18

Mitholz, August 1803

Fast die ganze Nacht hatte Katharina wach gelegen und versucht, Hinweise dafür zu finden, dass sie nicht schwanger war. Kein einziger war ihr eingefallen. Unzählige Male hatte sie die Hand auf ihren Bauch gelegt und sich gefragt, ob sie schon etwas spüren konnte. Sie war sich nicht sicher. Aber am Morgen war die Übelkeit zurückgekehrt.

Vitus lächelte sie an, als sie zwischen den Bäumen hervortrat. Für einen Moment waren alle ihre Probleme vergessen, als er sie in die Arme nahm. Sie hörte seinen Herzschlag und spürte sein Kinn auf ihrem Kopf.

«Sie haben bemerkt, dass die alte Elsa verschwunden ist», sagte sie nach einer Weile.

«Ich weiss», erwiderte er und liess seine Hand über ihren Rücken gleiten. «Aber keine Sorge, ich habe gesagt, ich hätte sie früher an jenem Abend in Mitholz gesehen.»

Katharina erstarrte. Sie löste sich von ihm und blickte ihm entsetzt in die Augen. «Du hast behauptet, du hättest sie in der Nähe der Werkstatt meines Vaters gesehen?»

Vitus zuckte mit den Schultern. «Nicht direkt, ich habe deinen Vater nicht erwähnt.»

«Aber du hast es die Leute glauben lassen!», empörte sie sich. «Jetzt denken alle, er habe etwas mit Elsas Verschwinden zu schaffen.»

Ohne es zu merken, war sie lauter geworden, Vitus hingegen schienen ihre Worte wenig zu kümmern. «Ich kann jetzt nicht mehr sagen, das stimme nicht, sonst lenke ich den Verdacht erst recht auf mich.»

Katharina biss sich auf die Lippe. «Hast du mit Louise gesprochen?», fragte sie schliesslich, als er das Thema nicht ansprach.

Er zögerte und Katharina merkte, wie ihr Mut sank. «So gut wie», antwortete er schliesslich, «gestern hatte ich keine Gelegenheit.»

Katharina seufzte und bemühte sich, ruhig zu bleiben. «Du musst mit ihr reden, Vitus», sagte sie. «Bald!»

«Ich weiss», meinte er. «Das werde ich auch so bald wie möglich.»

«Es eilt», wiederholte sie und sah zu ihm auf. «Du musst es ihr sagen und diese Verlobung lösen, denn ...»

«Was?», fragte er und streichelte ihre Wange.

« ...denn ... ich glaube, ich trage ein Kind unter dem Herzen. Dein ... unser Kind.» Sie beobachtete seine Reaktion, ohne zu wissen, was sie erwartete. Seine Miene erstarrte für einen Moment, dann nahm er ihre Hände in seine.

«Bist du sicher?», fragte er mit dem Anflug eines Lächelns.

«Nein ... ja ... nein, sicher bin ich nicht. Aber es deutet alles darauf hin ...»

«Sei unbesorgt», sagte er und küsste ihre Hände. «Ich werde gleich morgen mit Louise und meinen Eltern reden und die Verlobung lösen. Dann bin ich ganz für dich da und gehe zu deinem Vater ...»

Sie schlang die Arme um ihn. Nun schien doch alles gut zu werden. Das Leuchten in seinen Augen gab ihr neue Hoffnung.

Die folgenden Tage fühlte sie sich besser oder zumindest sorgenfreier. Drei Tage später würde sie Vitus nochmals am See treffen, danach würde er mit ihren Eltern sprechen und ihre Verlobung und Hochzeit in die Wege leiten.

Selbst Grossmutter merkte, dass es ihr besser ging. Sie lächelte Katharina augenzwinkernd zu und fragte nicht weiter. Die Übelkeit am Morgen plagte sie zwar noch immer, aber nicht mehr so heftig, sodass sie ihre Arbeit im Haushalt wieder besser erledigen konnte.

