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Mitholz, Juni 1920

Als Clera am nächsten Morgen aufwachte, freute sie sich im ersten Moment darüber, dass sie in ihrem eigenen Bett lag, doch dann fielen ihr die Ereignisse des vergangenen Tages wieder ein und sie liess sich zurück ins Kissen fallen. Rita hatte sich gut um sie gekümmert, hatte zusammen mit Teodor Clau, Peider und Michel informiert, die alle bei ihr vorbeigeschaut und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatten. Michel hatte sogar Floc heimlich ins Haus geholt, damit sie ihn streicheln konnte. Und als ihre Mutter gegen Abend nach Hause gekommen war, hatten Rita und Teodor ihr alles erzählt. Barla war sofort zu ihr ins Zimmer gekommen und hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie immer hinter ihr stehen würde. Clera wusste nicht, ob sie Chasper noch am selben Abend zur Rede gestellt hatte. Sie war zuversichtlich, dass er seinen Fehler einsehen und Massimo wegschicken würde.

Aus der Küche hörte sie Geräusche und leise Stimmen. Die Familie schien beim Frühstück zu sitzen. Sie wollte sich gerade aufsetzen und sich zu ihnen gesellen, als es an die Tür klopfte und Rita mit einem Tablett eintrat. Sie trug ihre neue Schürze, die sie am Vortag genäht haben musste, und ihre Haare waren zu zwei einfachen Zöpfen geflochten wie ihre eigenen.

«Guten Morgen», grüsste sie und stellte das Tablett auf das Nachttischchen. «Ich bringe dir Frühstück.»

«Danke», erwiderte Clera und lächelte. «Wo hast du eigentlich geschlafen?»

«In der Kammer der Zwillinge. Wir haben für heute Nacht sozusagen die Zimmer getauscht.» Sie lachte und steckte Clera damit an.

«Hat mein Vater irgendetwas gesagt?»

Rita schloss die Tür und setzte sich neben sie aufs Bett. «Bisher nicht, er ist äusserst wortkarg. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob er diesen Taugenichts entlassen hat.»

Clera nickte. Wahrscheinlich würde sie sowieso mit ihm reden müssen, sosehr es ihr auch widerstrebte.

Sie sollte recht behalten. Als sie kurze Zeit später aufstand und ihre Stube verliess, traf sie in der Küche auf Rita, die mit dem Abwasch beschäftigt war. «Er ist noch hier», flüsterte diese, «geh nicht hinaus.»

Cleras Hoffnung sank. Ihr Vater hatte tatsächlich nichts unternommen.

Ihre Mutter und Teodor hatten sich bereit erklärt, ihre Aufgaben zu übernehmen, damit sie drinnen bleiben konnte. Sehnsüchtig schaute sie aus dem Fenster und wünschte sich, sie könnte wenigstens hinaus auf die Laube.

«Wenn du willst, können wir uns nach draussen setzen», bot Rita an, die ihre Gedanken zu erraten schien. Sie stellte den Korb mit ihren angefangenen Handarbeiten auf den Tisch und deutete mit dem Kinn zum Fenster. «Wenn ich neben dir sitze, wird er es wohl kaum wagen näherzukommen.»

Clera erwiderte ihr Lächeln und holte ihre Strickarbeit aus der Stube. Die frische Luft tat ihr gut. Die Laube lag auf der vom Hof abgewandten Seite des Hauses, sodass man sie von dort aus nicht sehen konnte. Geschickt wickelte sie den Faden um den linken Zeigefinger und begann zu stricken.

«Clera», begann Rita nach einer Weile. «Ich habe heute Morgen unfreiwillig ein Gespräch deiner Eltern belauscht.»

Clera blickte von ihrer Strickarbeit auf.

«Deine Mutter hat deinen Vater gefragt, ob er den Knecht nun entlassen habe, aber ...» Sie suchte nach Worten. «Dein Vater hat verneint.»

Clera schnappte nach Luft. Auch in Ritas Augen sah sie Wut aufflackern, was sie ihr gar nicht zugetraut hätte.

«Er behauptete, er könne Massimo nicht entlassen, er sei auf ihn angewiesen. Ohne ihn könne er den Hof gleich aufgeben.»

«Das ist gelogen», knurrte Clera und betrachtete die Kratzer und blauen Flecken auf ihren Unterarmen, «Massimo ist der faulste Knecht, den wir je hatten. Egal, um welche Zeit du vorbeikommst, er ist nie bei der Arbeit. Mein Vater würde in Mitholz an jeder Ecke einen besseren, eifrigeren und vor allem anständigeren Knecht finden.»

Rita nickte. «Bisher seid ihr ja auch ohne ihn klargekommen, oder?»

«Natürlich! Er war ein Jahr lang nicht hier. Glücklicherweise.» Sie wandte sich wieder ihrer Strickarbeit zu. «Gestern hat mein Vater gesagt, wenn es Streitigkeiten zwischen uns und diesem Italiener gebe, müsse einer gehen. Da siehst du, wer seiner Meinung nach gehen soll.»

