Clera schlang ihre Finger ineinander und sah aus dem Fenster. Wiesen, Wälder und Berge zogen an ihr vorbei. Konstantin hatte ihr zwar versichert, dass Thun mit der Eisenbahn nur einen Katzensprung entfernt liege, aber für sie fühlte sich die Distanz weitaus grösser an.
Ihr Blick wanderte zu dem halbwüchsigen Hund, der zwischen ihren Füssen lag, den Kopf zwischen den Vorderpfoten. Sie beugte sich vor und streichelte ihm den Kopf, doch der kleine Sennenhund reagierte nicht. Neben ihm stand Cleras Koffer. Ihre kostbareren Güter hatte sie in ihrem Stoffbeutel verstaut, der auf ihrem Schoss lag. Viel hatte sie nicht dabei, Grossmutters Buch, das Geld von Konstantin und ein paar Münzen, die ihre Mutter wahrscheinlich aus der Familienkasse genommen hatte.
Sie dachte zurück an den Abschied von ihrer Familie an diesem Vormittag. Michel hatte geweint, danach aber tapfer ihren Koffer getragen. Ihr Vater hatte ihr nicht in die Augen sehen können. Sie hatte sich kurz und knapp von ihm verabschiedet. Die ganze Woche war er seiner Arbeit nachgegangen, als wäre nie etwas vorgefallen. Clera nahm ihm das sehr übel, und sie wusste, dass ihre Brüder das auch taten, ob sie es nun zeigten oder nicht. Zudem hatte sich das Verhältnis zwischen ihren Eltern merklich abgekühlt.
Sie atmete tief durch. Ihr war übel, seit sie aufgewacht war, und sie spürte, wie die Nervosität an ihr nagte. Auch Merl, der sonst voller Freude vor ihr hersprang, schien zu wissen, dass sie für längere Zeit weggingen, und war ruhig hinter ihr hergetrottet. Ab und zu hatte Clera sich nach ihm umgedreht, um zu sehen, ob er ihr noch folgte. Die ganze Zeit hatte sie gefürchtet, er würde irgendwann umkehren und zurück zum Hof laufen. Der Blick von Floc, als sie sich von ihm verabschiedet hatte, hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Er hatte nicht verstanden, warum sie ihn so lange gedrückt und sich so wortreich verabschiedet hatte.
Die Landschaft veränderte sich, das Tal wurde weiter und plötzlich kam der See in Sicht. Fasziniert blickte Clera hinaus auf die grosse, blaue Fläche. Auf der anderen Seeseite ragten Berge auf, und am Ufer reihten sich Dörfer aneinander. Die Sommersonne warf den Schatten der Berge, die sie hinter sich liess, auf das dunkelblaue Wasser.
«Spiez!», hörte sie den Kondukteur rufen, der soeben durch die Tür trat. Ausser ihr sassen nur wenige Reisende im Waggon, in dem seit ihrer Abfahrt in Blausee-Mitholz niemand ein Wort gesprochen hatte. Nervös umklammerte sie ihren Beutel und tastete nach dem Stein an ihrer Kette. Es war ihr gut gelungen, ihn unter ihrer Bluse zu verstecken, so wie Katharina es über hundert Jahre vor ihr getan hatte.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, stand sie auf, griff nach dem Strick, den sie an Merls Halsband festgemacht hatte, und nahm den Koffer in die andere Hand. Froh darüber, dass er nicht allzu schwer war, trug sie ihn zur Tür und stolperte ungeschickt rückwärts, als der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam. Als ihre Mutter ihr gesagt hatte, sie müsse in Spiez umsteigen, war sie beinahe in Panik geraten.
Scheu stieg Clera aus und fragte den erstbesten Mitreisenden nach dem Zug nach Thun.
«Gleich da drüben, Fräulein», sagte er und deutete auf die andere Seite des Bahnsteigs.
Clera bedankte sich und nahm Merl mit sich.
Die Minuten zogen sich in die Länge. Nervös trat sie von einem Fuss auf den anderen, blickte sich um und fragte sich, ob der Zug nicht auf einem anderen Bahnsteig bereits abgefahren war.
Die Anspannung fiel von ihr ab, als sie einen Zug in den Bahnhof einfahren sah. Erleichtert stieg sie ein.
«Ist hier noch ein Platz frei?», fragte sie die junge Frau, die im ersten Abteil am Fenster sass und leise vor sich hin zu summen schien. Zwei wache, freundliche Augen sahen sie an, als die Frau aufblickte.
«Natürlich, setz dich.»
