Ausser Atem erreichte Clera das Postbüro und stiess die Tür auf. Höflich grüsste sie den Herrn hinter dem Schreibtisch, den sie noch nie gesehen hatte, und war froh, dass er keine Fragen stellte.
Im Fach, das ihrer Familie gehörte, lagen mehrere Briefe. Aufgeregt ging Clera den Stapel durch, während sie langsam zurück zur Tür ging. Ein Brief für Clau war dabei, den sie ihm nach Thun würde nachschicken müssen, einer für ihren Vater, einer für Massimo, bei dessen Anblick ihr beinahe übel wurde, und schliesslich einer für ihre Mutter, der ihr Herz schneller schlagen liess. Die geschwungene Handschrift hatte sie noch nie gesehen. Sie drehte den Brief um und atmete auf, als sie die Adresse des Absenders las. «Erika Gerber», murmelte sie, öffnete die Tür und trat ins Freie. Es reizte sie, den Brief zu öffnen, doch da er an ihre Mutter adressiert war, würde sie das ihr überlassen müssen.
Merl, den sie draussen an einem Laternenpfahl angebunden hatte, sprang auf, als sie sich näherte. «Na, mein Kleiner», begrüsste sie ihn. «Siehst du, da bin ich schon wieder.» Sie streichelte seinen Kopf und band ihn los.
Sie zögerte kurz, dann zerriss sie kurzentschlossen Massimos Brief und warf ihn ins Gebüsch neben dem Gebäude. «Ich bin nicht seine Postbotin», murmelte sie, steckte die anderen Briefe in ihren Stoffbeutel und machte sich auf den Weg zum Wald.
«Nein, Merl, wir gehen nicht zu deinem alten Zuhause», sagte sie, als sie zur ersten Abzweigung kam. «Du weisst genau, wo du gewohnt hast, nicht wahr?» Der kleine Hund machte ein in ihren Augen verwirrtes Gesicht, folgte ihr dann aber. Seine Gangart war noch immer ein wenig tapsig, und die übergrossen Pfoten passten noch nicht zu seiner Körpergrösse.
«Clera!», hörte sie plötzlich jemanden rufen. Im ersten Moment zuckte sie zusammen, wie sie es oft tat, seit Massimo sie angegriffen hatte. Besonders das Klopfen an der Tür erschreckte sie jedes Mal. Mehr als einmal hatte sie sich bereits mit einem Holzscheit bewaffnet, bevor sie die Tür geöffnet hatte. Einmal hatte Teodor geklopft, weil er mit beiden Händen einen Zuber getragen hatte, sodass er die Tür nicht selbst öffnen konnte, und einmal war es Rita gewesen, die höflicherweise angeklopft hatte, bevor sie den Raum betreten hatte. Clera war sich dumm vorgekommen, aber beide hatten Verständnis gezeigt.
Als sie sich umdrehte, erkannte sie etwas weiter hinter sich Konstantins braunes Pferd.
«Schön, dich zu sehen!», rief er erfreut und rutschte aus dem Sattel, bevor sein Pferd ganz zum Stillstand kam.
«Grüss dich, Konstantin», sagte sie und strahlte ihn an. In seiner Anwesenheit konnte sie ihren Ärger beiseiteschieben. Merl rannte auf seinen ehemaligen Herrn zu und sprang an ihm hoch. Konstantin begrüsste auch ihn wortreich und kraulte ausgiebig sein dichtes Fell.
«Wie geht es dir?», erkundigte er sich schliesslich an Clera gewandt. «Ist dein Vater inzwischen zur Besinnung gekommen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, und ich fürchte, das wird er auch nie.»
In Konstantins Augen sah sie Zorn aufflackern. «Das ist doch nicht möglich», murmelte er kopfschüttelnd. «Jeder andere könnte sich nicht mehr im Spiegel ansehen.»