Als sie am Vormittag des vereinbarten Tages nach draussen trat, um ihre täglichen Pflichten zu erledigen, fand sie einen Zettel, der anscheinend unter dem Türchen des Hühnerstalls durchgeschoben worden war. Auf dem Brief stand nichts, nicht einmal der Buchstabe K, den Vitus sonst auf die Briefe geschrieben hatte. Sie vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, und faltete den Zettel auseinander.

Liebe K., wir können uns heute nicht treffen, ich habe eine Verpflichtung. Es tut mir leid, Liebes, ich sehne mich nach dir. Ich lasse es dich wissen, wenn wir uns wiedersehen können. V.

Enttäuscht liess sie die Hand mit dem Zettel sinken. Sie hatte sich so darauf gefreut, ihn zu sehen. Er musste inzwischen mit Louise gesprochen haben, vielleicht war er deshalb am Abend nicht abkömmlich. Sie steckte den Brief in ihren Strumpf, holte die Eier und molk die Kuh, bevor sie zurück in die Küche ging. Heute war die Übelkeit wieder stärker, wie sie fand. Sie hielt die Luft an, um den Geruch nach Frühstück nicht einzuatmen.

Am Tisch wurde wie jeden Morgen, seit ihr Vater davon erzählt hatte, das Problem der verschwundenen Elsa diskutiert. Katharina hörte mit einem Ohr zu, während sie versuchte, trotz der Übelkeit etwas zu essen.

«Wenn sie eine Hexe war, hat sie sich vielleicht in ein Waldtier verwandelt», meinte Georg, der älteste ihrer Brüder. «Oder jemand hat sie verbrannt. Unser Lehrer hat gesagt, früher habe man Hexen verbrannt.»

«Vielleicht hat ein Wolf sie gefressen», schlug nun ihr jüngster Bruder vor.

«Ein Junge aus meiner Klasse hat gesagt, er habe die Alte kurz vor ihrem Verschwinden in den Wald gehen sehen», sagte nun Georg.

Katharina hielt kurz in der Bewegung inne, hob den Blick aber nicht.

«Aber sie haben ihm nicht geglaubt», fügte Georg scheinbar gleichgültig hinzu.

«Dann war es doch der Wolf!»

Bis es dunkelte, ging Katharina mehrmals nach draussen, um nachzusehen, ob Vitus vorbeigekommen war und einen weiteren Brief für sie hinterlassen hatte, doch sie fand nichts.

Nach dem Abendessen zog sie sich in das kleine Zimmer zurück, das sie mit Maria teilte, und stellte sich ans Fenster. Das Mondlicht hatte die Landschaft in ein kaltes Licht getaucht. Es wäre hell genug gewesen, um zum See zu gehen. Nachdenklich sah sie an sich hinab und strich mit der flachen Hand über ihren Bauch. Der Gedanke an ihr Kind entlockte ihr nun doch ein Lächeln. Sie freute sich darauf, ihren Eltern von ihrer Verlobung mit Vitus zu erzählen. Dann würde man sonntags nach der Kirche ihr gratulieren statt Louise. Sie würde bald zu Vitus in das grosse Haus, in dem er wohnte, ziehen ... aber das, was sie am meisten freute, war der Gedanke, dass sie sich dann jeden Tag sehen könnten und sich nicht mehr heimlich treffen müssten. Zwischendurch machte sie sich zwar Sorgen, was die Leute sagen würden, wenn das Kind zur Welt käme. Am besten würde sie behaupten, sie und Vitus hätten sich schon früher verlobt und es für sich behalten, was schliesslich der Wahrheit entsprach. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Maria betrat den Raum. Erschrocken fuhr Katharina herum und verschränkte ihre Finger hinter dem Rücken.

«Versteckst du etwas?», fragte Maria, bevor sie zu ihrer Kommode hinüberging.

«Ich ... nein», sagte Katharina so unauffällig wie möglich. «Ich war nur gerade in Gedanken versunken und habe mich erschreckt, als du die Tür geöffnet hast.»

«Tut mir leid», meinte Maria und lächelte ihre Schwester an. «Ich dachte, du seist in der Stube.»