Clera gelang ein Lächeln, als sie den Koffer abstellte. Artig setzte Merl sich hin und sah zu seiner Herrin auf. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Clera kraulte Merls Fell und beobachtete aus dem Augenwinkel neugierig die Frau, die ihr gegenübersass. Neben ihr auf dem Sitz lagen ein Beutel und ein grosser Korb. Clera schätzte sie ein paar Jahre älter als sich. Sie trug die Haare am Hinterkopf geflochten und blickte mit fast geschlossenen Augen vor sich hin. In diesem Moment dämmerte Clera, dass sie gar nicht so rundlich war, wie sie im ersten Moment gedacht hatte, sondern dass sie ein schlafendes Kleinkind in einem Tragetuch bei sich hatte. Als sie Cleras Blicke bemerkte, sah sie auf. Clera erwiderte ihr Lächeln.
«Die kleine Erna schläft, seit wir eingestiegen sind», sagte sie. «Wie ein Engel.»
Da Clera nicht wusste, was sie sagen sollte, nickte sie nur. Die Frau sprach einen Dialekt, den sie noch nie gehört hatte und nicht einordnen konnte.
«Reist du allein?»
«Ja», sagte Clera, «ich fahre zu Verwandten nach Thun.» Verlegen wandte sie den Blick ab und streichelte Merl den Kopf.
«Er ist allerliebst, dein Hund», hörte sie die Frau sagen.
Stolz blickte sie auf. «Das ist er, allerdings», sagte sie. «Ein Freund hat ihn mir geschenkt, seither sind wir unzertrennlich.»
«Das verstehe ich», lachte die Frau. «Ich hätte ihn auch sofort ins Herz geschlossen. Wie heisst er denn?»
«Merl», antwortete Clera. «Das rätoromanische Wort für Amsel.»
Ihr Gegenüber sah sie fragend an.
«Meine Familie kommt aus dem Engadin», erklärte sie. «Da spricht man Rätoromanisch ...» Spätestens jetzt war ihr klar, dass die Frau nicht von hier stammte. «Habt Ihr davon gehört?»
«Nein», sagte die Dame freundlich. «Ich lebe noch nicht lange in der Schweiz. Rätoromanisch habe ich noch nie gehört.» Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Lächeln schien sich durch nichts erschüttern zu lassen.
Clera spürte, wie die Nervosität von ihr abfiel. «Macht nichts», meinte sie. «Hier sprechen alle Deutsch.»
«Aber was für eins», lachte die Frau, «ich komme aus dem Norden, aus Ostpreussen. Wir sprechen auch Deutsch, aber ein ganz anderes. Manchmal erscheint mir der Dialekt hier wie eine fremde Sprache.»
Clera nickte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wo Preussen lag. Da sie nicht nachfragen wollte, blickte sie aus dem Fenster. Der See glitzerte in der Sonne, war jedoch bei Weitem nicht so blau wie das kleine Seelein im Wald.
«Erwartet dich jemand?», fragte die Dame, als der Zug in den Bahnhof Thun einfuhr und beide nach ihrem Gepäck griffen.
«Ich hoffe es», antwortete Clera, «zumindest hat meine Tante in ihrem Brief erwähnt, dass mich jemand abholt. Sonst wüsste ich nicht, wohin ich gehen sollte.»
«Sei unbesorgt, es wird alles gut werden.»
Clera erwiderte das aufmunternde Lächeln und spürte, wie sie sich beruhigte. Sie nahm Merls Leine, hob ihren Koffer hoch und bewegte sich langsam zwischen den Bänken hindurch zur Tür.
Als sie die vielen Leute auf dem Bahnsteig erblickte, verliess sie der Mut wieder. Sie kannte ihre Verwandten nicht und würde sie in der Menge niemals finden. Die junge Frau aus Preussen hingegen schien den Anblick gewohnt zu sein. Sie blieb neben Clera stehen und liess den Blick über die sich bewegenden Menschenströme wandern, bis sich der Bahnsteig allmählich leerte.
«Nun wird die Suche einfacher», sagte sie nach einer Weile.
Clera bewunderte sie für ihre Ruhe. Bald standen nur noch sie beide auf dem Bahnsteig.
«Komm, lass uns auf dem Platz vor dem Bahnhof nachsehen.» Die nette Dame legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. «Sie werden dich sicher nicht vergessen haben.»
Clera zog an Merls Leine und hob ihren Koffer wieder an.
«Dieses Jahr hat man begonnen, einen neuen Bahnhof zu bauen», erzählte die Dame weiter, «er soll näher beim See liegen.» Sie deutete in die Richtung, aus der der Zug gekommen war.
Clera nickte, sagte jedoch nichts dazu.
