Als am Freitagmorgen der Hahn krähte, war Clera froh, aufstehen zu können. Sie war während der Nacht mehrmals aufgewacht und hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Immer wieder hatte sie sich in den letzten Tagen gefragt, ob sie Rita bitten sollte, sie mit nach Thun zu nehmen, doch dann war ihr wieder eingefallen, dass Rita und Teodor bald heiraten und nach Mitholz ziehen würden. Ausserdem konnte sie schlecht Ritas Eltern bitten, sie bei sich aufzunehmen.
Heute reisten sie zurück in die Stadt, zusammen mit Clau, der dort sein Zimmer beziehen und seinen Arbeitgeber kennenlernen sollte.
Obwohl sie sich das vor noch nicht allzu langer Zeit nicht hätte vorstellen können, wusste sie nun, dass sie Rita vermissen würde. In den letzten Tagen waren sie oft zusammen spazieren gegangen und hatten stundenlang geredet. Clera hatte ihr den See gezeigt, an dem Rita sich kaum hatte sattsehen können. Einmal auf dem Rückweg waren sie Horazio begegnet. Es freute Clera noch immer, dass auch Rita Pferde mochte und geübt war im Umgang mit ihnen, und da sie nun wusste, dass sie ihr vertrauen konnte, hatte sie auch keine Probleme damit, dieses Geheimnis mit ihr zu teilen.
«Leb wohl, Clera», sagte Rita zu ihr und umarmte sie, als sich die Familie nach dem Frühstück im Hof versammelt hatte. «Ich werde dir schreiben.» Sie trug eine hübsche Bluse und einen Rock, den sie hier auf dem Hof nie getragen hatte. Stadtkleidung, wie Clera es nannte. Ihr Hut passte farblich gut dazu, war ansonsten aber sehr schlicht. Clera hatte bei ihren wenigen Aufenthalten in der Stadt nie darauf geachtet, was die Leute dort trugen, doch nun fielen ihr die Unterschiede zu ihrer eigenen Garderobe auf. «Du wirst sehen, alles kommt gut», flüsterte sie ihr ins Ohr, und Clera nickte, obwohl sie sich dessen nicht sicher war.
«Wenn nicht, komme ich zu euch.»
«Tu das.» Sie lächelte und verabschiedete sich von Peider und Michel. Clau hatte schnell Lebewohl gesagt und sass bereits auf dem Wagen, vor den sie Alberts Pferd gespannt hatten. Peider hatte ihn heute früh abgeholt. Weil Clau ja mit nach Thun fahren würde, musste Peider die drei zum Bahnhof bringen. Es war nicht zu übersehen, wie stolz er war, diesen Auftrag übernehmen zu dürfen. Clera gönnte ihm die Freude.
Sanft streichelte sie das Pferd und beobachtete, wie Teodor sich von seinen Geschwistern und Eltern verabschiedete. Auch er trug städtische Kleidung, die ihm, wie sie fand, sehr gut stand. Das Verhältnis zwischen ihm und Chasper war eisig kalt, was man von Weitem sehen konnte. Auch Clera hatte seit dem Vorfall kein Wort mit ihm geredet, doch er schien das zu akzeptieren und tat weiterhin so, als wäre nichts gewesen. Clera hasste diese Haltung. «Schau nicht hin, dann ist das Problem nicht da», hatte sie kürzlich die Einstellung ihres Vaters in Worte gefasst. Rita hatte ihr zugestimmt.
Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie dem einfachen Wagen nachwinkte, bis er um die Biegung verschwunden war. Rita war ihr eine gute Freundin geworden, wie Vrena es gewesen war. Und auch sie zog es wieder in die Ferne. Seufzend sah sie zu ihrer Mutter hinüber, die noch immer winkte, obwohl der Wagen bereits nicht mehr zu sehen war, und fragte sich, ob sie ihr erlauben würde, allein spazieren zu gehen. Wahrscheinlich nicht.
Wortlos erledigte sie die Arbeiten, die sie jeden Tag verrichtete, achtete jedoch auf jedes Geräusch in ihrer Nähe. Barla bemühte sich darum, immer in ihrer Nähe zu sein. Clera störte das nicht, im Gegenteil. Massimo würde sich nicht in ihre Nähe wagen, wenn sie sich in Hörweite aufhielt. Inzwischen hatte sie sich von ihrem Schrecken erholt, die Kratzer auf ihren Armen verbunden, aber die blauen Flecken waren nach wie vor zu sehen und erinnerten sie immer wieder an den unglücklichen Vorfall. Ihre Wut war noch lange nicht verraucht.
«Mutter», wandte sie sich nach dem Mittagessen an Barla. Peider war inzwischen zurückgekehrt, hatte das Pferd zurückgebracht und half nun Chasper auf dem Hof. Er und Michel sprachen nicht über das Problem mit Massimo, doch Clera hatte beobachtet, dass auch sie ihm aus dem Weg gingen.
«Darf ich spazieren gehen?», fragte sie direkt. «Meine Arbeiten sind erledigt, und das Spazieren hat mir in den letzten Tagen sehr geholfen.» Als ihre Mutter nichts sagte, suchte sie nach weiteren Gründen. «Ich könnte unterwegs Kräuter sammeln, damit keine Zeit verschwendet wird.»
«Wenn du meinst, dass es dir hilft», sagte Barla schliesslich. «Aber es behagt mir nicht, dich allein gehen zu lassen.»
«Im Wald laufe ich weniger Gefahr, Massimo zu begegnen, als hier», wandte sie ein. «Der treibt sich ja immer hier herum, woanders bekommt der Schmarotzer ja nichts.»
Barla nickte. «Du hast recht. Aber sei vorsichtig.»
Voller Vorfreude machte Clera sich auf, bevor ihre Mutter es sich anders überlegen konnte. Sie schlich sich durch die Hintertür hinaus und eilte zu dem schmalen Weg, der ins Tal führte.