«Das ist doch nicht möglich!», rief Rita aus und liess den Stoff in ihrer Hand sinken. «Er kann doch nicht sein Kind vom Hof jagen, weil sein Knecht sich nicht zu benehmen weiss! Jeder andere würde den Knecht rauswerfen, wenn nicht gar umbringen.»

Clera sah sie mit vielsagendem Blick an. «Jeder andere, aber nicht mein Vater. Ihm ist der Knecht wichtiger, weil er der Meinung ist, dass der nie einen Fehler macht. Ich bin nur zweitrangig. Und es ist einfacher, mich rauszuwerfen.»

«Es tut mir so leid für dich», sagte Rita mitfühlend. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Clera wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. «Hast du mit Teodor darüber gesprochen?»

«Nein, er ist heute früh nach Mitholz aufgebrochen. Seine neue Stelle und das Haus ...» Ritas Blick schweifte über das Tal. «Heute Nachmittag sollte er zurück sein, dann werde ich mit ihm reden..»

Die beiden Mädchen deckten gerade den Tisch, als Chasper die Küche betrat. Clera warf ihm einen eiskalten Blick zu und wandte sich ab, als er sie grüsste.

«Siehst du?», flüsterte sie Rita zu. «Er tut, als wäre nichts gewesen.» Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er sich an den Tisch setzte und wartete, bis ihm jemand das Essen brachte. «Und jetzt wartet er darauf, dass ich ihn bediene.»

«Ich schätze, darauf kann er heute lange warten», mutmasste Rita und wandte sich wieder dem Topf auf dem Herd zu. Ihre neue Schürze hatte bereits ein paar Flecken abbekommen, aber das schien sie nicht zu stören, was Clera ihr hoch anrechnete.

Sie zuckte mit den Schultern. «Ich fühle mich nicht verpflichtet. Nicht mehr.»

Kurze Zeit später betraten Michel und Peider die Küche, gefolgt von Clau.

Clera begrüsste ihre Brüder und schickte sie durch die Tür zum Tisch in der Stube. «Das Essen ist gleich fertig. Wo ist Mutter?»

«Noch im Stall», antwortete Clau, «sie kommt gleich.»

«Entschuldige», sagte Barla, als sie kurz darauf in die Küche geeilt kam. «Der gute Köbi hat sich am Huf verletzt, ich musste ihn kurz versorgen.»

«Kein Problem», erwiderte Clera und nahm ihr die Lappen ab, die sie in der Hand hielt.

Barla bedankte sich und strich sich die Haare aus dem Gesicht. «Kann ich euch helfen?»

«Nein, das Essen ist bereit», meinte Clera und deutete auf die Tür zur Stube, wo der Esstisch stand. In diesem Moment erschien Massimo in der Tür. Clera zuckte zusammen und liess den Schöpflöffel, den sie in der Hand hielt, ins Spülbecken fallen. Wütend funkelte sie ihn an. «Raus!», bellte sie. Im Augenwinkel sah sie, dass Rita in die Küche zurückgeeilt kam und nach dem Besen griff, der in der Ecke stand.

«Chasper hat gesagt ...», rechtfertigte der Italiener sein Erscheinen.

«Das interessiert mich nicht!», brüllte Clera ihn an. Es erfüllte sie mit einer gewissen Genugtuung, dass er tatsächlich zwei blaue Augen, eine mehr schlecht als recht versorgte Platzwunde und mehrere Kratzer davongetragen hatte.

«Raus hier!», wiederholte Rita ihre Worte. «Deine Anwesenheit ist hier nicht erwünscht!»

«Clera, es tut mir leid ...»

«Spar dir deine leeren Worte!» Ihr wurde beinahe übel.

Rita schien das zu bemerken und hielt ihm den Besenstiel entgegen.

«Was ist hier los?», ertönte plötzlich Barlas Stimme. Das Geschrei hatte sie veranlasst, zurück in die Küche zu eilen. Als sie Massimo in der Tür erblickte, loderte auch in ihren Augen Zorn auf. «Verschwinde sofort aus meiner Küche!», schrie sie ihn an. «Du bist hier nicht willkommen!»

Der Knecht schien etwas sagen zu wollen, entschied sich dann aber doch dagegen und verliess das Haus ohne ein weiteres Wort.

Clera atmete auf, als Rita ihr den Arm um die Schultern legte. Sie warf zuerst ihr einen dankbaren Blick zu, dann ihrer Mutter.

«Komm, iss etwas», sagte diese und deutete auf den Tisch. Clera wollte die dampfende Schüssel, die hinter ihr auf der Anrichte stand, nehmen, doch Barla bedeutete ihr, sich hinzusetzen, und trug die Schüssel selbst zum Tisch.

