19

Steffisburg, Juli 1920

Seufzend hielt Clera inne, stützte sich auf den Rechen und liess den Blick über das weite Tal schweifen. Seit ihrer Ankunft auf dem Hof ihrer Verwandten war erst eine Woche vergangen. Sie hatte sich schnell eingelebt, und da sie nicht für die Familie kochen musste, hatte sie mehr Zeit für sich, in der sie Merl erzog oder strickte.

Ihre Gedanken wanderten zu Konstantin und sie fragte sich, was er wohl gerade machte und ob er sie auch vermisste. Kurz nach ihrer Ankunft hatte sie ihrer Mutter einen Brief geschrieben, dass sie gut angekommen sei. Gleichentags hatte sie einen Brief für Konstantin an seine Haushälterin geschickt und wartete sehnsüchtig auf eine Antwort.

Josef hatte ihr seine Stammbäume, die nicht mehr als grobe Skizzen waren, gezeigt. Bei Katharinas Familie prangte ein grosses Fragezeichen, doch sie hatte ihm nicht gesagt, was sie wusste. Der letzte Abschnitt, den sie gelesen hatte, hatte sie so geschmerzt, dass sie das Buch nicht mehr aufgeschlagen hatte, obwohl sie es immer bei sich trug.

Sie warf einen prüfenden Blick auf die Beete, die sie jätete, und machte sich wieder an die Arbeit. Heute Morgen hatte sie zusammen mit Erika Kartoffeln geschält und sich beiläufig nach Felix’ Zustand erkundigt. Ihre Tante hatte mehrmals geseufzt und mit sorgenvoller Miene erklärt, wie es um ihren zweitgeborenen Sohn stand. Clera konnte sich nicht vorstellen, dass kein Arzt ihm helfen konnte. Nicht einmal eine Diagnose hatten sie stellen können, niemand wusste, woran der junge Mann litt, der seit Wochen oder gar Monaten hustete und über Schmerzen klagte. Als sie ihm später etwas zu essen gebracht hatte, hatte er nur etwas Unverständliches gemurmelt und sich auf die andere Seite gedreht. Wortlos hatte sie das Essen hingestellt und den Raum verlassen.

Immer wieder wanderte ihr Blick zum Weg hinüber, der aus dem Ort herauf zum Hof führte. Der Postbote musste jeden Moment eintreffen. Sicherheitshalber hatte sie Merl angebunden, obwohl sie wusste, dass er niemandem etwas tun würde.

«Guten Morgen!», hörte sie in diesem Augenblick den Postboten rufen. Sie legte den Rechen auf den Boden und erwiderte den Gruss, bevor sie zum Hofplatz hinaufging.

«Ein paar Briefe, Fräulein», sagte der Briefträger, den sie bereits am zweiten Tag ihres Aufenthalts kennengelernt hatte. «Auch einer für Euch.»

Sie bedankte sich und nahm die Umschläge entgegen. Hastig sah sie sie durch, während sie langsam auf das Haus zuging. Als sie den Brief gefunden hatte, auf dem ihr Name stand, hielt sie kurz inne, steckte ihn dann in ihre Rocktasche und stiess die Haustür auf. Die übrigen Briefe legte sie auf den Stubentisch und kehrte sodann in den Garten zurück. Draussen sah sie sich kurz um, doch niemand war zu sehen. Erika und Martina waren im Haus beschäftigt, Walter in der Werkstatt, Josef bei der Arbeit und Felix verliess seine Kammer nicht. Sie setzte sich neben Merl ins Gras und zog den Umschlag hervor. Er trug nicht die Handschrift ihrer Mutter. Als Absender stand nur «M.» und der Hof ihrer Eltern. Erschrocken liess sie den Brief fallen. Sie wollte nichts von Massimo hören oder lesen, auch keine scheinheilige Entschuldigung. Einen Moment dachte sie daran, den Brief zu verbrennen, doch als Merl daran schnupperte, hob sie ihn doch wieder auf. Mit zittrigen Fingern riss sie den Umschlag auf und faltete das Blatt auseinander. Erleichtert atmete sie auf.