Auch auf dem Platz vor dem Bahnhof herrschte reges Treiben. Menschen, Kutschen, Fahrräder und ein Gefährt, das Clera noch nie gesehen hatte, bewegten sich wie Ameisen auf einem Haufen über den Platz in alle Richtungen.
«Das ist ein Lastwagen», hörte sie ihre Begleiterin sagen, die ihre Gedanken erraten hatte und auf das grosse Fahrzeug deutete.
«Unglaublich», flüsterte sie. «Und das bewegt sich ohne Pferd und ohne Lokomotive?» Sie kam sich ziemlich kindisch vor, riss den Blick wieder davon los und suchte weiter den Platz ab. Gerade als sie die junge Frau, die noch immer neben ihr stand, fragen wollte, ob sie zufällig den Hof ihrer Verwandten kannte, blieb ihr Blick an einem Mann hängen, der mit ernster Miene auf einem Fuhrwerk sass und ebenfalls mit den Augen den Platz absuchte. Er war ihr ins Auge gesprungen, weil er der einzige Mensch auf dem Platz war, der sich nicht von der Stelle bewegte. Unter seinem dunkelgrünen Hut lugten weisse Haare hervor und in seinem Mundwinkel hing eine Tabakpfeife. Als sein Blick den ihren traf, veränderte sich seine Miene.
«Ist er das?», fragte die Dame neben ihr.
Clera zuckte mit den Schultern. «Vielleicht», murmelte sie. «Ich kenne die Familie ja nicht, aber sie wissen, dass ich mit einem Koffer und einem Hund anreise.» Der Blick des Mannes auf dem Wagen ruhte noch immer auf ihr, doch bevor sie sich entschliessen konnte, ob sie auf ihn zugehen wollte, hatte sich die hilfsbereite junge Frau neben ihr bereits in Bewegung gesetzt.
Schnell griff Clera nach ihrem Koffer und folgte ihr.
«Entschuldigt, der Herr», hörte sie bereits ihre Begleiterin. «Seid Ihr hier, um Eure Nichte abzuholen, ein Mädchen aus den Bergen mit Hund?»
Clera staunte über ihre Direktheit.
«Iu», antwortete der Mann mit den weissen Haaren.
Inzwischen war Clera auch beim Wagen angelangt. «Grüss Euch», sagte sie scheu. Der scheinbar verschlossene Blick wanderte von der Frau neben ihr zu ihr hinüber und verwandelte sich mit einem Mal in ein freundliches Lächeln.
«Clera», rief er erfreut aus und sprang vom Wagen. «Sieh dich an! Letztes Mal warst du noch ein Mädchen, jetzt bist du eine junge Frau.»
Clera erwiderte sein Lächeln und reichte ihm die Hand. Erleichterung strömte durch ihren Körper.
«Ich bin Walter. Erika hat mich hergeschickt, sie war gerade nicht abkömmlich.» Sein Blick wanderte zu der jungen Frau, die immer noch neben Clera stand, mit der einen Hand hielt sie ihren Korb, mit der anderen streichelte sie über den Rücken ihres Kindes, das nach wie vor friedlich schlief.
«Ich dachte, du kommst allein», sagte Walter verwirrt und wandte sich ihr zu.
«Oh, ich habe sie in Spiez im Zug getroffen und nur mit ihr gewartet, bis sie Euch gefunden hat», erklärte sie und lächelte Clera freundlich zu. «Leb wohl, es hat mich gefreut.»
«Mich auch», erwiderte Clera, «und vielen Dank für Eure Hilfe!»
Flink wie ein Wiesel verschwand die Dame in der Menge.
«Sehr freundlich, dass sie sich um dich gekümmert hat», bemerkte Walter und hievte Cleras Koffer auf den Wagen, auf dem bereits ein paar Säcke und Kisten lagen. «Bist du gut gereist?»
«Ja», sagte sie und hob Merl ebenfalls auf den Wagen, bevor sie hinterherkletterte, «es ist mir leichter gefallen als erwartet.»
«Du warst ja in guter Begleitung», lachte er und streckte die Hand nach dem halbwüchsigen Berner Sennenhund aus, der hinter Clera auf dem Fuhrwerk sass. «Ein gutes Tier. Wie heisst er?»
«Merl», antwortete Clera, erleichtert, dass Walter ihren Hund zu mögen schien. Das schlechte Gewissen nagte noch immer ein wenig an ihr, dass sie den Hund mitbrachte.
«So, dann lass uns nach Hause fahren.» Walter setzte sich neben sie und nahm die Zügel auf. Gehorsam lief das Pferd los.
