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Mitholz, Juli 1803

Es überraschte Katharina nicht, dass Vitus auch an diesem Sonntag in der Kirche wieder neben Louise Platz nahm. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf geflochten und diesen hochgesteckt, eine Frisur, die Katharina sehr gut gefallen hätte, wenn sie sie nicht an Louise gesehen hätte. Das Mädchen lachte, als wäre es ihr Hochzeitstag. Katharina missfiel besonders die Art, wie sie Vitus anstrahlte.

Am Vorabend, als sie eng umschlungen mit ihm auf der Decke am Seeufer gelegen und die Sterne betrachtet hatte, hatte er sie an sein Versprechen erinnert und wiederholt, dass er sich nicht mit Louise verloben würde.

Sie suchte ihn mit den Augen, als sie mit Maria draussen vor der Kirche stand und auf ihre Eltern wartete. Als sie ihn erblickte, wünschte sie sich, sie hätte nicht nach ihm Ausschau gehalten. Louise hatte sich bei ihm eingehakt und strahlte noch immer über das ganze Gesicht. Katharina vermutete, dass sie etwas älter war als sie, und weil sie die Tochter des Lehrers war, war sie für Vitus natürlich eine bessere Partie. Als die beiden sich ausgerechnet das Paar, das neben ihr und Maria stand, als Gesprächspartner aussuchten, zupfte sie ihre Schwester am Ärmel und entfernte sich ein Stück. Maria verstand nicht, was ihre Schwester wollte, folgte ihr aber kommentarlos, als sie über den Vorplatz hinüber zu Frau Künzi ging, die zusammen mit ihrem Mann die Menschenmenge beobachtete.

«Guten Morgen, meine Lieben», begrüsste sie die beiden. Katharina und Maria grüssten höflich zuerst Frau Künzi und dann ihren Mann.

«Ein wundervoller Morgen, nicht wahr?», schwärmte Frau Künzi. «Das Lüftchen sorgt für eine angenehme Frische.»

Katharina stimmte ihr zu und wollte etwas erwidern, wurde jedoch von Herrn Künzi unterbrochen.

«Der Himmel hat beinahe dieselbe Farbe wie der Stein, den du um den Hals trägst», sagte er und blickte auf ihre Kette. «Ein wunderschönes Schmuckstück.»

Katharina zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass der Stein herausgerutscht war. Trotzdem widerstand sie dem Wunsch, die Kette hinter der Knopfleiste ihrer Bluse verschwinden zu lassen, um nicht aufzufallen. Stattdessen lächelte sie und berührte die Kette nur leicht mit dem Finger.

«Oh, da ist der junge Balthasar», sagte Herr Künzi in diesem Augenblick. «Ich habe ihm noch nicht zur Verlobung gratuliert. Ihr entschuldigt mich?» Er nickte den beiden zu, lächelte seine Frau an und ging zu ihm hinüber.

Die Worte waren für Katharina wie ein Schlag ins Gesicht.

Maria drehte sich um, um zu sehen, wem Herr Künzi gratulieren wollte. «Ach, das ist dieser gutaussehende junge Mann von neulich», flüsterte sie ihrer Schwester zu, doch Katharina konnte nicht mehr klar denken. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er hatte also doch gelogen. Dass Frau Künzi sie etwas gefragt hatte, bemerkte sie erst, als diese ihr die Hand auf den Arm legte. «Geht es dir gut?»

In Windeseile überlegte sie sich eine Ausrede. «Entschuldigt», sagte sie und atmete tief durch. «Ich habe gerade nicht mitbekommen, was Ihr gesagt habt. Mir ist schwindlig geworden, vielleicht sollte ich mich kurz setzen.»

«Das kommt öfter vor», beruhigte Maria die besorgte ältere Dame. «Meist geht es ihr innerhalb von wenigen Augenblicken wieder gut.»

Frau Künzi nickte und lächelte den beiden zu, als sie hinüber zu der Bank gingen, die vor der Kirche stand. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Katharina froh über die gelegentlich auftretenden Schwindelanfälle. Sie bemühte sich um ein Lächeln, als Frau Künzi sich neben sie setzte.

«Ich fühle mich schon besser», sagte sie und versuchte, überzeugend zu klingen. Als wäre nichts gewesen, liess sie den Blick über die Menge schweifen. «Ich wusste nicht, dass der junge Balthasar sich verlobt hat», sagte sie scheinbar beiläufig. «Dann wird wohl bald eine Hochzeit stattfinden?»