Kandergrund, 12. Juli 1920

Meine liebe Clera

Ich hoffe, du bist wohl bei deinen Verwandten und hast dich gut erholt. Der Absender hat dich hoffentlich nicht erschreckt. Ich dachte, so schöpft niemand Verdacht. Recht herzlichen Dank für deinen Brief! Er hat mir den Tag erträglicher gemacht. Jedes Mal, wenn ich beim blauen See vorbeikomme, muss ich an dich denken und wünschte, du wärst noch hier. Umso grösser war meine Freude, als ich erfuhr, dass mein Vater mich für Verhandlungen über den Kauf eines Unternehmens nach Thun schicken wird! Bereits am 17. Juli werde ich in die Stadt kommen und ich hoffe, dass ich dich auf dem Hofe deiner Verwandten antreffe. Allerdings könnte es sein, dass deine Verwandten ein Bild von mir in der Zeitung gesehen haben, und da ich nichts riskieren möchte, habe ich in Erwägung gezogen, dich im Schutz der Dunkelheit zu besuchen. Ich weiss, wo der Hof liegt, eine Landkarte hat mir gute Dienste erwiesen. Komm um Mitternacht hinaus auf den Weg, der am Hof vorbeiführt, versteck dich im Gebüsch oder hinter einem Gebäude, sodass andere Passanten dich nicht sehen können. Ich werde eine kleine Laterne bei mir tragen, damit du mich schon von Weitem sehen kannst.

Bitte komm, meine liebe Clera, ich sehne mich danach, dich wiederzusehen!

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüssen

Konstantin

Clera liess den Brief sinken und fragte sich, welcher Tag heute war. Es musste der 15. Juli sein, überlegte sie, während sie Merls Fell kraulte. Also müsste sie am Abend des übernächsten Tages darauf achten, dass sie nicht vor Mitternacht einschlief. Von ihrer Kammer aus gelangte sie glücklicherweise über die Laube direkt in den Hof. Sie hoffte nur, dass Merl sein einstiges Herrchen nicht hörte und zu bellen begann. Langsam erhob sie sich und zog das lederne Buch aus der Rocktasche. Sorgfältig faltete sie den Brief zusammen und legte ihn zwischen die Seiten.

«Nicht träumen, Mädchen!», hörte sie in diesem Moment eine schnatternde Stimme vom Weg her. Erschrocken klappte sie das Buch zu und schob es in die Rocktasche unter ihrer Schürze.

«Vom Träumen wird der Garten nicht sauber!» In der Hofeinfahrt stand eine alte Frau und sah sie mit grimmigem Blick an. Ihr Gesicht war über und über mit Falten bedeckt, aus denen zwei eiskalte Augen hervorstachen.

Merl hob den Kopf und knurrte.

«Was hast du da eben versteckt?», zischte die Alte und humpelte auf Clera zu. Dafür dass sie kaum gerade stehen konnte, kam sie erstaunlich schnell voran.

Clera öffnete ihre Handflächen, um ihr zu zeigen, dass sie nichts in den Händen hielt.

«Unter der Schürze!», fauchte die Alte und deutete mit ihrem Gehstock vage in ihre Richtung.

«Das ist für Euch nicht von Belang», gab Clera bestimmt zurück.

«Werd nicht frech, Fräulein!»

Clera verschränkte die Arme und hob das Kinn. Merl stand neben ihr und knurrte weiter. «Ich bin Euch nichts schuldig, ich wüsste nicht, weshalb.» Damit drehte sie sich um und bedeutete Merl, ihr zu folgen. Die Alte rief ihr mit schneidender Stimme etwas nach, doch Clera verstand es nicht mehr.

Zwei Tage später sass Clera nervös in ihrer Kammer und starrte in die Nacht hinaus. Ein kühler Luftzug fuhr durch die kleine Kammer. Sie hatte das Fenster geöffnet, um die Kirchenglocken schlagen zu hören. Merl hatte sie heute auf die andere Seite des Stalls gebracht. Sie schlang ihren Umhang enger um die Schultern und lauschte in die Nacht hinaus. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie die zwölf Glockenschläge hörte. Hastig schloss sie das Fenster und griff nach der brennenden Kerze, die sie auf der Kommode bereitgestellt hatte.

Beinahe lautlos eilte sie die Treppe hinunter. Auf der Laube blieb sie kurz stehen und horchte auf Geräusche aus dem Haus. Die Flamme der kleinen Kerze tanzte nervös, und Clera hielt schützend die Hand davor. Den Hof hatte sie sich am Nachmittag genau angeschaut und sich eingeprägt, wo grosse Steine lagen und wie weit die Ecke des kleinen Häuschens vom Baum entfernt war. Sie blies die Kerze aus und stellte sie auf die Bank neben der Haustür. Als sie das Häuschen in der Einfahrt zum Hof erreichte, konnte sie bereits Konstantins Laterne in der Dunkelheit erkennen. Sie lehnte sich an die Mauer und wartete.