Clera schwieg. Es hatte keinen Zweck, etwas dazu zu sagen, obwohl sie sonst Wut und Frustration gerne mit Worten zum Ausdruck brachte.
«Soll ich mit ihm reden?»
Sie sah ihn erstaunt an. «Wenn du magst», meinte sie, «aber es wird nichts bringen.»
«Wie kannst du überhaupt noch mit ihm unter einem Dach wohnen?»
Clera zuckte mit den Schultern. «Mit Mühe», sagte sie schliesslich, «ich gehe ihm aus dem Weg, so gut ich kann. Aber nun hat meine Mutter vielleicht eine Lösung gefunden. Sie hat einer Verwandten in Thun geschrieben, ob ich eine Weile bei ihr und ihrer Familie leben könnte.» Ihr Herz zog sich zusammen, als sie Konstantins bestürztes Gesicht sah, und zum ersten Mal fragte sie sich, wie viel er wohl wirklich für sie empfand.
«Du gehst weg?»
Sie nickte.
«Aber ... du kommst zurück, nicht wahr?»
«Ich weiss nicht ...» Sie senkte den Blick, um ihn nicht ansehen zu müssen.
«Clera», er packte sie sanft an den Schultern, «bitte, komm mit mir.»
Scheu blickte sie zu ihm auf. In seinen blauen Augen lag ein liebevoller, jedoch flehender Ausdruck, als hätte sie ihm gesagt, sie werde für immer verschwinden.
«Das kann ich nicht», flüsterte sie, «was würden deine Eltern dazu sagen? Und meine Mutter? Sie wissen doch nicht einmal, dass wir uns kennen.»
«Vielleicht sollten sie das langsam erfahren ...»
Wieder schüttelte sie den Kopf. «Und dann? Meine Mutter und meine Brüder würden gut auf mich aufpassen, ich dürfte nicht mehr allein spazieren gehen.» Sie blickte zu ihm auf. «Und deine Eltern würden einer ... Verbindung zwischen uns nie zustimmen, oder?»
«Vielleicht nicht, aber ...»
«Lass uns noch etwas abwarten, ja?», meinte sie, als er nicht weitersprach. «Ich lasse es dich wissen, ob ich nach Thun gehe und wo ich dann wohnen werde.»
«Das ist noch nicht sicher?»
«Nein ...» Clera deutete auf ihren Beutel. «Das steht in dem Brief an meine Mutter, den ich soeben bei der Post abgeholt habe.»
«Sag es mir, wenn du Genaueres weisst. Und Clera ...» Er zog sie etwas näher zu sich heran und spürte, wie sie sich verspannte. «Auch wenn du für mehrere Monate nach Thun gehst, werde ich auf dich warten.»
Langsam fiel die Anspannung von ihr ab, und auf ihren Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob das die romantische Liebe sein konnte, von der sie gelesen hatte. Beinahe wünschte sie sich, er würde sie küssen, wich dann aber zurück, obwohl er keine Anstalten machte.
«Pass auf dich auf», flüsterte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Ein ungewohntes Gefühl machte sich in ihr breit und sie schlang spontan die Arme um ihn. Als sie ihren Kopf gegen seine Brust lehnte, hörte sie seinen Herzschlag.
«Ich werde wiederkommen», sagte sie, «wenn nicht wegen meiner Familie, dann deinetwegen.»
Er streichelte sanft ihr Haar. «Sehen wir uns noch einmal, bevor du abreist? Ich möchte dir etwas mitgeben ...»
Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen, fragte aber nicht, was das sein mochte. «Ich weiss nicht, wann ich abreise, vielleicht.»
«Kannst du dich morgen Nachmittag davonschleichen und zu deinem Versteck oben bei den Felsen kommen?»
«Keine Ahnung.» Plötzlich kam ihr Katharina in den Sinn. «Aber ich könnte mich nachts wegschleichen.»
Er sah sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen an. «Du willst nachts hierherkommen?», fragte er. «Im Dunkeln von eurem Hof ...?»