Die Junisonne wärmte ihr das Gesicht und der Duft nach Wald und Heu umspielte ihre Nase. Leise singend wanderte sie durch den Wald, suchte mit den Augen nach Tieren und erreichte schliesslich das Waldstück, das den See wie ein Nest umfasste. Die grossen Felsblöcke, die zum Teil von Moos überwachsen waren, verliehen dem Wald etwas Mystisches. Das helle Grün der Blätter über ihr leuchtete im Sonnenlicht. Hier fühlte sie sich frei.
Als sie den See erreichte, setzte sie sich auf den Felsen und summte das Lied, das sie immer gesummt hatte, wenn sie Horazio begegnet war. Sie wusste, dass er die Melodie kannte und zu ihr kam, wenn er sie hörte. Eine Weile verstrich, doch sie hörte nur die Vögel um sie herum und ihr eigenes Summen. Plötzlich knackte ein Ast hinter ihr. Erwartungsvoll drehte sie sich um, konnte jedoch nichts erkennen. Sie hielt den Atem an und lauschte in den Wald hinein, doch nun war alles still.
Als sie wieder anfing zu singen, dauerte es nicht lange, bis sie leise Hufschläge hinter sich hörte. «Horazio», flüsterte sie und ging ihrem vierbeinigen Freund entgegen. Sein Fell war voller Staub, in seiner Mähne hingen welke Blütenblätter und kleine Äste. Vorsichtig zupfte sie sie aus dem zerzausten Mähnenhaar. Horazio rieb den Kopf an ihrer Schulter.
«Schau, ich habe dir etwas mitgebracht», flüsterte sie und griff nach dem Apfel in ihrem Stoffbeutel. Plötzlich hob das Pferd den Kopf und stellte die Ohren auf. Im Augenwinkel sah Clera einen Fisch hochspringen und zurück ins klare blaue Wasser fallen. Gleichmässige Ringe rollten lautlos über den See. Clera blinzelte, weil das Sonnenlicht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte, sie blendete.
Im nächsten Moment warf Horazio den Kopf hoch und machte einen Schritt zur Seite, sodass er gegen Clera prallte. Sie griff nach seiner Mähne, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Ihr war nicht klar, was ihn erschreckt hatte, doch er beruhigte sich nicht. Wie aus dem Nichts sprangen plötzlich drei Männer hinter den Felsblöcken hervor und kreisten sie und Horazio ein. Das Pferd erhob sich auf die Hinterhand, sein schrilles Wiehern zerriss die Stille. Die Männer riefen sich gegenseitig etwas zu, doch Clera verstand kein Wort. Ohne zu wissen, was sie tat, schwang sie sich auf Horazios Rücken und trieb ihn an. Er preschte vorwärts und rannte den ersten Mann über den Haufen. Ein anderer packte Horazios Mähne und liess sich mehrere Meter mitreissen, der dritte hatte sich inzwischen auf sein Pferd geschwungen und verfolgte sie. Clera trat nach dem Bärtigen, der sich an der Mähne festgekrallt hatte, und traf ihn mit dem schweren Bergschuh am Kinn. Mit schmerzverzerrtem Gesicht liess er das Pferd los.
«Haltet die Diebin!», hörte sie einen hinter sich rufen und trieb Horazio erneut an. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Der Mann mit dem braunen Hemd, den sie über den Haufen geritten hatte, hatte sich wieder aufgerappelt und rannte ihr nach.
Für einen Moment fürchtete Clera, er hätte eine Waffe. Durch ihr Zögern holte sie jener mit dem Pferd ein, Horazio bäumte sich abermals auf. Clera hielt sich an seiner Mähne fest, bis er wieder mit allen vier Hufen auf der Erde stand. Plötzlich tauchte der mit dem braunen Hemd neben ihr auf und packte sie am Bein. Sie schrie auf und versuchte sich zu befreien. Der Bärtige kam ihm zu Hilfe und zerrte sie vom Pferderücken. Der dritte, dessen Pferd ebenfalls unruhig tänzelte, hatte Horazio einen Strick um den Hals geworfen und hinderte ihn so am Weglaufen, doch der Rappe schüttelte den Kopf und versuchte mit allen Mitteln freizukommen. Der Bärtige hielt Clera fest, während sich der andere ebenfalls Horazio zuwandte. In blinder Wut rammte dieser das andere Pferd, das nach links taumelte und seinen Reiter abwarf. Laut fluchend tauchte er wieder aus dem Gestrüpp auf und griff nach den Zügeln. Der andere hielt den Strick mit aller Kraft fest. Der Rappe bäumte sich noch einmal auf und stiess ein schrilles Wiehern aus. Sein Huf traf den Arm des Mannes mit dem braunen Hemd, der den Strick festhielt, doch er liess nicht los.
Zu zweit schafften sie es schliesslich, Horazio an einem Baum festzubinden. Clera sah angsterfüllt das erschöpfte Pferd an, das schwer atmend mit gesenktem Kopf dastand und sie aus traurigen Augen anblickte. Als sich einer der Männer näherte, begann er jedoch wieder, den Kopf hochzuwerfen und sich aufzubäumen.
«Wie gesagt, jemand hat ihn gestohlen», knurrte der mit dem braunen Hemd. Sein Blick wanderte zu Clera.
«Aber so wie er aussieht, hat sie sich nicht um ihn gekümmert», meinte der Bärtige und deutete mit dem Kinn auf das Pferd.
Clera spürte, dass er den Griff um ihre Oberarme gelockert hatte, da sie sich nicht mehr rührte. Langsam tastete sie mit der rechten Hand nach dem Messer in ihrer Rocktasche, das sie mitgenommen hatte, um Kräuter zu sammeln, und zog es aus der Tasche, hielt es jedoch unter der Schürze versteckt.
Die Männer redeten über das Pferd und schienen sie schon beinahe vergessen zu haben, als sie unerwartet vorwärtssprang und sich auf das Seil stürzte, mit dem Horazio festgebunden war. Mit aller Kraft hieb sie das Messer ins gespannte Seil und stellte fest, dass es dicker war, als sie gedacht hatte. Sie hatte es noch nicht einmal zur Hälfte durchtrennt, als ein starker Arm sie von hinten packte. Das Messer fiel ihr aus der Hand, als sie von dem Pferd weggezogen wurde. Sie schrie auf und trat nach dem Mann, der sie festhielt.
