossmutters Buch und sagte sich, es spiele keine Rolle mehr, ob jemand das Buch sehe. Mit dem Finger suchte sie nach dem Buchzeichen und schlug die letzte Seite auf, die sie gelesen hatte.