Sie nickte. «Glaub mir, ich kenne den Weg besser als meinen Stoffbeutel. Ausserdem ist heute Vollmond, es wird nicht stockfinster sein.»
«Na, schön», willigte er schliesslich ein. «Um Mitternacht am See?»
Clera musste beinahe lachen. Seine Worte klangen wie die von Vitus. Sie hatte sich schon mehrmals gefragt, ob Konstantin wohl einer seiner Nachkommen war, was er dem Namen nach fast sein musste. «Gut, ich werde da sein.»
«Bis dahin weisst du auch, was in dem Brief steht.»
Sie nickte. «Bis heute Abend», flüsterte sie und löste sich aus seiner Umarmung. Merl, der brav neben den beiden gesessen hatte, sprang auf und sah zu ihr hoch.
«Bis dann.» Mit diesen Worten drehte er sich zu seinem Pferd um und schwang sich in den Sattel.
Barla stand in der Küche, als Clera zu Hause ankam, was öfter vorkam, seit die erste Heuernte des Jahres auf dem Heustock lag. Aufgeregt riss sie den Brief auf und überflog die Zeilen.
Liebe Barla, las sie vor. Vielen Dank für deinen Brief. Wie du gebeten hast, antworte ich dir umgehend, und hoffe, dass dieses Schreiben dich schnellstmöglich erreicht. Es ist ungeheuerlich, was eure Clera da durchmachen musste! Schrecklich! Ein junges Mädchen sollte doch auf seinen Vater zählen können. Wir helfen euch gerne, soweit es in unserer Macht steht. Wenn du Clera gerne für einige Zeit zu uns schicken möchtest, so ist sie auf unserem Hofe herzlich willkommen. Schreib mir, wann sie ankommt, jemand von uns wird sie am Bahnhof Thun erwarten.
Mit lieben Grüssen, Erika.
Erleichtert blickte sie Clera an, deren Nervosität sich ebenfalls wieder gelegt hatte. «Ein Glück», sagte Barla. «Ich werde ihr umgehend antworten. An den Werktagen fährt jeweils gegen Mittag ein Zug nach Thun, glaube ich ...» Sie begann in einem Haufen alter Zeitungen und Briefe zu wühlen. «Teodor hat mir gesagt, wann Züge verkehren, ich habe es mir irgendwo aufgeschrieben ...»
«Ich bin noch nie allein Zug gefahren», warf Clera ein und trat unruhig von einem Bein auf das andere.
«Keine Sorge», beruhigte ihre Mutter sie. «Die Reise ist nicht so lang, wie du vielleicht denkst.» Inzwischen hatte sie den Zettel gefunden.
«Wenn du heute in einer Woche fährst, hast du genug Zeit, um deine Sachen zu packen, und der Brief erreicht Erika sicher rechtzeitig.» Sie sah ihre Tochter fragend an.
Clera nickte, da sie nichts einzuwenden hatte. Langsam ging sie zum Fenster, während ihre Mutter den Brief an Erika verfasste. Floc tobte mit Merl im Hof herum, ansonsten war niemand zu sehen.
«Frag bitte, ob ich Merl mitnehmen kann», rief sie ihrer Mutter zu, ohne den Kopf zu drehen. Erikas Brief hatte freundlich geklungen, trotzdem war ihr nicht ganz wohl bei dem Gedanken, bei Fremden zu wohnen. Andererseits war sie froh, wenigstens für eine gewisse Zeit von diesem Hof wegzukommen. Ihr Blick wanderte zur Wanduhr. Bis Mitternacht würden noch einige Stunden verstreichen müssen.
«Hier», ertönte nach einer Weile die Stimme ihrer Mutter hinter ihr. «Bring ihn morgen zur Post», sagte sie und reichte ihr den Brief.
Clera nahm den Umschlag.
«Danke. Und hilfst du mir beim Abendessen?»