«Wag es nicht noch einmal!», herrschte er sie an. «Glaubst du wirklich, du könnest uns entkommen?» Er drehte ihr den Arm auf den Rücken. Als sie den Reiter ein paar Meter von sich entfernt wahrnahm, erstarrte sie.
«Herr Balthasar», hörte sie den Mann auf dem Pferd, der gerade nichts weiter tat, als Horazio im Auge zu behalten, sagen. «Wir haben das Pferd und die Diebin gefunden und bringen sie nun zum Gut zurück.»
Clera traute ihren Augen nicht. «Konstantin!», rief sie, erhielt jedoch gleich einen Schlag auf den Mund.
«Wage es ja nicht, ihn so anzusprechen», zischte der Mann mit dem braunen Hemd neben ihr.
Sie warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. «Sag ihnen, dass das ein Missverständnis ist!», rief sie zu Konstantin hinüber, doch er sagte kein Wort. Verständnislos sah sie ihn an. Seine Miene verriet Entsetzen und Kälte gleichzeitig, für einen Moment bebten seine Lippen, als wollte er etwas sagen. Dann senkte er kurz den Blick und sagte etwas zu dem Mann auf dem Pferd. Dieser nickte und wandte sich Horazio zu.
Wieder trafen sich ihre Blicke. In Konstantins Augen sah sie Unsicherheit, jedoch nichts Böses. Er wandte sich ab.
«Verräter!», schrie sie in seine Richtung. «Du hast versprochen, uns in Ruhe zu lassen! Und sag deinem Affen hier, er soll mich loslassen!» Wieder spürte sie eine Ohrfeige.
«Lass sie auf keinen Fall los!», rief der im braunen Hemd zurück. «Wer weiss, was die im Schilde führt!»
«Konstantin!» Wieder ein Schlag ins Gesicht. «Ich habe dir vertraut!» Ihre Stimme überschlug sich beinahe, doch er erwiderte nichts.
In diesem Moment bäumte Horazio sich wieder auf, als einer der Männer sich ihm näherte. Clera warf den Kopf in den Nacken und traf mit dem Hinterkopf den Bärtigen, der sie festhielt. Er schrie auf und fasste sich mit der einen Hand an die Nase. Clera wirbelte herum, entwand ihm ihren Arm und lief los. Die Wut verlieh ihr die nötige Kraft, um schneller über die Felsblöcke zu springen als die Männer hinter ihr, die erstaunt über ihren unerwarteten Ausbruch dastanden und erst nach ein paar Sekunden die Verfolgung aufnahmen. Clera rannte durch den Wald, um die Bäume und die Felsen herum, bis sie schliesslich den hohen Felsen direkt am Seeufer erreichte. Ohne zu zögern, warf sie ihren Stoffbeutel in die Spalte zwischen zwei Felsen und sprang ins Wasser. Es war eisig kalt, doch die Stille empfand sie als äusserst wohltuend. Noch unter Wasser drehte sie sich um und schwamm wieder zum Ufer, wo sie unter den Ästen eines Strauches, die ins Wasser hingen, auftauchte. Sie versuchte sich nicht zu bewegen und lauschte. Die Männer schienen den Felsen schräg über ihr, von dem sie gesprungen war, erreicht zu haben. Sie hielt den Atem an.
«Ich springe da sicher nicht hinein!», sagte einer.
«Ich kann nicht schwimmen», ein anderer. Der Dritte sagte etwas, was sie nicht verstand, dann klang es, als flüsterten sie. Bald war es wieder still. Clera bemühte sich, nicht mit den Zähnen zu klappern. Ihr Zopf hatte sich gelöst, ihr Haar umrankte ihr Gesicht wie Kletterpflanzen. Um sich von der Kälte abzulenken, beobachtete sie die Wasseroberfläche. Kein Kräuseln war zu sehen.
Erst als sie sich sicher war, dass die Männer weg waren, befreite sie sich aus den Zweigen und tastete sich den Felsen entlang, bis sie eine Stelle erreichte, an der sie ans Ufer klettern konnte. Zitternd wrang sie ihre Haare aus und schüttelte sich. Die Luft fühlte sich angenehm warm an. Leise ging sie zurück zu der Stelle, von der aus sie in den See gesprungen war, und stellte erleichtert fest, dass ihr Stoffbeutel noch dalag. Sie zog ihn aus der Spalte und liess ihren Blick über die Umgebung schweifen. Nichts erinnerte an den unglücklichen Vorfall von vorhin. Kopfschüttelnd schaute sie zu dem Baum, an dem sie Horazio festgebunden hatten.
«Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen, Konstantin ...», murmelte sie vor sich hin. «Ich hätte doch wissen müssen, dass du Horazio einfangen würdest, sobald du weisst, dass er sich noch hier im Wald aufhält.» Aber sie hatte ihm vertraut. Vitus kam ihr in den Sinn, der sich auch nicht getraut hatte, seiner Familie und Louise von Katharina zu erzählen. Konstantin hatte es nicht gewagt, den drei Männern, die wohl für seinen Vater arbeiteten, zu widersprechen.
Durch unwegsames Gelände erreichte sie schliesslich Horazios Versteck. Warum sie genau hierhergekommen war, wusste sie selbst nicht, schliesslich hätte sie auch nach Hause gehen können. Vielleicht hatte sie einen Funken Hoffnung gespürt, dass Horazio entkommen und hierhergelaufen war. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Felswand und starrte nach oben. Blätter und ein Stück Himmel sah sie über sich, bevor ihre Tränen das Bild verwischten. «Kann es denn noch schlimmer werden?», fragte sie leise. Sie wusste, dass Horazio nichts geschehen würde, aber gleichzeitig bezweifelte sie, dass sie ihn je wiedersehen würde.