Langsam bewegten sie sich vom Bahnhof und den Menschenmassen weg, passierten ein paar Bäume und Häuser, und plötzlich überquerten sie eine Brücke. Das blaue Wasser des Flusses erinnerte Clera an den kleinen See, den sie jetzt schon vermisste, und liess sie nach dem Stein an der Kette tasten. Staunend betrachtete sie die hohen Häuser zu ihrer Linken. Bei deren Anblick fiel ihr auf, dass die Bilder, die sie im Kopf hatte, gar nicht Erinnerungen an einen Aufenthalt in Thun waren, sondern ihrer Fantasie entsprangen.
«So etwas gibt es bei euch nicht, nicht wahr?», lachte Walter neben ihr.
Sie schüttelte den Kopf. «Bei uns könnte man die Häuser des ganzen Dorfes aufeinanderstellen und sie wären noch nicht so hoch wie eure hier.»
Walter lachte über ihre Übertreibung. Kaum hatten sie die hohen Gebäude passiert, kam bereits wieder der Fluss in Sicht.
«Ist das ... eine Insel?», fragte sie und blickte zu Walter auf.
«Iu», sagte dieser.
Clera drehte sich auf dem einfachen Kutschbock um, um die Insel von der anderen Seite sehen zu können. Die Häuser, die direkt aus dem Wasser aufzuragen schienen, spiegelten sich in der gekräuselten Oberfläche.
«Gleich wirst du rechts das Schloss sehen», sagte Walter und deutete in eine bestimmte Richtung.
Unbewusst streichelte Clera Merls Kopf, als wollte sie sichergehen, dass der Hund noch da war.
«Da ist es.» Walter zeigte abermals in die Richtung, in die er zuvor gewiesen hatte.
Clera blickte das helle Gebäude mit den spitzen Türmen an. Auf eine gewisse Weise kam es ihr bekannt vor, doch sie wusste nicht, ob sie sich an ihren letzten Besuch in der Stadt erinnerte oder an Bilder, die sie in der Schule einmal gesehen hatte. Unweigerlich fragte sie sich, wer wohl hier wohnte. Der Schultheiss vielleicht oder Leute wie Konstantins Familie.
Als sie sich wieder umdrehte und nach vorn blickte, fiel ihr auf, dass die Häuser kleiner wurden und mehr Bäume in ihrem Blickfeld auftauchten. «Haben wir Thun schon hinter uns gelassen?», fragte sie scheu.
Walter lachte. «Thun ist keine grosse Stadt, ausser ... für dich vielleicht. Aber keine Angst, unser Hof liegt etwas ausserhalb des nächsten Orts. Steffisburg heisst das Dorf.» Für einen Moment betrachtete er die Verwirrung auf ihrem Gesicht, und Clera fragte sich, ob er sich darüber amüsierte.
«Thun ist nicht weit», sagte er, ohne sie anzusehen. «Seit einigen Jahren ist Steffisburg sogar durch eine Trambahn mit Thun verbunden.» Clera glaubte ein wenig Stolz in seiner Stimme zu hören. «Trotzdem geht Martina, unsere Tochter, lieber zu Fuss zum Markt nach Thun, da dann das Pferd die Einkäufe tragen kann.»
Zwischen den Häusern, die die Strasse säumten, erblickte Clera immer wieder Wiesen und Felder und fragte sich, wie die Bauern wohl hier auf den flachen Wiesen heuen mochten. Sie sprach kein Wort mehr, bis sie schliesslich das nächste Dorf erreichten.
«Willkommen in Steffisburg», sagte Walter feierlich, als die Wiesen am Strassenrand vollends Häusern wichen. Das Dorf sah anders aus als Thun und kam Clera überhaupt nicht bekannt vor.
Sie passierten die Kirche und liessen die Häuser von Steffisburg hinter sich.
«Gleich sind wir da», sagte Walter kurze Zeit später und lenkte das Pferd in die Einfahrt eines Hofes. Geschickter, als Clera es ihm zugetraut hätte, sprang er vom Wagen und hielt ihr die Hand hin, um ihr herunterzuhelfen. Merl sprang ihr übermütig nach. Neugierig sah Clera sich um. An das kleine Häuschen links neben der Einfahrt in den Hof schlossen sich scheinbar Schuppen an, die von der anderen Seite zugänglich waren. Vor ihr ragte das grosse Haus auf. Die Laube zum Hof hin war reicher verziert als die ihres Elternhauses, links davon lag der Stall, aus dem sie dumpfe Geräusche hörte, zu ihrer Rechten war eine abschüssige Wiese mit Bäumen.
«Unser Hofhund ist kürzlich verstorben», erklärte Walter und deutete auf Merl. «Es dürfte also keine Probleme geben.»