Katharina erwiderte ihr Lächeln. «Nein, ich bin müde und wollte zu Bett gehen.»

Kaum war die Tür hinter Maria ins Schloss gefallen, liess sie sich auf ihr Bett sinken. Sie wünschte, sie könnte wenigstens ihrer Schwester ihr Geheimnis anvertrauen.

In der Hoffnung, draussen einen Brief von Vitus vorzufinden, zog sie sich am nächsten Morgen an und schlich aus dem Raum. Möglichst unauffällig suchte sie den Boden und die Wand des Hauses und des Hühnerstalls ab. Bei dem Wind wäre es ratsam gewesen, den Brief in eine Ritze im Holz zu stecken, doch sie fand auch heute nichts. Enttäuscht ging sie mit den Eiern und der Milch zurück in die Küche.

«Guten Morgen!», hörte sie Maria von der Tür her rufen, doch bevor sie etwas erwidern konnte, war ihre Schwester bereits in Grossmutters Kammer verschwunden. Gleich würde sie in die Küche kommen, um das Frühstück für sie zu holen. So hatten sie einst die Arbeit aufgeteilt, Katharina bereitete das Frühstück zu, während Maria sich um die Grossmutter kümmerte. Ihre Mutter half den drei Jungen beim Waschen und Ankleiden, damit sie nicht zu spät zur Schule kamen. Manchmal wünschte Katharina, sie hätte auch länger zur Schule gehen dürfen. Vielleicht brauchte sie es nicht, aber es hätte ihr gefallen, mehr über die Welt zu erfahren. Während ihre Gedanken durch ihre Vergangenheit schweiften, nahm sie sich vor, alle ihre Kinder zur Schule zu schicken, sowohl die Jungen als auch die Mädchen. Vitus würde Verständnis dafür haben.

Die Sonne blinzelte durch die Wolkendecke, als sie gegen Mittag nach draussen ging, um im Garten nach dem Rechten zu sehen. Leise summte sie ein Lied vor sich hin, wie sie es oft tat, wenn sie im Freien arbeitete. Irgendwo zwitscherte ein Vogel und in der Ferne hörte sie Kirchenglocken. Erstaunt hielt sie inne. Das Geläut passte nicht zu einem Freitag. Sie richtete sich auf und schaute in Richtung Kandergrund, obwohl sie wusste, dass sie die Kirche von ihrem Garten aus nicht sehen konnte.

In diesem Augenblick kam Maria aus dem Haus geeilt. «Katharina», rief sie. «Komm, das muss eine Hochzeit sein, lass uns hingehen!»

Katharina zögerte. Sie hatte nicht mitbekommen, dass jemand heiratete, gestand sich jedoch ein, dass sie in letzter Zeit mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war. «Augenblick, ich komme», erwiderte sie, eilte zurück ins Haus, tauschte ihre Schürze gegen eine saubere aus und holte die Brosche aus der Schatulle, in der sie ihre wenigen Schmuckstücke aufbewahrte. Das schwarze Schultertuch legte sie sich im Gehen um.

Maria erwartete sie bereits ungeduldig. Auch sie trug das schwarze Schultertuch und die Brosche, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie sich in Eile ein wenig hübsch machen wollte. Gemeinsam eilten sie los Richtung Kandergrund, wo die Glocken noch immer läuteten.

«Ich wusste gar nicht, dass eine Hochzeit ansteht», sagte Katharina nach einer Weile, in der sie schweigend nebeneinander hergegangen waren.

«Ich auch nicht», meinte Maria fröhlich. «Vater hat nichts gesagt.»

«Vielleicht hat er es selbst gar nicht mitbekommen», mutmasste Katharina. «Er hatte in letzter Zeit genug andere Probleme.»

Inzwischen hatten sie Kandergrund erreicht und steuerten auf die Kirche zu, wo sich schon eine grosse Menschenmenge eingefunden hatte. Früher hatte Katharina diese Strecke mühelos zurückgelegt, doch heute spürte sie erste Anzeichen von Müdigkeit und fragte sich, ob das an der Schwangerschaft lag. Sie zwang sich, die Hände nicht auf den Bauch zu legen, um sich nicht zu verraten.