Verzweifelt setzte sie sich auf den Boden, den Rücken an die Felswand gelehnt, und begann in ihrem Stoffbeutel zu wühlen. Lustlos kaute sie ihr Käsebrot und wünschte sich, sie würde endlich aus diesem bösen Traum aufwachen. Innerhalb von wenigen Tagen war ihr Leben völlig aus den Fugen geraten, in denen es sich jahrelang zuverlässig vorwärtsbewegt hatte. Doch nun lag kein Stein mehr auf dem anderen. Sie spielte mit dem Gedanken, Rita zu schreiben, ihre Sachen zu packen und nach Thun zu fahren. Seufzend zog sie die Beine an und legte die Stirn auf die Knie. Die blauen Flecken schmerzten immer noch, und durch das Gerangel mit den drei Gorillas waren neue hinzugekommen. Grossmutter Chatrina hätte einen Ausweg gewusst, dachte sie.
Ein Knacken im Unterholz liess sie aufhorchen. Ein Reh trat aus dem Dickicht und sah sie mit seinen dunklen Augen an, bevor es mit eleganten Sprüngen wieder im Gebüsch verschwand. Clera blickte ihm nach.
Ein weiteres Rascheln liess sie erneut zusammenzucken. Im nächsten Moment sprang ein Hund aus dem Gebüsch vor ihr, rannte auf sie zu und sprang an ihr hoch, um ihr das Gesicht zu lecken. Erschrocken hob Clera die Hände, um den Hund abzuwehren. Schwanzwedelnd wich er ein paar Schritte zurück und setzte sich hin. Hätte man sie danach gefragt, hätte Clera gesagt, er lächle. Jetzt erst erkannte sie in ihm den schwarzen Welpen aus Konstantins Stube.
«Wie kommst du denn hierher?», flüsterte sie und streichelte sein flauschiges Fell. Als ihr klar wurde, dass ein halbwüchsiger Hund niemals allein im Wald unterwegs war, noch dazu so weit von seinem Zuhause entfernt, hörte sie bereits Schritte im Unterholz. Von Panik erfasst sprang sie auf und flüchtete sich um den Felsen herum in die Nische, die sie bei ihrem letzten Besuch entdeckt hatte. Der Welpe war ihr in seiner tapsigen Gangart nachgelaufen und stupste nun mit den Pfoten ihr Bein an. Clera hielt den Atem an und lauschte, froh, dass der Hund keinen Laut von sich gab. Liebevoll legte sie ihm die Hand auf den Kopf.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie plötzlich eine vertraute Stimme hörte.
«Clera? Bist du da?»
Sie antwortete nicht. Der Hund sass artig neben ihr. Ab und zu versuchte er, die Hand, die ihn streichelte, abzulecken.
«Clera, bitte. Wenn du hier bist, so antworte.»
Sie schloss die Augen. In der Stimme schwang Verzweiflung mit, doch sie wollte nicht mit ihm reden. Allerdings sah sie auch keine Fluchtmöglichkeit.
«Um Himmels willen, Clera!», hörte sie ihn einige Sekunden später und wusste, dass er sie gefunden hatte.
Sie hob den Kopf und sah ihn aus geröteten Augen an.
«Geht es dir gut? Du musst doch furchtbar frieren!» Konstantin kauerte sich neben sie und legte ihr seine Jacke um die Schultern. Clera musste zugeben, dass sie froh darum war.
«Es tut mir so leid, was geschehen ist», redete er weiter, bevor sie ein Wort sagen konnte. «Glaub mir, das war nie meine Absicht.» Er griff nach ihren Händen.
Nun hob sie den Blick und sah ihm in die Augen. «Du hast das von Anfang an vorgehabt, nicht wahr?», sagte sie direkt. «Als ich dir erzählt habe, dass Horazio noch hier in den Wäldern ist, hast du deine Leute auf ihn angesetzt.» Sie schnaubte. «Ich hätte wissen müssen, dass ich dir so etwas nicht anvertrauen kann. Wir kommen aus unterschiedlichen Welten ...»
«Da stimme ich dir zu», unterbrach er sie, «wir kommen aus unterschiedlichen Welten. Aber ich habe niemanden auf das Pferd angesetzt. Bitte glaub mir das!» Als sie seinen flehenden Blick sah, hätte sie ihm gern geglaubt. «Das waren Männer meines Vaters, die grössten Gorillas, die er beschäftigt», erklärte Konstantin. «Er hat sie auf das Pferd angesetzt, aber nicht, weil ich ihm davon erzählt habe. Vor einigen Tagen hat er mich gefragt, ob ich etwas herausgefunden hätte. Ich habe verneint, deshalb meinte er, ich sei der Aufgabe nicht gewachsen, und hat seine Leute damit betraut.» Cleras Miene blieb unverändert. Seufzend senkte er den Blick.
«Und warum hast du nicht reagiert, als ich um Hilfe gerufen habe?» Sie sah, dass er sich auf die Unterlippe biss.
«Was hätte ich schon tun können?»
«Zum Beispiel dem Affen sagen, er solle mich loslassen! Stattdessen hast du zugelassen, dass er mir ins Gesicht schlug! Und von Schlägen ins Gesicht habe ich gerade genug für den Rest meines Lebens.»
«Ich war überfordert ...»
«Das habe ich gesehen!» Clera hatte sich in Rage geredet und war lauter geworden. «Wie ein Feigling hast du dagestanden, hast den Herrn gespielt und zugesehen, wie sie mich geschlagen haben. Du bist wie mein Vater!»
Für einen Moment schwiegen beide. Schuldbewusst sah er sie an, fragte jedoch nicht nach.
«Ich weiss, hinterher sehe ich auch ein, dass ich dir hätte helfen müssen. Das war ich dir schuldig. Meinem Vater hätte ich das zwar nicht erklären können, aber irgendeinen Weg hätte ich gefunden. Glaubst du mir das?» Seine Stimme war immer leiser geworden. Er sah sie eindringlich an und wartete vergeblich auf eine Antwort, bis sie schliesslich den Blick senkte, der an dem Welpen hängenblieb.