In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau mittleren Alters trat aus dem Haus. Aus dem Knoten an ihrem Hinterkopf hatten sich mehrere Strähnen gelöst und ihre Schürze war über und über mit Flecken bedeckt.
«Clera», rief sie, «herzlich willkommen auf unserem Hof!» Mit grossen Schritten kam sie auf Clera zu und umarmte sie überschwänglich. «Ich freue mich sehr, dass du da bist! Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen, bestimmt erinnerst du dich kaum.»
Clera wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und nickte.
«Wir hoffen, dass du dich hier wohlfühlst und dich von den schrecklichen Ereignissen erholen kannst. Bist du gut gereist?»
«Ja, danke», erwiderte Clera.
Als sie bemerkte, dass sie Merl die ganze Zeit über am Halsband festgehalten hatte, obwohl er folgsam neben ihr stand, liess sie ihn los. Der halbwüchsige Berner Sennenhund preschte sofort los und sprang an Erika hoch.
Clera erschrak und versuchte, den Hund wieder zu fassen zu kriegen, doch Erika reagierte gelassen. «Tut mir leid», sagte Clera leise und zog Merl von ihrer Tante weg. «Normalerweise tut er das nicht.»
«Ach, er ist noch jung», lachte Erika, «und auch für ihn ist alles hier neu. Unser Hund ist ja leider nicht mehr.»
Clera nickte. «Walter hat es mir erzählt.»
«Umso schöner ist es, wieder einen Hund auf dem Hof zu haben, wenn auch nur vorübergehend.» Sie streichelte Merl den Kopf, bevor sie sich an Walter wandte.
«Bring Cleras Koffer doch in die kleine Kammer im oberen Stock, ich habe alles hergerichtet.
«In Ordnung», sagte Walter und stapfte hinüber zur Laube, von der aus eine Treppe ins obere Stockwerk führte. «Bis später, Clera!»
«Komm, ich zeige dir alles», sagte Erika, deren Augen noch immer vor Freude glänzten.
«Gern», erwiderte Clera und warf Merls Leine, die sie soeben wieder an seinem Halsband festgebunden hatte, über einen Pfosten am Rand des Hofs, wo die Wiese begann.
«Warte hier auf mich», sagte sie zu ihm, «ich komme bald wieder.» Merl leckte ihre Hand, legte sich dann aber brav hin und blickte ihr nach.
Clera folgte Erika ins Haus, durch den kleinen Flur in die Küche, von der eine Tür zur Laube auf der anderen Seite des Hauses führte.
«Martina ist im Hühnerhof», erklärte Erika und trat wieder ins Freie. «Sie ist in deinem Alter, ihr werdet euch sicher gut verstehen.» Erika lächelte ihr aufmunternd zu. «Und unsere Söhne wirst du heute Abend kennenlernen. Josef arbeitet in Thun und Felix schläft zurzeit. Er ist gesundheitlich angeschlagen.» Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, beim letzten Satz sprach sie plötzlich leiser.
Inzwischen hatten sie den Hühnerhof erreicht. Clera liess den Blick über das weite Tal schweifen, auf dessen anderer Seite die Berge aufragten.
«Martina», hörte sie Erika sagen. «Clera ist hier.»
Clera trat ebenfalls durch das Türchen in den Hühnerhof. Aus dem kleinen Stall tauchte eine junge Frau auf, die eindeutig Erikas Gesichtszüge hatte. Auch sie hatte die Haare im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden und strahlte über das ganze Gesicht. Hinter ihr stob die ganze Hühnerschar ins Freie.
«Grüss dich, Clera», begrüsste sie ihre entfernte Cousine. «Ich freue mich, dich kennenzulernen. Ich bin Martina.»
Clera mochte sie sofort. Sie schien überschwänglicher zu sein als Rita, weniger perfekt, aber dennoch genauso einfühlsam. Überdies gefiel es Clera, dass auch Martina sich gern im Hühnerhof aufhielt und sich nicht scheute, sich die Hände schmutzig zu machen. Etwas zerknirscht blickte sie an sich hinunter auf die Flecken auf ihrem Rock, die eindeutig von Hühnermist stammten.
«Tut mir leid, normalerweise achte ich darauf ...» Sie brach ab, als sie Cleras Lachen sah und lachte mit ihr mit. «Komm mit, ich zeige dir den Hof. Mutter ist schon ungeduldig, weil sie etwas im Ofen hat.»
Nun lachte auch Erika. «Stimmt», sagte sie. «Ich lasse euch mal allein und kümmere mich um den Kuchen.» Damit verschwand sie wieder im Haus.
Martina sah ihr nach, bis die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war. «Nun», sagte sie dann, «was hast du noch nicht gesehen?»