Clera nickte, bevor sie in ihr Zimmer ging, um den Brief in den Stoffbeutel zu legen. So würde sie ihn sicher nicht vergessen.
Cleras Gedanken wanderten zu Konstantin und zu Horazio, während sie das Essen zubereitete. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Pferd im Wald, Konstantins Lächeln, als er ihr Merl geschenkt hatte, und den See, der sie wie magisch anzog. Gedanken an ihren Vater und Massimo verdrängte sie vehement.
Die Zeit schleppte sich dahin. In den letzten Tagen war sie beim Essen stets sehr schweigsam gewesen, sodass heute niemandem auffiel, dass sie mit den Gedanken woanders war. Nachdenklich sah sie zu Michel hinüber. Er hatte geweint, als er erfahren hatte, dass sie weggehen würde.
Auch ihr Vater sagte kaum ein Wort. Sie bemühte sich, woanders hinzusehen, hörte jedoch wie bei jeder Mahlzeit sein pausenloses Schmatzen, das sie so sehr verabscheute.
Je dunkler es wurde, umso nervöser wurde Clera. Wie immer zog sie sich als Letzte zurück, setzte sich auf ihr Bett und wartete. Im Haus war kein Laut mehr zu hören. Merl hatte sie in den Stall gebracht, damit er nicht in ihrer Stube bellte, während sie nicht da war.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie um 23:00 Uhr leise die Haustür öffnete und hinaus auf den Hof huschte. Für einen Moment blieb sie im Schatten des Hauses stehen und lauschte in die Dunkelheit. Sie hatte recht gehabt, der volle Mond erhellte die Landschaft mit seinem kalten Licht, sodass sie jeden Stein auf dem Weg auch ohne Kerze erkennen konnte. Sie wählte den Waldweg, der nicht an Massimos Hütte vorbeiführte, überquerte die Bahngleise und trat schliesslich unten im Tal aus dem Wald. In keinem der Häuser brannte Licht.
Als sie sich dem kleinen Gewässer näherte und vor sich zwischen den Bäumen ein Licht aufflackern sah, blieb sie kurz stehen. Auf genau dieselbe Weise hatte Katharina sich mit ihrer grossen Liebe getroffen, an derselben Stelle, zur selben Zeit, aber über hundert Jahre vor ihr.
Mit klopfendem Herzen ging sie weiter auf das Licht zu. Konstantin stand am Ufer und blickte auf das Wasser hinaus, das bei Nacht nicht anders aussah als das anderer Bergseen.
«Clera», rief er, als sie seinen Namen sagte. Er strahlte über das ganze Gesicht und streckte die Hand nach ihr aus. «Schön, dass du gekommen bist.»
Sie liess sich von ihm in die Arme nehmen und lehnte sich gegen seine Brust. «Ich reise erst in einer Woche ab», sagte sie, da ihr nichts Besseres einfiel, um ein Gespräch zu beginnen.
«Sehr gut», flüsterte er, «dann sehen wir uns sicher nochmals.»
«Morgen muss ich einen Brief zur Post bringen», fuhr sie fort, «am frühen Nachmittag.»
«Gut zu wissen», lachte er und legte sein Kinn auf ihren Kopf. «Du wirst mir fehlen, wenn du weg bist.»
«Du mir auch», flüsterte sie schliesslich, «und der See.»
«Sollte ich einmal in Thun weilen, werde ich dich besuchen», versprach er.
Clera lachte, glaubte jedoch nicht, dass er das tun würde. Erika würde sicher Fragen stellen und ihn an der Tür abweisen.
«Ich möchte dir etwas mitgeben», sagte er nach einer Weile, zog etwas aus seiner Jackentasche und reichte es Clera.
Sie betrachtete den dicken Umschlag in ihrer Hand. «Ist das etwa ... Geld?» Sie sah ihn mit weitaufgerissenen Augen an.
«Der Finderlohn für Horazio», erklärte er. «Du hast ihn verdient.»
