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Mitholz, August 1803

Der Sommer hätte nicht schöner sein können, dachte Katharina, als sie an einem sonnigen Morgen Mitte August die Haustür öffnete. Und doch merkte sie, wie die Tage wieder kürzer wurden. Wehmütig dachte sie an den Juni zurück, an die längsten Tage des Jahres. Sie mochte die Morgenstimmung, das besondere Licht und der Geruch erfüllten sie immer wieder mit grosser Freude.

Vergangene Nacht hatte sie sich mit Vitus getroffen. Er hatte recht behalten, bisher hatte niemand die Hexe im See gefunden und ihr war auch nicht zu Ohren gekommen, dass jemand sie vermisste. Allmählich schwanden ihre Sorgen.

Müde strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und stellte den Eimer ab, um die Stalltür zu öffnen. Ihr war übel, doch sie konnte die Kuh nicht warten lassen.

Gestern hatte sie Vitus wieder mit Louise in der Kirche gesehen, wie jeden Sonntag. Abends am See hatte er ihr wieder versichert, was er ihr vor einigen Wochen bereits gesagt hatte, nämlich, dass er diese Verbindung nicht eingehen würde.

Katharina hatte genervt die Augen gerollt. «Und wann gedenkst du, ihr das zu sagen?», hatte sie gefragt und mit den Armen heftig gestikuliert. «Nach der Hochzeit?»

Er hatte versucht, sie zu beruhigen, und ihr versprochen, heute mit Louise darüber zu reden. Morgen Abend würde er wieder um Mitternacht zum See kommen. Katharina war neugierig, was er ihr dann zu erzählen hatte. Seine Eltern würden einer Ehe mit einem Mädchen wie ihr nicht ohne Weiteres zustimmen, das war ihr klar, doch sie wusste auch, wie überzeugend Vitus sein konnte. Zudem hatte sie sich vorgenommen, ihre Aussteuer besonders sorgfältig zu machen. Seine Eltern sollten sehen, wie fleissig und geschickt sie war, auch wenn sie aus einfachem Hause stammte.

Ihre drei kleinen Brüder stürzten sich gierig auf die Milch, als ihre Mutter den Krug auf den Tisch stellte. «Langsam», mahnte diese, «es ist genug für alle da.»

Katharina griff nach einer Scheibe Brot, obwohl sie gar nicht hungrig war. Mit einem Ohr hörte sie ihren Brüdern zu, die sich gegenseitig mit den Fröschen, die sie gestern gefangen hatten, zu übertrumpfen versuchten.

Nur ihr Vater sass mit grimmiger Miene am Tisch und blätterte in der Zeitung vom Vortag.

«Vater, du wirkst ernst», sprach Katharina ihn an. «Ist etwas geschehen?»

Er seufzte und warf die Zeitung neben sich auf die Bank, bevor er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. «Im Dorf gehen Gerüchte um», sagte er dann. «Man unterstellt mir etwas.»

Katharina legte ihre Brotscheibe zurück auf den Teller. Noch nie hatte sie ihren Vater so bedrückt gesehen. Sie merkte, dass alle am Tisch verstummt und alle Augen auf ihn gerichtet waren.

«Vor Kurzem ist eine alte Frau aus Kandergrund verschwunden», begann er. «Sie war eine Verwandte des Lehrers, seit vielen Jahren Witwe und lebte allein in einem kleinen Haus am Dorfrand. Jemand hat gesagt, er habe sie zuletzt in Mitholz, nicht weit von unserer Werkstatt entfernt, gesehen. Das sei aber schon einige Zeit her ...» Er brach seine Erzählung ab.

Katharina spürte die Spannung, die in der Luft hing. «Hast du sie auch gesehen?»

Ihr Vater schüttelte den Kopf. «Nein, ich war an dem Abend nicht dort, aber dennoch scheinen nun alle zu glauben, ich hätte etwas mit ihrem Verschwinden zu tun.»

Katharina biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Nun wusste das Dorf also, dass die alte Elsa verschwunden war. Eine Verwandte des Lehrers, der – wie sie wusste – Louises Vater war, das konnte nur die alte Hexe sein. Vielleicht war sie ja wirklich in Mitholz gewesen, bevor sie gegen Mitternacht Vitus in den Wald gefolgt war? Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

«Der Mann, der den Verdacht geäussert hat, dass ich etwas wüsste, ist leider sehr einflussreich, sodass alle ihm glauben», fuhr ihr Vater fort.