«Alles», lachte Clera, «abgesehen von der Küche.»
«Dann fahren wir doch mit dem Garten fort.» Sie deutete auf die eingezäunte Fläche unterhalb des Hauses. In den meisten Beeten wuchs Gemüse, nur wenige waren bereits abgeerntet. Der ganze Garten schien gut durchdacht und sorgfältig bepflanzt zu sein.
«Wie du siehst, wächst und gedeiht das Gemüse prächtig», erklärte Martina unnötigerweise. «Habt ihr auch einen Garten?»
Clera nickte. «Unserer ist auch etwa so gross. Meist bin ich die, die sich darum kümmert.»
Martina nickte verständnisvoll und bedeutete ihr mit der Hand weiterzugehen.
An der Hausecke sass eine schwarze Katze, die erwartungsvoll zu ihnen hochschaute.
«Meine Lieblingskatze», erklärte Martina und streichelte sie. «Sie hat kürzlich unsere Hühner vor dem Habicht gerettet.»
Clera zog die Augenbrauen hoch. «Wirklich?»
«Ja, sie sass auf der Laube, blickte zum Hühnerhof hinüber und miaute, bis ich nachsehen ging. So konnte ich den Greifvogel in letzter Sekunde vertreiben. Aber hätte sie nicht gerufen, wäre ich nicht schnell genug da gewesen.»
Clera staunte. «So etwas habe ich noch nie gehört», murmelte sie und streichelte das schwarze Fell ebenfalls, bis ihre Cousine sich wieder aufrichtete, um den Rundgang fortzuführen.
«Hier halten wir unsere Schweine.» Martina öffnete eine kleine Tür unter der Laube. Ein ihr nur allzu gut bekannter Geruch stieg Clera in die Nase. Zwei rosa Schweine blickten sie im schummrigen Licht, das durch ein kleines Fensterchen fiel, an.
«Und ... wie bringst du sie zu ihrer Weide?», fragte sie.
«Weide?», lachte Martina. «Wie sollte ich die beiden auf die Weide kriegen? Ich könnte sie nie wieder einfangen.» Sie schloss die Tür.
Clera dachte an ihre Schweine, die jeden Tag draussen auf der Wiese verbrachten. Ihr Blick wanderte zu den Kühen, die unweit des Hofes auf der Weide standen und friedlich grasten.
«Was ist eigentlich der Grund dafür, dass du eine Zeit lang bei uns wohnst?», riss Martina sie aus ihren Gedanken, als sie wenig später zum Haus zurückgingen. «Mutter hat nur gesagt, dass du kommst, nicht aber, warum.»
Mit wenigen Worten schilderte Clera ihr, was geschehen war.
Martina schüttelte verständnislos den Kopf, unterbrach sie aber kein einziges Mal. «Unerhört», sagte sie schliesslich, «und so einen lässt man frei herumlaufen.»
Clera zuckte mit den Schultern. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken. Wortlos folgte sie ihrer Cousine die Treppe hinauf zu ihrer Kammer, in der neben dem Bett und einer Kommode nicht viel Platz für anderes blieb. Clera machte das jedoch nichts aus, sie würde ja nur hier schlafen. Martina reichte ihr ein Paar Pantoffeln.
«Komm, ich zeige dir noch, wo Merl schlafen kann.» Sie führte Clera wieder die Treppe hinunter und zum Stall.
«Unser Hund hat immer hier geschlafen», sagte sie und deutete in die Ecke neben der Tür, wo der Boden mit Stroh bedeckt war. Ein paar Strohballen lagen dort, doch daneben hätte Merl genügend Platz.
«Nun», sagte Martina und verschränkte die Finger ineinander. «Magst du etwas essen? Bis das Abendessen fertig ist, dauert es noch eine Weile.»
«Gern», erwiderte Clera und folgte ihrer Cousine in die Küche, wo Erika bereits das Abendessen in den Ofen schob. Der ganze Raum war mit dem Duft nach frischem Kuchen erfüllt. Martina holte ein Stück Käse aus der Vorratskammer und Erika reichte ihr eine Scheibe Brot. Clera bedankte sich und setzte sich an den Tisch. Martina nahm sich ebenfalls ein Stück Brot und gesellte sich zu ihr.
«Ich bringe Felix etwas zu essen», sagte Erika und verschwand durch die Tür zur Stube.
«Felix ist nicht der Kräftigste, was seine Gesundheit betrifft», raunte Martina Clera zu und zog verschwörerisch eine Augenbraue hoch.
Clera nickte. «Deine Mutter hat mir bereits von ihm erzählt», gab sie leise zurück. «Was fehlt ihm denn?»