«Wie hast du mich hier eigentlich gefunden?»
«Dank dem kleinen Spürhund hier.» Er deutete auf den jungen Berner Sennenhund zwischen ihnen, dann zog er etwas aus der Tasche.
Clera erkannte ihr Haarband, mit dem sie den Zopf zusammengebunden hatte. Sie musste es noch an Land verloren haben.
«Nachdem du geflohen warst, bin ich sofort nach Hause geritten, habe Nikas Bruder geholt und ihm das Band vor die Nase gehalten. Er hat sich an dich erinnert, jedenfalls hat er mit dem Schwanz gewedelt und angefangen zu hüpfen. Ich übe mit den Welpen immer das Suchen von Gegenständen. Er ist quer durch den Wald hierhergelaufen, ich musste ihm nur folgen.»
Diese Geschichte entlockte selbst Clera ein Lächeln. «Er hat seine Aufgabe gut erfüllt», bemerkte sie und streichelte ihm das Fell.
«Er hat dich ins Herz geschlossen», sagte Konstantin.
Eine Weile sassen sie schweigend nebeneinander. Langsam wurde Clera wieder warm. Der Hund hatte sich zu ihren Füssen zusammengerollt und schnappte immer wieder spielerisch nach Cleras Hand.
«Wo ist Horazio jetzt?», fragte sie schliesslich.
«Auf dem Gut meines Vaters, im Stall», antwortete Konstantin. «In seinem eigentlichen Zuhause. Willst du ihn sehen?»
Clera sah ihn fragend an. «Und wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht auf dem Gut auftauchen und wie selbstverständlich mit dir in den Stall gehen ... Überhaupt, wie willst du erklären, dass wir hier zusammen im Wald ...»
Er zuckte mit den Schultern, ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen. «Das muss ja niemand erfahren.»
Sie erwiderte sein Lächeln. «Hast du eigentlich ...», sie suchte nach Worten, «eine Frau oder Verlobte?»
Er lachte. «Nein, weder noch. Meine Eltern wollten mich schon mit vielen jungen Frauen bekanntmachen, aber die waren alle so ... brav. Sie sassen den ganzen Abend still und artig am Tisch und lächelten über das ganze Gesicht; mit keiner konnte man sich über Dinge unterhalten, die über höfliche Konversation oder das Wetter hinausgingen.» Er merkte, dass er sie mit Worten überschüttet hatte und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. «Du hingegen bist ein Mädchen, das es schafft, ein Pferd, mit dem niemand klarkommt, für sich zu gewinnen. Du hast eine eigene Meinung und bist nicht ausschliesslich darauf bedacht, mir zu gefallen.»
Bei diesen Worten musste auch Clera lachen. «Aber wie du gesagt hast, kommen wir aus völlig verschiedenen Welten. Du bist hier auf dem Gut aufgewachsen, ich auf einem kleinen Hof in den Bergen. Ich habe nie Geld besessen, bin in meinem Leben erst wenige Male ausserhalb dieses Tals gewesen, und habe einen Namen, den sich hier niemand merken kann.» Sie lachte immer noch.
«Und genau deshalb gebe ich mich gerne mit dir ab», erwiderte er. «Ich weiss, wir kennen uns kaum, aber wenn ich vor die Frage gestellt würde, ob ich dich oder eines dieser Mädchen aus Kandergrund oder Spiez näher kennenlernen wolle, würde ich dich wählen.»
Clera fühlte sich geschmeichelt und wandte sich ab, damit er nicht sehen konnte, dass sie rot wurde.
«Aber, um auf meine Frage zurückzukommen», wechselte er das Thema. «Wenn du Horazio wiedersehen willst, dich aber nicht traust, das Gut zu betreten, bringe ich ihn zu dir.»
Sie sah ihn verständnislos an.
«Sag mir, wo du wohnst.»
Clera riss die Augen auf. «Nein, eher komme ich auf das Gut», lachte sie. Der Welpe sprang wieder auf. «Wie heisst der Kleine eigentlich?», fragte sie.
«Er hat noch keinen Namen», antwortete Konstantin. «Er ist zudem der Einzige aus diesem Wurf, der noch kein Zuhause gefunden hat. Alle anderen hat mein Vater bereits verkauft – zu einem nicht gerade geringen Preis – aber diesen noch nicht.»
Clera legte die Wange auf den Kopf des Welpen. «Das verstehe ich nicht, er ist so liebenswürdig ...»
«Willst du ihn haben?»
Sie hielt mitten in der Bewegung inne. «Ich?», fragte sie, da ihr nichts einfiel, was sie hätte sagen können. «Ich habe nicht einen Franken, ich kann ihn nicht kaufen.»
«Das meinte ich nicht, ich ... wollte ihn dir schenken ...»
Clera sah ihn verblüfft an und suchte nach Worten. «Ich ... das kann ich nicht annehmen», stammelte sie schliesslich. «Was willst du deinem Vater sagen?»
Konstantin zuckte mit den Schultern. «Vielleicht sage ich ihm, ich hätte ihn einem Freund überlassen ... oder er sei mir davongelaufen.» Er lachte.
Liebevoll sah Clera den schwarzen Welpen mit der weissen Schnauze und der schmalen weissen Linie zwischen den Augen an. Die beiden roten Flecken über seinen Augen machten ihn in ihren Augen noch süsser.
«Wir haben bereits einen Hofhund», sagte sie dann, «ich kann ihn nicht mitnehmen ...» Als hätte der Kleine verstanden, worum es in dem Gespräch ging, begann er wieder, Cleras Hand zu lecken.
«Ich fürchte, da hat jemand ohne dein Einverständnis eine Entscheidung getroffen», lachte Konstantin und streckte ebenfalls die Hand nach dem Hund aus, wobei er Cleras Finger streifte.
Sie zog ihre Hand zurück. «Ach ...» Sie fühlte sich hin- und hergerissen. «Ich würde ihn gerne behalten, aber ...»