Das Licht der Laterne näherte sich und kam unweit von ihr zum Stehen. «Clera?», hörte sie Konstantin leise sagen.

Die Nervosität fiel von ihr ab. «Hier bin ich», erwiderte sie ebenso leise und trat aus dem Schatten des Häuschens. Das schwache Mondlicht ermöglichte es ihr, Schatten und Umrisse zu erkennen.

Konstantin hob die Laterne. Ungeschickt stolperte sie über die weiche Erde, bis sie schliesslich vor ihm stand und er sie in die Arme nahm.

«Du hast mir so gefehlt.»

«Du mir auch», flüsterte sie.

«Heute habe ich auf Geheiss meines Vaters einem grossen Anlass beigewohnt, der länger gedauert hat, als ich gedacht hatte. Es ging um den Kauf eines Unternehmens ... kompliziert. Ich dachte, ich käme nie da weg.»

Clera machte eine wegwerfende Handbewegung.

«Aber ich würde mir die Gelegenheit, dich zu sehen, niemals entgehen lassen», flüsterte er, «erst recht nicht, wenn ich es dir versprochen habe.»

Ihr wurde warm ums Herz. Sie lehnte den Kopf an seine Brust, schloss die Augen und stellte sich vor, sie stünden am Ufer des kleinen Sees.

«Und, gefällt es dir hier?», fragte er nach einer Weile.

«Ja», flüsterte sie, «es ist ruhig hier, ich geniesse es, mit Merl draussen im Garten zu sein ... Aber ich vermisse unseren kleinen See, Horazio ... dich ... und meine Mutter.»

Er nickte verständnisvoll.

«Wenigstens ist Merl bei mir.»

«Ich komme dich besuchen, sooft ich kann», erwiderte er. «Immer wenn ich in Thun bin. Mein Vater will, dass ich hierbleibe, bis der Kaufvertrag unter Dach und Fach ist. Ausserdem soll ich ein paar Leute kennenlernen.»

Clera nickte. Ihn alle paar Tage in der Nacht zu treffen, erschien ihr besser als gar nichts. «Komm, ich zeige dir etwas», flüsterte sie, nahm seine Hand und zog ihn hinüber zum Garten.

«Schau dir die Aussicht an.» Die Wolken waren weitergezogen, sodass mehr Mondlicht auf die Landschaft fiel. Schwach konnten sie das weite Tal erkennen und die Berge auf der anderen Seite, die sich nur wenig vom dunklen Himmel abhoben. Im Tal leuchteten einzelne Lichter wie Glühwürmchen auf dem Waldboden. «Bei Tag ist es noch schöner», flüsterte Clera.

Konstantin trat hinter sie, legte die Arme um sie und stützte den Kopf auf ihre Schulter. «Was machst du morgen?»

Sie zuckte mit den Schultern. «Arbeiten, die auf dem Hof anfallen. Ich helfe meiner Tante beim Backen, räume den Garten auf ... und ich kümmere mich um meinen kranken Cousin.»

Er runzelte die Stirn. «Was fehlt ihm denn?»

«Das wüsste ich auch gern. Die Ärzte tappen im Dunkeln. Das Bett verlässt er nur selten, und mit mir spricht er so gut wie gar nicht.»

«Merkwürdig», murmelte Konstantin.

«Und du? Kommst du morgen Abend wieder?»

«Nenn mir einen triftigen Grund, nicht zu kommen», scherzte er und küsste sie auf die Wange. «Mein Vater will, dass ich morgen ein paar Leute aufsuche, er ist der Meinung, das helfe den Geschäften, die er hier abschliessen will.»

Clera nickte, obwohl sie keine Ahnung hatte, worum es bei diesen «Geschäften» ging. «Hast du die Sterne gesehen?», wechselte sie das Thema und legte den Kopf in den Nacken. Die Wolken hatten sich inzwischen ganz verzogen und gaben den Blick auf den Sternenhimmel frei.

«Komm», flüsterte er und zog sie auf den Boden. «Wenn du dich hinlegst, siehst du sie besser.»

Sie legte sich neben ihn und verschränkte die Finger hinter dem Hinterkopf. Der Boden fühlte sich kühl an.

Konstantin zeigte ihr ein paar Sternbilder, von denen sie das eine oder andere tatsächlich zu erkennen glaubte. Noch nie hatte sie den Sternenhimmel so genau angeschaut, für sie waren Sterne immer nur verstreute Lichtpunkte gewesen. Sie hatte sich nie überlegt, ob sie darin Bilder sehen könnte. Als sie merkte, dass Konstantin sich auf die Seite drehte und sie anschaute, drehte sie sich ebenfalls zu ihm hin.

