21

Mitholz, August 1803

«Immer wieder hat er mir versprochen, er werde Louise nicht heiraten, er werde mit ihr reden und die Verlobung lösen ...» Langsam trottete Katharina am Arm ihrer Schwester heimwärts. Sie schaffte es kaum, einen ganzen Satz zu formulieren.

Sobald sie den Vorplatz der Kirche verlassen hatten, hatte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten können. Maria hatte nicht verstanden, was los war, hatte sie aber umgehend von dem Ort weggeführt und geduldig gewartet, bis Katharina bereit war, ihr zu erzählen, was vorgefallen war.

«Er scheint ein äusserst falscher Hund zu sein», meinte Maria nun. «Hoffentlich weiss diese Louise, wen sie heiratet.»

«Ich fürchte, Louise kennt ihn anders», murmelte Katharina und wischte sich mit der Hand über die Augen. «Ihr gegenüber verhält er sich sicherlich korrekt.»

«Nun», begann Maria, «jetzt bist du ihn los, kannst ihn vergessen und dir einen ehrenhafteren Mann suchen.» Sie sagte die letzten Worte betont fröhlich, doch sie verfehlten ihre Wirkung.

Abermals brach Katharina in Tränen aus.

«Ich weiss», fügte sie mitfühlend hinzu, «vergiss ihn sagt sich so leicht und ist so schwer.»

Katharina staunte über die Worte ihrer Schwester.

«Aber du musst ihn hinter dir lassen», fuhr sie fort. «Du verdirbst dir dein eigenes Leben, wenn du ihm ewig nachtrauerst.»

«Wenn es nur so einfach wäre ...», sagte Katharina leise. Sie wusste, dass sie es irgendwann aussprechen musste, und Maria schien ihr dafür die beste Vertraute zu sein.

«Ich kann ihn nicht hinter mir lassen, er wird mich mein Leben lang verfolgen ...» Sie unterbrach sich und suchte nach Worten. «Denn ... ich trage sein Kind unter dem Herzen.» Ihre letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

Maria blieb abrupt stehen. «Wie?», fragte sie mit einem Ausdruck in den Augen, den ihre Schwester noch nie gesehen hatte. «Wie ist das denn möglich?»

Katharina schüttelte den Kopf. Sie mochte ihrer Schwester keine Einzelheiten erzählen, wie es dazu gekommen war. Immer wieder dachte sie, sie hätte damals auf ihr schlechtes Gewissen hören sollen, doch sie hatte auch zu wenig Ahnung gehabt. Und nun musste sie damit klarkommen.

«Man sieht gar nichts», bemerkte Maria mit einem prüfenden Blick auf Katharinas Bauch.

Diese rollte die Augen. «Bald wird man es sehen. Und ich werde dann weder verlobt noch verheiratet sein, stell dir vor, wie Vater toben wird.»

Maria nickte nachdenklich.

Einen Moment lang dachte Katharina daran, ihr auch die Geschichte der verschwundenen alten Frau zu erzählen. Da nun ohnehin alles ans Tageslicht käme, könnte sie auch gleich die Wahrheit sagen. Allerdings musste sie damit rechnen, dass man sie für Vitus’ Komplizin hielt. Sie würden beide bestraft werden, er, weil er die Alte umgebracht hatte, und sie, weil sie nichts gesagt hatte.

«Wann und wo habt ihr euch denn getroffen?», wechselte Maria das Thema und fasste Katharina sanft am Arm.

«Jeweils in der Nacht, am Ufer des kleinen Sees hier im Wald.» Sie deutete auf den Wald zu ihrer Rechten.

«Das klingt unglaublich romantisch», schwärmte Maria.

«Geh niemals dorthin», mahnte Katharina. «Falls er wieder dort ist, warum auch immer, könnte er dich für mich halten, und im Nu hätte mein Kind einen Cousin.»

Maria grinste. «Würde dir das gefallen?»

Katharina antwortete nicht. In ihrem Kopf reifte eine Idee, was sie noch versuchen könnte. Zwar hatte sie sich vor wenigen Minuten erst vorgenommen, nie wieder mit Vitus zu sprechen, doch der Gedanke daran brach ihr fast das Herz.

«Auf jeden Fall solltest du mit Mutter und Vater sprechen, bevor sie es sehen», meinte Maria. «Der Wutanfall bleibt dir ohnehin nicht erspart.»

Katharina nickte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das ihren Eltern erklären sollte. «Vielleicht spreche ich zuerst mit Grossmutter», murmelte sie.