«Dann gehört er dir.»
Sie drückte den Hund sanft an sich und erwiderte Konstantins Lächeln. Inzwischen schämte sie sich beinahe dafür, dass sie ihm vorgeworfen hatte, sie und Horazio verraten zu haben. Seit sie seinen Bruder aus dem See gerettet hatte, war er immer sehr freundlich und zuvorkommend gewesen, sie sah keinen Grund, ihm zu misstrauen. «Danke», flüsterte sie.
Er nickte und kraulte den Welpen hinter den Ohren. «Bei dir wird er ein gutes Zuhause haben», meinte er.
Sie spürte seinen Blick auf sich. Scheu sah sie zu ihm hinüber und bemerkte, dass er sie tatsächlich musterte.
«Ich würde dich gerne öfter sehen», sagte er nach einer Weile. «Jedes Mal, wenn ich nach Mitholz reite oder sonst im Tal unterwegs bin, halte ich Ausschau nach dir, Clera ...»
Sie hielt den Blick wieder gesenkt, ihr Herz klopfte wie wild. «Ich ...» Insgeheim wünschte sie sich dasselbe. Mit Konstantin konnte sie sich gut unterhalten, ohne jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen, ausserdem mochten sie beide den Wald und fühlten sich zu dem kleinen See hingezogen. Und der Hund war eine weitere Verbindung zwischen ihnen.
«Kann ich dir wenigstens Briefe schreiben?»
Da Clera die Post meist selbst abholte, würde niemand erfahren, dass er ihr schrieb. «Was sagt deine Familie, wenn ein Brief von mir ins Haus flattert?», fragte sie zurück.
«Wahrscheinlich weniger als deine», lachte er, «aber um sicher zu sein, kannst du sie an Hanna schicken. Niemand fragt sie nach ihrer Post.»
Als Clera an die liebevolle Haushälterin dachte, wurde ihr warm ums Herz.
Ohne dass sie ihn danach fragte, nannte Konstantin ihr Hannas vollen Namen und die Adresse seines Elternhauses.
Clera prägte sich jedes Wort ein und verriet ihm die ihre.
«Was hast du übrigens vorhin damit gemeint, als du sagtest, ich sei ein Feigling wie dein Vater?»
Clera seufzte. «Ach, davon hast du ja noch gar nicht erfahren.» Mit wenigen Worten erzählte sie, was auf dem Hof ihrer Eltern vorgefallen war. Ihre Stimme zitterte, als sie sich an die Einzelheiten erinnerte. Unbewusst tastete sie nach den blauen Flecken und den Kratzern auf ihren Unterarmen.
Konstantins Blick folgte ihren Fingern, dann sah er sie fassungslos an. «Wieso?», war das einzige Wort, das er zustande brachte.
Clera zuckte mit den Schultern und blickte in den Wald hinaus. «Weil ich nicht mit ihm reden wollte.»
«Und dein Vater hat das gutgeheissen?»
Sie nickte.
«Unglaublich ...», murmelte Konstantin kopfschüttelnd. «Kein Vater würde so etwas dulden.»
«Nun, meiner schon.»
«Wäre ich in der Nähe gewesen, hätte ich diesen Massimo verprügelt.»
«Das hat mein Bruder bereits getan», meinte Clera, «und die Kratzer an seinem Hals sind von mir. Ich bin beinahe stolz darauf.» Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
«Kann ich irgendetwas für dich tun?», fragte Konstantin und sah sie mit einem Ausdruck in den Augen an, den sie nicht deuten konnte. Er schien erschüttert, beinahe verzweifelt zu sein, gleichzeitig jedoch mitfühlend und liebevoll.
Sie senkte den Blick und sah ihren Hund an. «Das hast du schon», sagte sie leise. «Du hast mir einen guten Freund und Wächter geschenkt.»
«Bilde ihn zum Leibwächter aus, und dir wird nie wieder so etwas widerfahren», lachte er. «Hast du dir schon einen Namen für ihn ausgedacht?»
«Ich werde ihn Merl nennen», antwortete Clera entschlossen. «Amsel auf Rätoromanisch. Meine Grossmutter hat mich jeweils so genannt, wenn ich ihr vorgesungen habe.»
«Farblich passt das gut zu ihm», lachte Konstantin.
Inzwischen war ein leichter Wind aufgekommen, und Clera spürte, wie ihr trotz der Jacke die Kälte in die Glieder kroch. «Ich muss nach Hause», sagte sie unvermittelt und stand auf. Merl blieb brav neben ihr sitzen.
«Ich begleite dich», bot Konstantin an und erhob sich ebenfalls. «Mein Pferd steht nicht weit von hier.» Er deutete in die Richtung, aus der auch Clera gekommen war.
Schweigend gingen sie durch den Wald, bis zwischen den Bäumen das braune Pferd auftauchte, das Clera bereits kannte. Es hob den Kopf, als sie näherkamen.
«Komm her», sagte Konstantin und hob Clera in den Sattel, bevor sie protestieren konnte. Sie vergewisserte sich, dass ihr Rock ihre Knie bedeckte, ehe Konstantin Merl hochhob und ihn ihr hinhielt, dann schwang auch er sich geschickt hinter ihr auf das Pferd.
«Und nun geleitet der Prinz die Prinzessin nach Hause.»
Clera lachte. Es erinnerte sie an die Märchen, die ihre Grossmutter ihr früher erzählt hatte. Ihre Kleider fühlten sich noch immer klamm an, doch an ihrem Rücken konnte sie Konstantins Wärme spüren, und ihre Hände vergrub sie in Merls Fell. Langsam ritten sie durch den dichten Wald zurück zum Weg.
«Ist die Stelle, zu der du gelaufen bist, dein Versteck?», fragte er nach einer Weile und lenkte das Pferd geschickt um einen auf dem Boden liegenden Ast herum.
«Nein», antwortete Clera, «das von Horazio. Er hat mich einmal dorthin geführt, und dem Pferdemist nach zu schliessen hat er sich öfter dort aufgehalten.»