«Und was ist mit den Knechten deines Vaters, die ihn eingefangen haben? Die werden ihn doch sicher auch eingefordert haben?»
Er nickte. «Mein Vater hatte die Summe erhöht, das aber vorerst nur mir mitgeteilt. Als ihn dann die Nachricht erreichte, dass das Pferd eingefangen worden sei, hat er mir den gesamten Finderlohn gegeben, um ihn ihnen auszuhändigen. Ich habe also den Betrag zuerst durch zwei geteilt, den einen Teil für dich beiseitegelegt und den anderen in drei gleiche Teile geteilt. Auf diese Weise sind die drei zufrieden und du hast deinen Anteil ebenfalls bekommen, ohne dass jemand davon erfahren hat.»
Beeindruckt öffnete sie den Umschlag und warf einen Blick auf die Banknoten. «So viel ...?», flüsterte sie überrascht.
«Horazio war meinem Vater einiges wert», erklärte Konstantin. «Und wenn du nach Thun gehst, wirst du sicher froh darum sein.»
Sie nickte und schob den Umschlag in ihre Rocktasche. «Ich habe noch nie Geld besessen, das ist ... eine ganz neue Erfahrung ...»
Er nickte verständnisvoll. Es erstaunte sie, dass er ihr so gut nachfühlen konnte. Alles, was sie in ihrem Leben über die Familie Balthasar gehört hatte – dass sie kein Verständnis für arme Leute hatten, kein Herz für die Unterschicht – schien auf ihn nicht zuzutreffen.
«Danke», flüsterte sie und umarmte ihn. Dabei kam sie sich ungeschickt vor, doch auch er legte die Arme um sie und hielt sie einen Moment lang fest.
«Da ist noch etwas, von dem ich möchte, dass du es hast ...», fuhr er fort, liess sie los und zog ein kleines Stoffsäckchen aus der Brusttasche seines Hemdes.
Clera wagte es nicht, danach zu greifen, bis er sie dazu aufforderte.
«Es gehört dir.»
Mit zitternden Fingern öffnete sie das Beutelchen und schüttete den Inhalt in ihre Hand. Für einen Augenblick erstarrte sie, als sie den blauen Stein an der goldenen Kette im schwachen Licht der Laterne erblickte. Er erinnerte sie an den aus Grossmutters Buch.
«Die hüte ich schon lange wie einen Schatz», erklärte er. «Meine Grossmutter meinte, ich solle sie aufbewahren und ... später einmal meiner Frau schenken. Da ich aber keine Frau habe ... zumindest noch nicht ...» Er suchte nach Worten. «Betrachte es als Zeichen unserer Freundschaft. So vergisst du mich nicht, wenn du in der Stadt bist.»
Clera blinzelte die Tränen weg. «Ich würde dich auch ohne die Kette nicht vergessen», versicherte sie ihm. «Danke. Das bedeutet mir sehr viel.» Sie betrachtete den Stein. «Du schenkst mir einfach so ein ... Erbstück von deiner Grossmutter?», flüsterte sie unsicher.
Er zuckte mit den Schultern. «Nicht einfach so, ich habe es mir gründlich überlegt und entschieden, dass du die Kette tragen sollst. Und sollten wir uns doch wieder aus den Augen verlieren, behalte sie. Wenn du einmal in Not bist, kannst du sie verkaufen.»
Sie runzelte die Stirn. «Das könnte ich nicht», lachte sie. «Was auch passiert, ich werde sie behalten.»
«Darf ich sie dir umhängen?»
Ohne ein Wort zu sagen, reichte sie ihm die Kette und hob ihren langen Zopf an. Geschickt schloss er den Verschluss in ihrem Nacken und liess seine Hände über ihre Schultern gleiten, sodass ihr eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Als sich sein Gesicht dem ihren näherte, wich sie nicht zurück, sondern wartete ab, was er tun würde. Sie hatte noch nie einen Kuss bekommen und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Im ersten Moment, als sie seine Lippen auf ihren spürte, fand sie es eklig, andererseits war sie zu neugierig, um zurückzuweichen.