Martina schnaubte und legte ein Stück Käse auf ihre Brotscheibe. «Was ihm fehlt ...», knurrte sie verächtlich. «Aufmerksamkeit?»
Clera verstand nicht ganz und sah ihre Cousine fragend an.
«Wenn du mich fragst, fehlt ihm nicht so viel, wie er behauptet. Er macht nur gern aus einer Mücke einen Elefanten, und den kleinsten Hustenanfall betrachtet er gleich als lebensbedrohlich», fuhr Martina fort, allerdings nicht ohne einen prüfenden Blick zur Tür zu werfen. Anscheinend teilte Erika diese Ansicht nicht. «Und es ist bequemer, hier im Bett zu liegen und sich bedienen zu lassen, als zu arbeiten.»
«Du meinst, er spielt euch etwas vor?», fragte Clera.
Martina hob abwehrend die Hände. «Ich meine gar nichts, zumindest nicht, wenn man mich fragt. Aber sieh ihn dir selbst an, du wirst ...»
In diesem Moment betrat Erika die Küche und Martina verstummte. Als hätten sie nur über das Wetter gesprochen, biss sie in ihr Käsebrot und begann von den Kätzchen zu erzählen, die ihre Katze im Frühjahr geworfen hatte.
«Setz dich, das Essen ist fertig», sagte Martina, als Clera Merl gefüttert hatte und wenig später die Küche betrat.
«Kann ich dir helfen?», fragte Clera.
«Nein, es ist alles bereit, danke!» Ihre Cousine schenkte ihr ein freundliches Lächeln und legte die Topflappen weg.
Noch immer unsicher setzte Clera sich auf einen der Stühle. Zu Hause war immer sie diejenige, die das Essen zum Tisch bringen musste und sich als Letzte hinsetzte.
Walter sass bereits am Kopfende des Tischs, Martina nahm neben Clera Platz. Ihr Blick wanderte zu Josef, der sich ihr gegenüber hingesetzt hatte, und Felix, der mit missmutigem Gesichtsausdruck neben ihm sass und kein Wort sagte. Den Blick hatte er starr auf die Tischplatte gerichtet. Nicht einmal während des Tischgebets verzog er eine Miene. Clera fragte sich, was das für eine mysteriöse Krankheit sein mochte, die ihn plagte.
Sein Bruder hingegen erwies sich als äusserst redselig. «Es ist schön, Verwandte zu treffen, von denen man bis vor Kurzem gar nichts gewusst hat», lachte Josef und schnitt sich eine Scheibe Brot ab.
«Josef betreibt Ahnenforschung», erklärte Martina. «Er versucht herauszufinden, woher unsere Familie stammt und wo wir vielleicht noch Verwandte haben.»
Clera hörte ihrer Stimme an, dass sie nicht viel davon hielt.
«Das ist äusserst spannend, Cousine», wandte sich Josef nun an sie. «Ich habe bereits einen fast vollständigen Stammbaum gezeichnet ...»
«Stammbäume sind nie vollständig», fiel Martina ihm ins Wort, «wenn sie es wären, wären sie so gross, dass du sie auf allem Papier, das du besitzt, nicht aufzeichnen könntest.»
Josef grinste über die Bemerkung. Clera zog es vor zu schweigen. Fasziniert blickte sie zu der Glühbirne, die über dem Tisch hing, empor. Sie war es gewohnt, das Haus mit Kerzen und Öllampen zu erhellen, elektrisches Licht kannte sie nicht. Walter hatte es ihr erklärt, als sie die Stube betreten hatte und staunend stehen geblieben war, aber sie hatte nicht verstanden, wie die Lampe funktionierte.
«Der Stammbaum reicht bereits einige Generationen zurück», fuhr Josef schliesslich fort. «Und nur der Zweig der Familie Wandfluh aus Mitholz ist unvollständig.»
Clera hielt mitten in der Bewegung inne. Katharinas Nachname war Wandfluh gewesen.
«Hast du in Kandergrund nachgefragt?», fragte Walter und griff nach dem Schöpflöffel.
«Natürlich, die Kirche in Kandergrund war meine erste oder zweite Anlaufstelle. Der Name Wandfluh ist sehr häufig dort im Tal.»
Er blickte zu Clera hinüber, die wortlos nickte.