«Das ist mir nicht aufgefallen», lachte Konstantin. «Meine Aufmerksamkeit galt etwas anderem.»
Als der Weg in Sichtweite kam, spürte Clera einen Stich im Herzen. Sie hätte stundenlang so weiterreiten können.
«Trennen sich hier unsere Wege, Prinzessin?», flüsterte Konstantin ganz dicht neben ihrem Ohr.
Ein wohliger Schauer kroch über ihren Rücken, und sie lehnte den Kopf ein wenig nach hinten an seine Schulter. «Leider», seufzte sie. «Ich wollte, ich könnte mit dir zu deinem Schloss reiten.»
«Eines Tages wirst du das können.» Scheu drückte er ihr einen Kuss auf die Wange.
Clera spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
Geschickt stieg er ab und half ihr aus dem Sattel. Sie wollte ihm gerade sagen, dass sie keine Hilfe benötigte, entschied sich dann aber zu schweigen und seine helfende Hand zu nehmen.
«Bis bald», sagte er leise und strich ihr mit dem Finger über die Wange. «Ich entschuldige mich hiermit nochmals für die Gorillas meines Vaters und für den Schrecken, den sie – und ich – dir eingejagt haben.»
Clera schenkte ihm ein Lächeln. «Ich nehme deine Entschuldigung an», sagte sie, «wenn du versprichst, dass du dich gut um Horazio kümmerst.»
«Das verspreche ich dir», sagte er und nickte zur Bekräftigung. «Mach’s gut Clera, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.»
«Das hoffe ich auch.»
«Clera», rief Barla ihr von der Laube aus entgegen, als sie sie auf dem Pfad zum Hof erblickte. «Gott sei Dank! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht!»
«Ich war spazieren», sagte sie ruhig, in der Hoffnung, dass ihre Mutter nicht zornig wurde.
«Ich dachte, du kämst früher zurück.» In Barlas Stimme schwang keinerlei Zorn mit. Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie ihrer Tochter ansah, dass sie sich besser fühlte.
Clera atmete erleichtert auf und vergewisserte sich, dass Merl noch immer dicht hinter ihr war. «Tut mir leid», sagte sie, als sie die Laube erreichte. «Ich war im Wald und habe die Zeit vergessen. Es war so friedlich da.»
Barla nickte verständnisvoll, dann fiel ihr Blick auf Merl, der soeben einen Käfer zu fangen versuchte. «Was ist das für ein Hund?»
«Der Kleine ist heimatlos», antwortete Clera schlagfertig. Sie hatte sich ihre Worte auf dem Heimweg sorgfältig zurechtgelegt. «Ich habe ihn mitgenommen, bevor er ...» Sie liess den Satz so stehen und setzte eine mitleidige Miene auf.
«Kind», wandte ihre Mutter ein, «wir haben bereits einen Hofhund.»
«Aber ich konnte ihn nicht seinem Schicksal überlassen», fuhr Clera fort. «Ich werde mich selbst um ihn kümmern, du wirst keine Arbeit mit ihm haben.»
Wäre der Zwischenfall mit Massimo nicht gewesen, hätte Barla wahrscheinlich nicht so schnell nachgegeben, doch ihr war bewusst, wie angeschlagen ihre Tochter war. «Vielleicht ist das ganz gut so», murmelte sie und ging vor Clera her ins Haus. «Aber er schläft in der Scheune oder im Stall.»
Clera nickte, obwohl sie bereits beschlossen hatte, dass ihr kleiner Freund in ihrer Stube schlafen würde.
«Soll ich das Abendessen vorbereiten?», fragte sie, nachdem sie ihren Beutel verstaut und Merl draussen angebunden hatte.
«Das habe ich bereits gemacht», antwortete Barla. «Wir sind ja nur zu fünft heute Abend.» Sie seufzte und setzte Wasser auf.
«Ich habe noch einmal versucht, mit deinem Vater zu reden», begann sie, während sie Holz nachlegte. «Er zeigt sich nach wie vor uneinsichtig und beharrt darauf, dass er diesen Massimo brauche.»
Clera verdrehte die Augen. «Mir hat er gesagt, wenn eines seiner Kinder nicht mit dem Knecht klarkomme, müsse einer von beiden gehen», sagte sie bitter. «Also ich.» Sie schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Niemand würde ihr diese Geschichte glauben. «Was hat er noch gesagt?»
Barla seufzte. «Er hat gejammert, wie arm er sei, dass er sich darum kümmern müsse, und wie schwierig es sei, einen Knecht zu finden.»
Clera schnaubte. «An jeder Ecke hier im Tal würde er einen zuverlässigeren und besseren Knecht finden. Massimo ist die Faulheit in Person. Und die Hochnäsigkeit!»
Barla stimmte ihr zu. «Ausserdem hat er mir vorgehalten, du hättest ihn zu viel Geld gekostet ...»
Nun brach Clera in lautes Gelächter aus. «Ich soll ihn viel Geld gekostet haben?», rief sie. «Mir hat er nie einen Lohn gezahlt, ich habe nie Geld besessen, ich durfte nicht weiter zur Schule gehen, aber für Massimo gibt er das wenige Geld aus, das er mit dem Verkauf der Rinder verdient hat!»
«Ich weiss», sagte Barla etwas ruhiger. «Aber ich fürchte, diese Eigenschaft hat er nun mal. Sein Vater war auch schon so.»
Clera erinnerte sich an ihren Grossvater. Ihm hatte wenig an der Familie gelegen. Sie blickte hinaus zur Laube, um zu sehen, was Merl machte. Er spähte durch die Ritze zwischen den Latten des Geländers und wedelte mit dem Schwanz.
«Er ist wirklich süss», hörte sie ihre Mutter hinter sich sagen. «Gut, dass du ihn gerettet hast.»
Clera lächelte. «Wer hätte diesen Augen schon widerstehen können ...»