«Dein erster Kuss?»
Sie spürte, dass sie errötete, und senkte den Blick. «Ja ... Wie könnte es auch anders sein?»
Er lachte mit ihr und streichelte ihr sanft die Wange. Plötzlich reizte es sie, ihn nochmals zu küssen, doch da sie nicht wusste, wie er reagieren würde, liess sie es bleiben.
Sie wusste später nicht mehr, wie lange sie dort am See gestanden hatten, die Küsse hatte sie nicht gezählt, doch sie erinnerte sich an jedes Wort ihres Gesprächs. Wie gerne wäre sie dort stehen geblieben, in seinen Armen, bis zur Morgendämmerung, doch irgendwann ging die Laterne aus, sodass nur noch das weisse Mondlicht die Umgebung erhellte. Konstantin liess sie kurz los, um die Laterne wieder anzuzünden. Vorsichtig tastete sie nach dem Stein an der Kette. Ein lustiger Zufall, dass er ihr einen Stein in derselben Farbe schenkte wie damals Vitus Katharina. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
«Haben deine Gedanken dich fortgetragen?», lachte er und legte die Hände auf ihre Oberarme.
Clera liess den Stein los. «Ich habe gerade an meine Ururgrossmutter gedacht», sagte sie. «Ihre grosse Liebe hat ihr auch einmal einen wasserblauen Stein geschenkt. Die beiden haben sich wie wir bei Nacht hier am See getroffen, hat meine Grossmutter mir erzählt.»
«Wirklich?», flüsterte er. «Das kann ich gut nachvollziehen, das hier muss das romantischste Fleckchen auf Erden sein.»
Seufzend lehnte sie den Kopf gegen Konstantins Schulter und schloss die Augen, während seine Hände pausenlos über ihren Rücken wanderten. Obwohl die Luft kühler wurde, wünschte sie sich, die Nacht würde noch länger dauern, als er sie schliesslich losliess.
«Komm, ich bringe dich nach Hause», flüsterte er ihr ins Ohr.
«Das ist nicht nötig», erwiderte sie, «es würde sehr lange dauern, bis du zu Hause wärst, vielleicht ist es dann sogar schon hell.»
«Nicht, wenn man zu Pferd unterwegs ist.» Er lächelte verschmitzt und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Im Vorbeigehen griff er nach der Laterne und streckte die andere Hand nach ihr aus. Sie ergriff sie und liess sich von ihm vom See weg in den Wald hineinführen.
«Unser Transportmittel», sagte er und deutete auf die beiden Pferde, die zwischen den Bäumen standen und dösten.
«Horazio!», rief Clera, als sie das schwarze Pferd im schwachen Licht der Laterne erkannte. Der Hengst stellte die Ohren auf. «Mein Schöner, ich habe dich so vermisst ...» Sie schlang die Arme um seinen Hals und streichelte das glatte schwarze Fell.
«Soll ich dir in den Sattel helfen?», fragte Konstantin hinter ihr.
Clera wollte gerade entgegnen, dass sie selbst aufsteigen könne, doch als ihr Blick auf den modernen Sattel fiel, stutzte sie. «Ja, bitte.»
Geschickt hievte er sie hoch. Mit der Laterne in der Hand ritt er voran, zurück zum Waldweg und dann in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Als sie den Waldrand erreichten, blies er die Laterne aus. Das Mondlicht erhellte die Landschaft genug, um den Weg zu finden. Clera spürte Horazios Muskeln unter dem Sattel und die Wärme seines Körpers an ihrem Unterschenkel. Das Pferd gehorchte ihr, als hätte sie es seit jeher geritten.
«Zeig mir den Weg», forderte Konstantin sie auf. Sie deutete auf den schmalen Pfad.