«Ein Georg Wandfluh, von dem wir wissen, dass er ein entfernter Verwandter von uns ist, hat dort geheiratet, eine Katharina Maria ... Ihr Mädchenname ist mir entfallen. Sie hatten Kinder, fünf an der Zahl, die alle dort getauft worden sind, aber – und das ist das Seltsame – keines von ihnen hat in Kandergrund oder in einer der umliegenden Gemeinden geheiratet.» Triumphierend blickte er in die Runde, als würde er sich der plötzlichen, spannungsgeladenen Stille erfreuen. «Und es liegt auch keines von ihnen dort begraben, nur Georgs Vater, aber der ist früh gestorben. Die Familie ist wie vom Erdboden verschluckt», fasste er zusammen. «Nirgendwo finden sich Aufzeichnungen, Listen, was auch immer – sie sind einfach verschwunden. Nicht einmal in Spiez, Interlaken oder Thun konnte ich etwas finden.»
«Das ist doch nicht möglich», meinte Erika, die bisher kein Wort gesagt hatte. «Ein Unglück?»
Josef zuckte mit den Schultern.
«In den alten Zeitungsausgaben habe ich bisher nichts dergleichen gefunden. – Ja, die habe ich mir auch geben lassen», beantwortete er die unausgesprochene Frage. «Herr Balthasar war so freundlich und hat das für mich eingefädelt.»
Beinahe hätte Clera den Löffel fallen lassen.
«Er ist ein äusserst einflussreicher Mann dort im Tal. Es war eine gute Idee, mich an ihn zu wenden. Kennst du Herrn Balthasar, Clera?»
Sie fragte sich, ob er überhaupt jemals Luft holte, während er redete. «Ich habe von ihm gehört», sagte sie wahrheitsgemäss. Konstantins Eltern hatte sie schliesslich nie getroffen. Ohne dass sie es merkte, wanderte ihre Hand zu der Kette, die sie versteckt unter der Bluse trug.
«Wie sind wir eigentlich mit Clera verwandt?», fragte Martina in die Runde.
Josef lehnte sich seufzend zurück, blickte zur Decke empor und machte ein nachdenkliches Gesicht.
«Gute Frage ...», murmelte er. «Deine Familie fehlt in unserem Stammbaum ebenfalls. Also müsstest du eine Nachfahrin dieses Georg Wandfluh sein.» Er lachte.
«Meine Vorfahren kamen aus dem Kandertal», sagte Clera leise. «Sie sind vor Jahrzehnten ins Engadin ausgewandert.»
«Wie hat deine Mutter uns eigentlich ausfindig gemacht?» Josef lehnte sich wieder nach vorn und legte die Unterarme auf den Tisch. Seine Augen funkelten, als er Clera ansah.
Beinahe fühlte sie sich bedrängt. «Meine Grossmutter hat auch auf eine gewisse Weise Ahnenforschung betrieben», erklärte sie, da sie sich nicht anders erklären konnte, wie ihre Mutter Erikas Familie als Verwandte erkannt und gefunden hatte. «Grossmutter Chatrina wusste gut Bescheid über unsere Familie ...»
Josef hob den Zeigefinger. «Da haben wir doch was!», rief er aus. «Deine Grossmutter hiess Tschatrina?»
«Chatrina», korrigierte Clera, obwohl sie wusste, dass tsch und der Laut, der mehr nach tj klang, in Josefs Ohren derselbe sein musste.
«Eine Form von Katharina, vielleicht stammt sie ja wirklich ...»
«Katharinas gibt es überall», unterbrach Martina ihn schnippisch. «Sieh dich nur einmal in deinem Freundeskreis um, jeder hat eine Verwandte, die Katharina heisst.»
Ihr Bruder sagte nichts dazu, sondern wandte sich wieder seinem fast leeren Teller zu. Anscheinend wusste er nichts mehr zu entgegnen.
Clera überlegte, ob sie sagen sollte, was sie wusste, entschied sich dann aber, es vorerst für sich zu behalten.
Während das Gespräch in eine andere Richtung ging, beobachtete Clera Felix. Er war blass, seine Augen eingefallen und auch die Bartstoppeln trugen nicht zu einem gesunden und gepflegten Aussehen bei. Er ass nur wenig und sagte kein Wort. Clera wandte den Blick wieder ab.
Als sie zusammen mit Martina den Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült hatte, stiess sie in der Tür beinahe mit Josef zusammen.
«Ich hole meine Aufzeichnungen und die Stammbäume, wenn du magst ...», begann er, doch Clera unterbrach seinen Redeschwall.
«Gern ein andermal», sagte sie und setzte eine erschöpfte Miene auf. «Ich bin sehr müde.»
«Morgen vielleicht?»
Sie nickte und huschte aus der Küche, um nach Merl zu sehen, bevor sie allen eine gute Nacht wünschte und sich in ihre Kammer zurückzog. Ihre Neugier war wieder geweckt. Im Schein einer Kerze zog sie das kleine Buch aus der Tasche, kroch unter die Decke und schlug die Seite auf, aus der das Buchzeichen ragte.