Als Clera sah, dass ihr Vater noch immer am Tisch sass und darauf wartete, bedient zu werden, während sie den gewalttätigen Knecht hatte rauswerfen müssen, wurde sie noch zorniger. Sie füllte nacheinander die Teller, doch seinen liess sie aus.

Wortlos griff er selbst zur Kelle und schöpfte sich ungeschickt eine Portion, wobei er eine Tropfenspur auf dem Tischtuch hinterliess. Niemand sagte ein Wort.

Chasper stand als Erster auf. Clau warf ihm einen missbilligenden Blick zu, als er Teller und Becher achtlos auf dem Tisch stehen liess und aus dem Raum schlurfte. Er selbst hatte den Kindern immer eingetrichtert zu warten, bis alle fertig gegessen hatten, doch das schien er ganz plötzlich vergessen zu haben. Zudem fand Clera es unerhört, dass er Massimo zum Essen eingeladen hatte, nach allem, was geschehen war. Sie fragte sich, ob sie je wieder mit ihm reden würde.

Rita und Clera hatten soeben den Abwasch beendet, als Teodor die Küche betrat. Ritas Laune verbesserte sich sogleich, als sie ihn erblickte.

«Clera, wie geht’s dir?», fragte er seine Schwester, nachdem er seine Verlobte begrüsst hatte.

«Besser, dank Rita», sagte sie. «Sie kümmert sich gut um mich.» Sie schenkte ihrer zukünftigen Schwägerin ein dankbares Lächeln.

«Ist dieser Knecht nun endlich weg?»

Rita seufzte. «Setz dich hin, wenn ich dir das erzähle.»

Alarmiert sah Teodor zuerst die eine und dann die andere an.

Mit knappen Worten erzählte Rita von dem Gespräch, das sie am Morgen belauscht hatte. «Chasper ist der Meinung, dass dieser Massimo wichtiger sei als Clera», schloss sie ihre Erzählung.

«Das ist nicht sein Ernst!», rief Teodor aus und blickte zu Clera hinüber, die neben dem Fenster an der Wand lehnte. Er hat sich gewaschen und rasiert, um seinen neuen Arbeitgeber zu treffen, dachte sie und hoffte, dass wenigstens er mehr Glück haben würde als sie.

«Ich werde mit ihm reden», sagte Teodor schliesslich und sprang auf. Die beiden Mädchen sahen ihm nach, als er aus dem Haus rauschte.

«Meinst du, er wird etwas erreichen?», fragte Clera. «Meine Mutter hat es auch nicht geschafft.»

«Es wird alles gut werden», versuchte Rita sie zu beruhigen. «Du wirst sehen.»

Clera wollte das gerne glauben. Ihre Hand tastete nach dem Buch in ihrer Rocktasche, und sie wünschte sich, Grossmutter Chatrina wäre noch da und könnte ihr helfen. Auf sie hätte Chasper vielleicht gehört.

In Gedanken versunken wischte sie den Boden und räumte auf, nur um irgendetwas zu tun. Rita half ihr wortlos und achtete darauf, dass sie nie allein war.

Etwa eine Stunde verstrich, bis sie die Haustür hörten und gleichzeitig zusammenzuckten.

Teodor stürmte mit hochrotem Kopf in die Küche. «Rita, pack deine Sachen, wir gehen zurück nach Thun!», rief er.

Rita erstarrte. «Aber ... wir wollten doch bis zum Ende der Woche bleiben ...»

«Ich weiss», sagte er nun etwas ruhiger. «Aber ich bleibe keine Sekunde länger hier.»

«Du konntest ihn nicht umstimmen, nicht wahr?», fragte Clera leise.

Er schüttelte den Kopf. «Er hat mir dasselbe erzählt wie Mutter, dass er auf diesen Knecht angewiesen sei und den Hof ohne ihn nicht halten könne.»

«Lügner», knurrte Clera, «das wünscht er sich so, weil er nichts Schlechtes über ihn hören oder gar sagen will.»

«Natürlich», stimmte Teodor ihr zu. «Als ich ihm sagte, dass wir abreisen, wenn es hier so läuft, meinte er nur, dann sollten wir. Er wisse, dass er ein Feigling sei.»

«Der grösste im Tal», murmelte Clera sarkastisch und verschränkte die Arme.

«Aber ...», wandte Rita ein, «wenn wir jetzt weggehen, lassen wir Clera im Stich. Und deiner Mutter kannst du das auch nicht antun, sie hat sich so gefreut, dass wir hergekommen sind.»

Teodor seufzte. «Das stimmt.»

«Vielleicht bessert sich die Lage ja wieder», meinte Rita hoffnungsvoll und nahm Teodors Hand. «Womöglich sieht euer Vater seinen Fehler noch ein.»

Teodor nickte, und auch Clera hätte das gerne geglaubt, aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass das nie geschehen würde.