«Er führt durch den Wald, über die Bahngleise und schliesslich am Hof meiner Eltern vorbei.»
«Du wirst deine Heimat sicher vermissen, wenn du in Thun bist», sagte er und sah sie an, obwohl er sie im Schatten der Bäume kaum sehen konnte.
«Ja ...», sagte sie langsam, «ich kenne ja nichts anderes als dieses Tal. Du bist sicher weiter herumgekommen als ich.»
Er legte die Stirn in Falten, als müsste er nachdenken. «Gelegentlich schickt mich mein Vater nach Thun, um mit Geschäftspartnern zu verhandeln oder etwas einzukaufen.»
«Tust du das gern?»
Er zuckte mit den Schultern. «Manchmal. Meine Eltern besitzen ein Haus in der Stadt, ab und zu bleibe ich über Nacht und erledige am nächsten Tag weitere Verpflichtungen, um nicht allzu oft nach Thun fahren zu müssen. Aber wenn du dort bist ...» Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
«Schau, in dieser Hütte wohnt der Grobian, der mich verprügelt hat», flüsterte sie, als sie Massimos heruntergekommene Hütte passierten.
Konstantin blickte in die Dunkelheit. Als er weitersprach, hörte Clera die angestaute Wut in seiner Stimme. «Ich werde ihn mir vorknöpfen, diesen ...»
«Nein», sagte sie. «Das bringt nichts. Ich würde ihm auch gern ins Gesicht schlagen, aber dann bekäme ich Ärger.»
«Aber dass der Knecht gegen seine Tochter gewalttätig wird, heisst dein Vater gut?», fragte Konstantin ungläubig.
«Ja.» Clera wollte nicht weiter darüber reden und trieb Horazio an.
«Ich hätte ihn eigenhändig mit der Mistgabel aufgespiesst», hörte sie Konstantin hinter sich. Seine Aussage entlockte ihr ein Lächeln.
«Von hier aus gehe ich allein weiter», sagte sie, als das Wohnhaus in Sicht kam. Zu ihrer Erleichterung brannte kein Licht. Sie glitt von Horazios Rücken und warf ihm die Zügel über den Kopf. Konstantin tat es ihr gleich.
«Danke», flüsterte sie, als er sie zum Abschied in die Arme nahm.
«Das war doch selbstverständlich», erwiderte er. «Vielleicht sehen wir uns morgen noch einmal?»
Sie nickte. «Wenn alles klappt, reise ich in einer Woche erst ab, und bis dahin muss ich noch mehrmals die Post holen, da ich ja Erikas Antwortbrief abwarten muss.»
Konstantin lachte. «Ich werde mich also in nächster Zeit jeweils den ganzen Tag bei der Post herumtreiben.»
Clera erwiderte sein Lachen und löste sich von ihm. «Pass aber auf, dass niemand uns zusammen sieht», warnte sie.
«Und selbst wenn uns jemand sähe, wäre das ein Problem?»
Clera blieb der Mund offen stehen. «Wenn jemand meinen Eltern erzählt, dass ich mich im Tal mit einem Mann treffe, lassen sie mich nicht mehr allein aus dem Haus.»
«Schon gut», sagte er, «ich habe verstanden.»
Clera lachte.
«Schlaf gut», flüsterte er und küsste sie zum Abschied.
«Bis bald.» Es fiel ihr schwer, sich von ihm zu lösen.
Er sah ihr nach, bis sie die Stufen zur Laube erreicht hatte, wo sie sich noch einmal umdrehte. Im Mondlicht konnte sie erkennen, wie Konstantin sich auf sein Pferd schwang und mit Horazio am Zügel in der Dunkelheit verschwand. Selbst als sie ihn nicht mehr sehen konnte, blieb sie auf der untersten Stufe stehen und starrte in die Dunkelheit, während sie mit ihren Fingern etwa zum hundertsten Mal die Konturen des Steins an der Kette um ihren Hals nachfuhr.