Jede Hochzeit im Dorf war ein Grossereignis, auch für sie und Maria, die bei einem solchen Fest gerne zur Kirche gingen, um einen Blick auf die Braut und vor allem ihre Frisur und die Tracht zu werfen, die sie an ihrem grossen Tag trug.

Marias Augen blitzten auf. «Endlich wieder eine Hochzeit!», freute sie sich. «Die letzte liegt schon so lange zurück ...»

Auch über Frau Künzis Gesicht huschte ein Lächeln. Sie freute sich mit jedem, der sich freute, doch Katharina spürte einen Kloss im Hals. Zwar bemühte sie sich, zu lächeln, damit niemand Verdacht schöpfte, doch am liebsten hätte sie geschrien. Die einzige Hoffnung, die ihr blieb, war das bevorstehende Treffen mit Vitus. Er würde ihr alles erklären, es musste sich um einen Irrtum handeln, schliesslich hatte er ihr versichert, dass er nur sie liebte. Heute Abend würde sie ihn fragen, und dann müsste er etwas unternehmen. Zurzeit glaubten alle, er würde Louise heiraten, und das würde er richtigstellen müssen.

Wenn sie an den See dachte, fiel ihr immer auch das Bild der alten Hexe ein. Der Gedanke daran versetzte sie noch immer in Panik. Irgendwann würde jemand sie finden, man würde herausfinden, was sie und Vitus getan hatten, und dann wäre nichts mehr so wie früher. Der Zwischenfall mit der alten Frau bereitete ihr inzwischen mehr Kummer als das schlechte Gewissen wegen ihrer geheimen Treffen. Sie schloss kurz die Augen und fragte sich, wann ihr Leben so ins Wanken geraten war. Vitus musste das in Ordnung bringen, sie konnte so nicht weitermachen.

Die Kirchenglocke schlug Mitternacht, als Katharina den See erreichte. Vitus war ebenfalls gerade am vereinbarten Treffpunkt angekommen und stellte die Laterne auf den Boden.

«Katharina», begrüsste er sie und streckte die Arme nach ihr aus.

«Grüss dich, Vitus», erwiderte sie kühl und ging auf ihn zu, ohne seine Hände zu ergreifen, wie sie es sonst immer tat.

«Ist etwas geschehen?», fragte er, als er ihre Miene bemerkte. «Du scheinst dich gar nicht zu freuen ...»

Sie schwieg einen Moment, um sich zu fassen. Auf dem Weg zum See hatte sie sich die Worte zurechtgelegt. «Ich habe dich heute in der Kirche gesehen», begann sie und beobachtete seinen Gesichtsausdruck, der unverändert blieb. «Mit Louise.» Er seufzte und legte ihr die Hände auf die Schulter, doch sie schüttelte sie ab. «Ihr seid verlobt?», fragte sie nun direkt und etwas lauter als beabsichtigt.

«Katharina», sagte er mit ruhiger Stimme, «du weisst, dass ich Louise nicht heiraten werde. Das habe ich dir doch versprochen, erinnerst du dich?»

Sie verschränkte die Arme und starrte ihn an.

«Erinnerst du dich?», wiederholte er.

Sie nickte. «Ja, ich erinnere mich, aber heute Morgen habe ich erfahren, dass du dich mit Louise verlobt hast, und dass die Leute euch bereits zur Verlobung gratulieren.» Sie wartete auf eine Erklärung, doch Vitus schwieg. «Ist es wahr?», fügte sie leise hinzu.

Abermals seufzte er. «Unsere Eltern haben beschlossen, dass ich Louise heiraten soll», sagte er. «Ich wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Aber ich werde sie nicht heiraten, weil ich dir bereits mein Wort gegeben habe.» Er ergriff ihre Hände. «Und das werde ich Louise und meinen Eltern auch so sagen.» Er lächelte sie an.

Ihre Fassade bröckelte, und sie warf sich in seine Arme. «Tut mir leid», flüsterte sie. «Ich war so verwirrt, als ich dich mit ihr sah.»

«Natürlich», sagte Vitus und strich ihr sanft übers Haar. «Das muss ein ungeheurer Schreck für dich gewesen sein.»

Eine Weile standen sie schweigend da. Katharina hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihre Wange an seine gelegt. «Vitus», sagte sie unvermittelt. «Was wirst du tun, wenn jemand die Alte findet?» Als er nicht antwortete, hob sie den Kopf und sah ihn an.

«Niemand wird sie finden, Katharina», versicherte er ihr. «Ausser uns kommt niemand hierher, und bald wird die Leiche verschwunden sein. Vielleicht haben die Fische sie bereits gefressen.»

Katharina wollte sich das lieber nicht vorstellen.