«Komm mit mir zurück ins Kandertal», flüsterte er nach einer Weile und strich ihr mit dem Finger über die Wange.

Sie seufzte. «Ich komme zurück», erwiderte sie, «aber noch nicht jetzt.»

Seine Hand wanderte über ihre Schulter bis zu ihrer Taille. «Ich warte auf dich», sagte er kaum hörbar. Trotz der Dunkelheit glaubte sie, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. «Bis es so weit ist, komme ich dich hier besuchen», fuhr er fort, «und wenn es für dich richtig ist, kehren wir beide zurück in deine ... unsere Heimat.»

Clera erwiderte sein Lächeln. In ihrem Bauch kribbelte alles, und sie fragte sich, ob das die sprichwörtlichen Schmetterlinge waren, von denen Vrena ihr einst erzählt hatte. «Ja», hauchte sie und schloss die Augen, als sie seine Lippen auf den ihren spürte. Erschrocken zuckte sie zusammen, als seine Hand zu ihrer Hüfte wanderte, und stiess sie von sich. «Tut mir leid», beeilte sie sich zu sagen und hielt die Luft an.

«Nein», sagte er langsam, «es ... war ein Fehler, entschuldige.»

Clera biss sich auf die Unterlippe und bereute es, dass sie die Magie des Moments so unbedacht zerstört hatte.

«Ich werde dich nicht anfassen, das verspreche ich», flüstere Konstantin und legte ihr die Hand auf den Oberarm. «Ich hätte vorher nachdenken sollen, bitte entschuldige.»

Da sie noch immer kein Wort herausbrachte, nickte sie nur.

Eine Weile lagen sie schweigend da und blickten hinauf zu den Sternen. Er hielt ihre Hand, berührte sie ansonsten aber nicht.

Clera suchte nach Worten, in der Hoffnung, den Moment davor zurückgewinnen zu können, doch sie wusste nicht, was sie hätte sagen können.

Als die Kirchturmuhr halb drei schlug, setzte er sich auf und sah sie an. «Ich mache mich auf den Rückweg», flüsterte er.

Sie nickte und erhob sich ebenfalls. Er streckte ihr die Hand hin. Sie nahm sie und ging schweigend neben ihm her zur Einfahrt zum Hof zurück.

«Bis morgen», sagte er, als sie die Ecke des Häuschens erreichten, und legte die Arme um sie.

«Wohnst du im Stadthaus deiner Familie?», fragte sie.

«Ja», antwortete er. «Da kann ich kommen und gehen, wann ich will, niemand fragt, wo ich gewesen sei.» Er grinste schelmisch.

«Du Glückspilz», lachte Clera, froh darüber, dass er nicht beleidigt zu sein schien. «Ich könnte mich hier nicht wegschleichen.»

«Das macht nichts», meinte er und streichelte ihr Haar. «Solange ich dich nachts hier draussen treffen kann ...» Er küsste sie ein letztes Mal und liess sie los. «Schlaf gut, Liebes.» Damit drehte er sich um, hob seine Laterne auf, die er auf den Boden gestellt hatte, und machte sich auf den Weg zurück nach Thun.

«Gehst du zu Fuss zurück in die Stadt?», fragte Clera.

«Nein», lachte er. «Mein Pferd wartet ein Stück die Strasse runter hinter einem Schuppen auf mich.» Er winkte ihr zu und verschwand in der Dunkelheit.

Als die Sonne aufging, war Clera bereits wieder auf den Beinen und fütterte die Tiere. Merl begrüsste sie wie immer stürmisch. Clera band ihn an einem langen Seil an den Stamm des Nussbaums auf der Wiese neben dem Garten, bevor sie die Milch für die Katzen holte. Sie wusste nicht, wie viele Katzen auf dem Hof lebten, manchmal erschienen vier, manchmal fünf, wenn sie die Schälchen mit der Milch in den Stall brachte. Die schwarze Katze hatte es ihr besonders angetan. Martina meinte zwar, sie sei schon sehr alt, aber man sah ihr das Alter nicht an, wenn sie sich bewegte.

«Morgen, Clera!», hörte sie Martina vom Hühnerstall her rufen und winkte zurück. Um die Hühner hatte sie sich immer gern gekümmert, aber hier schien das Martinas Aufgabe zu sein.