«Hör mal, Clera», wechselte Barla abrupt das Thema und warf einen Blick zur Tür. «Ich weiss, dass du dich hier nicht mehr wohlfühlst. Wie könntest du auch, du kannst ja nicht einmal das Haus verlassen, ohne fürchten zu müssen, dass dieses Wildschwein noch einmal auf dich losgeht.»
Clera nickte.
«Deshalb habe ich einer Freundin in Thun geschrieben. Sie ist eine entfernte Verwandte von uns, eine Cousine vierten Grades.» Sie machte eine vage Handbewegung. «Nein, falsch, ihr Mann ist ein entfernter Cousin.»
Clera zog die Stirn kraus. Sie hatte nicht gewusst, dass sie Verwandte in Thun hatte. «Du hast nie von ihnen erzählt.»
«Wir hatten wenig Kontakt», meinte Barla, «aber bei einem unserer Besuche in Thun haben wir sie getroffen, erinnerst du dich?»
«Nein ...», antwortete Clera. Ein verschwommenes Bild tauchte vor ihrem geistigen Auge auf.
«Vielleicht erinnerst du dich, wenn du sie siehst. Ich habe Erika geschrieben und sie gebeten, dich für eine Weile bei sich aufzunehmen.» Sie verstummte und beobachtete die Reaktion ihrer Tochter, die jedoch keine Miene verzog. «Du könntest eine Weile bei ihr und ihrer Familie auf dem Hof oberhalb von Thun leben, bis ...» Sie seufzte. «Bis dieser Schuft endlich für immer weg ist.»
«Der wird nie gehen», wandte Clera ein, «Vater wird seine Meinung nie ändern.»
«Nun», meinte Barla, «ich habe Erika gebeten, möglichst schnell zu antworten. Wenn sie das getan hat, müsste ihr Brief bald ankommen. Würdest du morgen zur Post gehen?» Ihre Stimme war immer leiser geworden, als fürchte sie, jemand könnte mithören.
Clera nickte. Ihr Blick wanderte zu dem kleinen Hund, der draussen nach Fliegen schnappte. «Kann ich Merl mitnehmen?»
Barla seufzte. «Ich weiss nicht, aber da Erika und ihre Familie auf einem Hof leben, denke ich, dass das kein Problem ist.»
Clera dachte zurück an die Zeiten, als sie es sich nicht hatte vorstellen können, ihre Heimat zu verlassen. Allerdings fragte sie sich, inwiefern der Hof noch ihr Zuhause sein konnte, wenn sie sich nicht mehr sicher fühlte. Nun bot sich ihr die Gelegenheit, dieser Situation zu entfliehen. Aber die Stadt war ihr nicht geheuer. «Werde ich mich denn in der Stadt zurechtfinden?», fragte sie unsicher.
Barla strich mit der Hand über ihr Haar. «Sicher», flüsterte sie, «du bist doch eine starke junge Frau.»
Clera schenkte ihr ein dankbares Lächeln. «Und wann soll ich abreisen?»
«Das hängt davon ab, was Erika meint», erwiderte Barla. «Morgen, spätestens übermorgen werden wir es wissen.»
Clera nickte und umarmte ihre Mutter. «Ich werde euch vermissen», sagte sie leise, «aber ich glaube auch, dass ich etwas Abstand brauche.»
«Thun liegt ja nicht am Ende der Welt», tröstete Barla ihre Tochter. «Du kannst uns jederzeit besuchen kommen. Mit der Bahn ist das gar nicht mehr so schwer.»
«Danke, dass du das für mich arrangiert hast», sagte Clera und löste sich aus der Umarmung. Als sie die Haustür zuschlagen hörte, wischte sie sich hastig die Tränen aus den Augen und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Kurz darauf kam Michel in die Küche gelaufen.
«Was ist das für ein Hund da draussen?», fragte er aufgeregt und deutete auf die Tür zur Laube.
«Das ist meiner», antwortete Clera. «Merl heisst er.»
«Darf ich ihn reinlassen?»
Barla warf ihrem jüngsten Sohn einen missbilligenden Blick zu. «Michel, du weisst, dass die Tiere im Haus nichts zu suchen haben», tadelte sie ihn, doch Michel schien das wenig zu beeindrucken. Flink hatte er die Tür geöffnet und war hinausgeschlüpft. Merl wedelte erfreut mit dem Schwanz und sprang an ihm hoch. Clera beobachtete die beiden durch das Fenster.
«Erika hat drei Kinder, etwa in eurem Alter», hörte sie ihre Mutter sagen und bemühte sich, das Lachen zu verkneifen. «In ihrem Alter» konnte alles zwischen neun und fünfundzwanzig Jahren sein, doch sie fragte nicht nach.
Als sie später im Bett lag und in die Dunkelheit starrte, wanderten ihre Gedanken zum blauen See und zu Konstantin. Sie hatte sich sein Gesicht mit dem liebevollen Blick genau eingeprägt. Wenn sie daran zurückdachte, wurde ihr warm ums Herz und sie vergass für einen Moment den Ärger der letzten Tage. Nur der Gedanke daran, nach Thun zu gehen und ihn für längere Zeit nicht zu sehen, betrübte sie. Es erschien ihr nicht gerecht, dass sie genau jetzt, da sie sich nähergekommen waren, trennen sollten.
«Was hat das Schicksal wohl noch mit mir vor?», fragte sie leise in die Dunkelheit und tastete nach Merl, der neben ihrem Bett auf dem Boden lag. Er hob kurz den Kopf, legte ihn aber gleich wieder zwischen die Pfoten.
Beim Wort Schicksal musste sie an Katharinas Geschichte denken. Sie versuchte sich zu erinnern, was im letzten Kapitel, das sie gelesen hatte, geschehen war. Dann fiel ihr ein, dass auch Katharina ihre Heimat irgendwann verlassen hatte. Im Gegensatz zu ihr war sie aber ins Engadin gezogen, viel weiter weg also, und wieder einmal fragte sie sich, was wohl die Gründe dafür gewesen waren. Entschlossen schlug sie die Decke zurück, zündete die Kerze nochmals an und zog das Buch unter dem Kopfkissen hervor.