Katharina senkte den Blick. Dieser Mann konnte durchaus Vitus’ Vater gewesen sein. Er war der einflussreichste Mann, der ihr in den Sinn kam. Erneut nahm sie das Stück Brot in die Hand, doch ihr wurde gleich wieder übel. Sie atmete tief durch, während ihre Mutter versuchte, ihren Vater zu beruhigen.

«Katharina», hörte sie Grossmutter fragen, als sie das Geschirr vom Frühstück abräumte. Ihre Brüder waren zusammen mit ihrem Vater zur Werkstatt aufgebrochen und Maria half ihrer Mutter im Haus. Nur Grossmutter war am Tisch sitzen geblieben und sah ihrer ältesten Enkelin bei der Arbeit zu. Katharina erstarrte, als sie ihre Stimme hörte. Diesen Tonfall schlug sie äusserst selten an.

«Grossmutter?», fragte sie zurück und drehte sich langsam zu ihr um.

«Geht es dir gut?»

Katharina zögerte. «Ja, ich fühle mich gut», log sie so gut wie möglich. «Wieso denkst du?»

«Du siehst müde aus ... als hättest du in letzter Zeit kaum geschlafen. Und du bist sehr blass geworden.»

«Nun», sagte sie und suchte nach Worten. «Ich habe in letzter Zeit nachts oft wach gelegen.» Das entsprach wenigstens teilweise der Wahrheit, doch sie fühlte sich schrecklich, dass sie ihre Grossmutter anlügen musste. Als diese nicht antwortete, wandte sie sich um und stellte das Geschirr in den Schrank.

«Wenn du etwas auf dem Herzen hast», sagte ihre Grossmutter nach einer Weile, «dann komm zu mir. Es gibt für jedes Problem eine Lösung.»

Katharina schenkte ihr ein dankbares Lächeln und verliess den Raum. Als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, atmete sie tief durch. So konnte es nicht weitergehen, Grossmutter war bereits aufgefallen, dass sie viel zu wenig schlief. Irgendwann würde ihr jemand auf die Schliche kommen. Vitus muss endlich mit Louise reden, dachte sie und atmete nochmals tief durch, in der Hoffnung, die Übelkeit würde dadurch verschwinden.

Langsam öffnete sie die Haustür, um im Garten nach dem Rechten zu sehen. Im August wuchs das Gemüse zwar gut, aber auch das Unkraut wucherte. Vorsichtig ging sie zwischen den Beeten hin und her und sah sich um, was es zu tun gab, und was sie für das Mittagessen verwenden könnte.

«Katharina», hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme vom Zaun her.

«Mena!» Sie richtete sich wieder auf und ging hinüber zu ihrer einstigen Nachbarin. Philomena war drei Jahre älter als sie und lebte seit ihrer Heirat vor einem Jahr in Kandergrund. Als Kinder hatten sie oft miteinander gespielt. «Besuchst du deine Eltern?»

«Ja», erwiderte Mena. «Ich habe Mutter ein paar Dinge vorbeigebracht. Wie geht es dir?» Sie strahlte Katharina an, deren Anspannung sogleich von ihr abfiel.

«Gut», log Katharina und erwiderte das Lächeln.

Mena sah sie an, und ihre Miene veränderte sich kaum merklich. «Du siehst müde aus», sagte sie mitfühlend, «und blass.»

Katharina nickte. Sie hätte wissen müssen, dass Mena ihr ansah, dass es ihr nicht sehr gut ging. «Stimmt», sagte sie. «In letzter Zeit schlafe ich nicht besonders gut.» Sie bemühte sich um ein Lächeln. «Komm, wir setzen uns auf die Bank vor dem Haus.» Sie deutete auf die Bank an der Wand. Mena nickte und folgte ihr dorthin.

«Und was ist es, was dir schlaflose Nächte beschert? Haben deine Eltern einen Mann für dich gefunden?», fragte Mena und zwinkerte ihr zu.

Katharina lachte und schüttelte den Kopf. «Nein, das haben sie nicht, aber ...» Sie senkte die Stimme und sah sich kurz um, ob niemand in der Nähe war. «Ich habe einen kennengelernt.»

Menas Augen blitzten erneut auf. «Kennen deine Eltern ihn?»

«Nein ...» Sie suchte nach Worten. «Wir treffen uns heimlich. Er würde mich gerne heiraten ...»