Als sie ins Haus zurückging, kreisten ihre Gedanken um das Treffen mit Konstantin letzte Nacht, um die Sterne, die er ihr gezeigt hatte, und das seltsame Gefühl, das sie beschlichen hatte, als er sie an der Hüfte berührt hatte. Hinterher musste sie sich eingestehen, dass es ihr nicht unangenehm gewesen war, und sie fragte sich, ob sie übertrieben reagiert hatte. Wenn sie daran dachte, dass sie ihn bereits heute Abend wiedersehen würde, begannen die Schmetterlinge in ihrem Bauch wieder zu tanzen. Sie dachte an seinen Brief und tastete automatisch nach dem Buch, das sie immer in ihrer Rocktasche bei sich trug. Doch diesmal spürte sie nur weichen Stoff. Erschrocken blieb sie stehen, tastete nochmals nach der Rocktasche, dann nach der anderen. Sie hatte das Buch gestern Abend nicht herausgenommen, da sie zu nervös gewesen war zum Lesen. Nun war es weg. Sie versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken und ging eiligen Schrittes durch das Haus in den Hof. Wenn sie es verloren hatte, musste das letzte Nacht geschehen sein, als sie Konstantin getroffen hatte, anders konnte sie es sich nicht erklären. Scheinbar gelassen ging sie zur Einfahrt, tat, als würde sie nach Kräutern Ausschau halten, und suchte den Boden nach dem ledernen Buch ab. Langsam ging sie hinüber zum Garten, versuchte sich zu erinnern, wo sie entlanggegangen waren, bis sie die Stelle erreichte, wo sie im Gras gelegen hatten. Das Gras war ein wenig plattgedrückt, aber wer nichts wusste, sah auch nichts. Als sie das Buch auch hier nicht fand, packte sie die Verzweiflung. Sie hatte es noch nicht fertig gelesen, wollte aber doch wissen, was aus Katharina und Vitus geworden war. Ausserdem sollte das Buch niemandem von ihren Verwandten in die Hände fallen, schliesslich hatte Grossmutter Chatrina sie darum gebeten. Einzig die Tatsache, dass die Geschichte teilweise deutsch, teilweise rätoromanisch geschrieben war, gab ihr noch Hoffnung, dass es der Finder nicht lesen würde. Sie kraulte Merl zwischen den Ohren und dachte fieberhaft nach, wo es noch sein konnte. Ihr wollte kein möglicher Ort einfallen. Mit hängenden Schultern kehrte sie zurück ins Haus.

Bis zum Mittag suchte sie im Haus weiter, falls jemand das Büchlein gefunden und irgendwo hingelegt hatte, doch es tauchte nicht auf.

Ungeduldig zählte Clera die Stunden bis zum Abend, froh um jede Ablenkung. Walter war gerade aus dem Stall zurückgekommen, Josef war bereits seit einer Stunde zu Hause und sass auf der Ofenbank, die aufgeschlagene Zeitung in den Händen.

«Sieh mal, Vater», sagte er plötzlich, «sie berichten sogar in der Zeitung von dem Anlass gestern.» Er drehte das grosse Blatt in Walters Richtung, der sich soeben an den Tisch gesetzt hatte.

«Worum ging es da noch einmal?», fragte er und setzte seine Brille auf.

«Balthasar, der Reiche aus Kandergrund, den ich wegen der Ahnenforschung gefragt habe, hat unser Unternehmen gekauft», erklärte Josef.

«Und ist das gut?», fragte Walter.

Josef zuckte mit den Schultern. «Ich denke schon, zumindest hat er Neuerungen angekündigt, die nicht schlecht klingen.»

Als der Name Balthasar fiel, horchte Clera auf.

«Gestern haben die hohen Tiere das gefeiert», fuhr Josef fort. «Balthasar ist zusammen mit seinem Sohn angereist, um den Vertrag zu unterzeichnen ... und sich ein bisschen beliebt zu machen.»

In diesem Moment betrat Martina den Raum und bat Josef, sich eines der Hühner anzusehen, das sich am Fuss verletzt hatte. Josef legte die Zeitung hin und folgte ihr.

Im Augenwinkel sah Clera, dass Walter in einem Stapel Papiere blätterte, und ging hinüber zur Ofenbank. Josef hatte die Zeitung nicht zugeklappt. Neben dem Bericht prangte ein grosses, schwarzweisses Foto.

Konrad V. Balthasar bei der Feier zur Vertragsunterzeichnung, stand darunter, ebenfalls angereist war sein Sohn Konstantin Balthasar, der in Begleitung von Fräulein Berta Wenger zum Anlass erschien.