Maria freute sich wie ein kleines Kind und huschte mit leuchtenden Augen durch die Menge. Katharina blieb bei der Mauer stehen. Sie merkte, dass sie Hochzeiten mit anderen Augen sah als noch vor einem halben Jahr. Aber vor einem halben Jahr hatte sie Vitus noch nicht gekannt und sie war auch nicht schwanger gewesen. Die Tatsache, dass ihre eigene Hochzeit in greifbare Nähe rückte, warf in ihren Augen nun ein anderes Licht auf das Ereignis. Höflich grüsste sie Frau und Herrn Künzi, die jedoch gerade in ein Gespräch mit einem anderen Paar vertieft waren.

Plötzlich stand Maria wieder neben ihr. «Ich habe sie gefunden», flüsterte sie ganz aufgeregt. «Die Braut. Sie steht mit ihrem Vater da drüben an der Ecke.»

Katharina liess sich von der Begeisterung ihrer Schwester anstecken und folgte ihr durch die Menge. Dabei fiel ihr auf, dass viele Leute hier waren, die sie noch nie gesehen hatte, und die eindeutig nicht die hier übliche Kleidung trugen. Es musste sich um reichere Verwandte des Brautpaares handeln, die aus der Stadt hergekommen waren.

«Da ist sie», sagte Maria, als sie die Ecke des Gebäudes erreichten, und deutete auf eine junge Frau, die ihnen den Rücken zuwandte. «Ist ihre Frisur nicht prachtvoll?», flüsterte Maria voller Bewunderung.

Katharina nickte. Eine derart kunstvolle Frisur hatte sie noch nie gesehen. Zudem trug die Braut eine aussergewöhnlich schön gefertigte Sonntagstracht, die ohne jeden Zweifel aus der Menge hervorstach. Sie wollte etwas sagen, als die Braut sich plötzlich umdrehte und jemandem zuwinkte, der hinter den beiden Schwestern bei der Kirchentür stand. Im Bruchteil einer Sekunde wich alles Blut aus Katharinas Gesicht. Sie hatte Louise von hinten nicht erkannt. Langsam drehte sie sich um, um nachzusehen, wem diese zugewinkt hatte. Die Welt um sie herum schien stillzustehen, als sie Vitus erblickte, der ebenfalls in seinem besten Sonntagsstaat bei der Tür stand und Louise zulächelte.

Katharina hörte ihren eigenen Herzschlag in den Ohren. In diesem Moment zerbrachen alle ihre Träume, ihre Pläne, ihre Zukunft. Wie betäubt starrte sie den Mann an, den sie in den letzten Monaten so oft unter dem Sternenhimmel geküsst hatte. Als ihre Blicke sich trafen, erstarrte seine Miene für einen kurzen Augenblick, dann senkte er den Blick und wandte sich ab. Obwohl sie sich so bemüht hatte, es nicht zu tun, legte Katharina eine Hand auf ihren Bauch. Sie fühlte sich leer und ausserstande, einen klaren Gedanken zu fassen.

«Er hat mich die ganze Zeit über belogen», sagte sie lautlos zu ihrem Kind. «Er hat nie vorgehabt, mich zu ...» Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen und blinzelte sie weg, doch es war zu spät.

«Katharina!», hörte sie plötzlich wie aus weiter Ferne die Stimme ihrer Schwester. «Katharina, um Himmels willen, was ist geschehen?»

Es dauerte einen Moment, bis sie wieder klar sehen konnte.

Maria stand vor ihr und hielt sie an den Oberarmen fest. «Ist dir nicht wohl?»

«Was soll ich jetzt tun?», wimmerte Katharina, ohne auf die Frage zu achten. Sie versuchte etwas zu sagen, doch über ihre Lippen kam kein Laut.

Die Menschenmenge begann sich zu bewegen, die Leute strömten in die Kirche, und niemand nahm Notiz von den zwei jungen Mädchen, die mitten auf dem Vorplatz des Gebäudes standen.