«Katharina, das sind ja wundervolle Neuigkeiten!», freute sich Mena und umarmte ihre Freundin. Katharina schätzte ihre lockere Art, doch selbst empfand sie beim Gedanken an Vitus immer gleich viel Sorge wie Freude.

«Ich habe auch gute Neuigkeiten», sagte Mena. «Ich werde Mutter!»

Nun war es Katharina, die ihre Freundin umarmte. «Du wirst eine vorbildliche Mutter sein», sagte sie. «Wann denn?»

«Im Winter, wahrscheinlich im Januar.» Katharina sah die Freude in ihren blauen Augen leuchten. Liebevoll strich sie mit der Hand über ihren Bauch, der unter ihrem Rock nicht grösser aussah als sonst. «Wir sind überglücklich!»

«Das glaube ich», sagte Katharina. «Und ist bisher alles gut verlaufen, hast du keine Probleme gehabt?»

«Anfangs war mir morgens oft übel», meinte Mena. «Ich konnte kaum etwas essen und fühlte mich müde. Wir dachten schon, ich sei krank, doch als Mutter sagte, das Ausbleiben der Monatsblutung deute eher auf ein Kind hin als auf eine Krankheit, war mir alles klar.»

Mena redete weiter, doch Katharina hörte nichts mehr. Ihre Monatsblutung müsste auch wieder fällig sein. Angestrengt dachte sie nach, wann sie sie zum letzten Mal gehabt hatte. Sie wusste es nicht, es lag länger zurück als üblich. Viel länger. Ausserdem war auch ihr in letzter Zeit oft übel gewesen, und matt und blass war sie ebenfalls. Langsam strich auch sie mit der Hand über ihren Bauch, während ihr tausend Gedanken durch den Kopf wirbelten.

«Katharina?», hörte sie Mena fragen. «Ist alles in Ordnung?»

Sie wusste, dass ihre erstarrte Miene Bände sprach, als sie ihrer Freundin in die Augen sah.

«Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen», sagte Mena besorgt. «Was ist los?»

«Ich ... tut mir leid, ich habe dir nicht mehr zugehört», murmelte Katharina. «Was hast du gesagt?»

Mena winkte ab. «Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Kann ich dir irgendwie helfen?»

Katharina wollte den Kopf schütteln. Entsetzt starrte sie vor sich hin. Sie hätte ihre Bedenken damals äussern sollen, sie hätte auf ihr schlechtes Gewissen hören sollen, sie hätte die Worte aussprechen sollen ...

«Kann ich dir irgendwie helfen?», wiederholte Mena ihre Frage. Ihre besorgte, fürsorgliche Miene rührte Katharina zu Tränen. «Willst du mir nicht sagen, was los ist?»

Katharina blinzelte ein paarmal und atmete tief durch. «Ich fürchte ...», sie brach ab und sah sich nochmals um, ob wirklich niemand sie hören konnte. «Ich fürchte, ich bekomme ebenfalls ... ein Kind ...»

Mena sah sie verständnislos an. «Ach, ...» Mehr schien ihr auch nicht einzufallen. «Und das ist dir ... jetzt klargeworden? Freut es dich nicht?»

Unschlüssig nickte Katharina, schüttelte dann den Kopf und zuckte mit den Schultern.

«Wer ist denn der Vater?», fragte Mena leise. «Der Mann, in den du dich verliebt hast?»

Katharina nickte.

«Wer ist er?»

«Vitus Balthasar.»

Mena runzelte die Stirn. «Ich dachte, der sei mit Louise verlobt.»

«Eigentlich hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten wolle, bevor seine Eltern die Verlobung mit Louise bekanntgegeben haben. Er hat gesagt, er werde heute mit ihr reden und dann unsere Verlobung öffentlich machen. Leider schiebt er das Gespräch mit ihr schon lange vor sich her.»

«Nun», meinte Mena, «das wird er jetzt endlich tun müssen, wenn er der Vater deines Kindes ist.»

«Noch bin ich mir ja nicht sicher ...», wandte Katharina ein, «aber mir war auch oft übel in letzter Zeit und ... es könnte durchaus sein ...»

Menas Gesichtsausdruck liess nicht erkennen, ob sie das gut fand oder nicht.

«Morgen Abend sehe ich ihn wieder.»

«Du musst es ihm sagen, Katharina», mahnte Mena. «Dann wird er mit Louise sprechen müssen, und schon bald bist du unter der Haube.» Sie lächelte ihr aufmunternd zu. «Du wirst sehen, alles kommt gut!»