Clera betrachtete das Foto. Konstantin war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, nur etwas kleiner und schlanker. Sein Blick wirkte ernst, aber dennoch freundlich. Auch sein Vater lächelte nicht in die Kamera, sondern hatte eine ernste, fast schon harte Miene aufgesetzt. Vielmehr beunruhigte Clera jedoch die dritte Person auf dem Foto, die sich bei Konstantin eingehakt hatte. Clera fragte sich, ob sie die junge Frau mit den schulterlangen, gewellten Haaren und dem modernen Hut kannte, doch ihr Name sagte ihr nichts. Im Gegensatz zu den beiden Herren auf dem Bild lächelte sie freundlich.

Sie muss ja auch überglücklich sein, an Konstantins Seite solche Feiern besuchen zu können ..., schoss es Clera durch den Kopf, während sich Unruhe in ihr ausbreitete. Hastig überflog sie den Artikel.

«Das ist der Herr, der mir bei der Ahnenforschung geholfen hat, erinnerst du dich?» Josef hatte unbemerkt die Stube betreten und tippte mit dem Finger auf das Blatt in Cleras Händen.

«Ja, das dachte ich mir schon», beeilte sie sich zu sagen. «Du hast gefragt, ob ich ihn kenne, aber ich glaube, ich bin ihm nie begegnet.»

«Und das ist sein Sohn, der das Imperium irgendwann übernehmen soll», fuhr Josef fort und deutete auf Konstantin. «Unter uns, Wengers Arbeitern, geht das Gerücht um, dass die Verbindung mit Berta, der Tochter meines jetzigen Chefs, diesen Geschäften dienen soll.» Er zog eine Augenbraue hoch. «Wahrscheinlich haben die Väter das eingefädelt oder Balthasar allein, um so auch an alles Übrige von Wenger zu kommen.» Er zuckte mit den Schultern und wandte sich Walter zu, der ebenfalls zugehört hatte.

Clera sah den amüsierten, verschwörerischen Ausdruck in seinem Gesicht und legte die Zeitung schnell wieder hin.

«Vielleicht erlebt das Kandertal bald die Hochzeit des Jahrhunderts», fantasierte Josef weiter.

Cleras Blick wanderte wieder zu dem Foto in der Zeitung. Konstantin hatte gesagt, er sei wegen der Abwicklung eines Kaufes in Thun, nicht aber, dass die Tochter des Verkäufers dabei eine Rolle spielte. Oder war etwa sie der Grund für seinen Aufenthalt in der Stadt? Schnell verdrängte sie den Gedanken. Erst gestern Nacht hatte er sie gebeten, mit ihm ins Kandertal zurückzukehren. Er würde sie doch nicht so hintergehen. Und doch musste sie sich eingestehen, dass sie ihn diesbezüglich nicht gut genug kannte. Unbewusst tastete sie nach der Kette. Sie würde ihn heute Nacht darauf ansprechen müssen, die Unwissenheit liess ihr sonst keine Ruhe. Ihr Blick wanderte zur grossen Pendeluhr in der Ecke. Noch etwas mehr als fünf Stunden bis Mitternacht, überlegte sie. Ihr wurde beinahe übel, wie immer, wenn sie nervös war. Während des Abendessens bemühte sie sich, ab und zu etwas zum Gespräch beizutragen, damit niemandem auffiel, wie aufgewühlt sie war. Viel brauchte sie jedoch nicht zu sagen, da hauptsächlich Josef über die Arbeit und den Verkauf des Unternehmens an Konrad Balthasar redete. In Gedanken legte Clera sich die Worte zurecht, die sie Konstantin sagen wollte. Felix sass blass und wortlos wie immer am Tisch und stocherte in seinem Essen herum. Seit dem Tischgebet hatte er kein Wort gesagt. Clera gegenüber verhielt er sich nach wie vor abweisend, sodass sie sich fragte, ob er sie nicht mochte oder sie nicht wahrnahm. Sie hatte sich vorgenommen, täglich mindestens einmal nach ihm zu sehen, einerseits um Erika zu entlasten, andererseits um ihn kennenzulernen und vielleicht etwas über seine mysteriöse Krankheit zu erfahren. Gleichzeitig nagte noch immer die Sorge um das verlorene Buch an ihr. Als schliesslich auch Felix seinen Teller geleert hatte, war sie erleichtert, dass sie aufstehen und mit dem Abräumen beginnen konnte.