«Ach, herrje», seufzte ihr Vater, legte das Gesicht in die Hände und schüttelte den Kopf.

Katharina hatte ihn noch nie so zusammengesunken am Tisch sitzen sehen. Nervös spielte sie mit dem Band ihrer Schürze hinter dem Rücken. Ihre Mutter musterte sie von oben bis unten. Sie dachte zurück an Grossmutters Reaktion und wünschte, ihre Eltern hätten ähnlich reagiert. Grossmutter hatte sie in die Arme genommen und getröstet, während ihre Eltern sie nur kühl ansahen. Vielleicht bildete sie sich diese Kälte aber nur ein. Sie wusste, dass Maria und Grossmutter an der Tür standen und lauschten, und das tröstete sie irgendwie. Immerhin waren die beiden auf ihrer Seite.

«Es tut mir leid», flüsterte sie kaum hörbar, als die Stille unangenehm wurde. «Ihr hattet in letzter Zeit selbst genug Ärgernisse, und nun bereite ich euch zusätzlichen Kummer.» Sie senkte den Blick. «Das wollte ich nicht.» Sie hatte das Gefühl, sie hätte so lange geredet, so viel erzählt, und doch wussten sie noch nicht alles. Sie hatte nicht gesagt, Vitus habe sie vergewaltigt, aber auch nicht, dass sie es gewollt habe. Das entsprach wenigstens teilweise der Wahrheit, da sie anfangs gar nicht gewusst hatte, was er tat.

«Katharina», hörte sie plötzlich ihren Vater sagen und blickte auf. «Kannst du uns denn sagen, wer der Mann ist, der dir das angetan hat?»

«Vitus Balthasar», flüsterte sie. «Der, der heute geheiratet hat ...»

Ihre Mutter schlug die Hände vors Gesicht und atmete hörbar aus.

Katharina sah ihr an, dass ihr letzter Funken Hoffnung auf eine Lösung des Problems hiermit erloschen war.

«Diese Ratte», zischte ihr Vater, beruhigte sich jedoch, als seine Frau ihm eine Hand auf die Schulter legte.

«Georg, das hilft uns jetzt auch nicht. Die Frage lautet vielmehr, was wir tun wollen.»

«Ihr ... schickt mich doch nicht weg ...», flüsterte Katharina schüchtern, «oder?»

Seufzend griff ihr Vater nach ihrer Hand. «Natürlich nicht, wie könnten wir! Du bist doch unser Kind. Wir werden eine Lösung finden.»

Katharina fiel ein Stein vom Herzen.

Als sie die Tür hinter sich hörte, drehte sie sich um. Grossmutter humpelte auf ihren Stock gestützt in die Küche, dicht gefolgt von Maria. Ihre Augen blitzten, wie Katharina es schon lange nicht mehr gesehen hatte.

«Georg, mein Sohn, ich bin stolz auf dich», begann die Grossmutter. «Ich danke dir! Und auch dir, Katharina, dass ihr eure Tochter nicht im Stich lasst.» Sie lächelte die beiden an und liess sich von Georg auf einen Stuhl helfen.

«Unsere Katharina weiss, dass sie einen Fehler gemacht hat, aber auch der junge Mann hat einen Fehler gemacht. Es wäre nicht richtig, nur Katharina zu bestrafen. Wir müssen nun als Familie zusammenhalten.» Alle nickten, doch niemand sagte ein Wort. Katharina atmete erleichtert auf und warf ihrer Schwester einen vielsagenden Blick zu.

«Als ich noch jung war, musste der Mann Schadenersatz leisten, wenn er die Verlobung löste, besonders wenn seine Braut in Erwartung war.» Sie sah ihre Enkelin an, die bei diesen Worten plötzlich neuen Mut fasste.

«Aber das ist nicht mehr so», wandte ihr Vater ein. «Und ausserdem waren die beiden nicht offiziell verlobt. Auf dieses Recht können wir uns nicht berufen.»

Katharina sah, wie Grossmutters Schultern nach unten sackten. Sie hatte wohl alle ihre Hoffnungen auf diese Möglichkeit gesetzt. «Die Leute werden reden», fuhr Grossmutter nach einer Weile fort. «Und zwar schlecht, denn das tun sie in solchen Fällen immer.»

Mutter schnaubte. «Und was sollen wir tun? Einen Mann für Katharina finden? In diesem Zustand will sie doch keiner heiraten.»

«Wir könnten das Kind als unser Geschwisterchen ausgeben», schlug Maria vor.

«Und wie erklären wir den Leuten im Dorf, dass Mutter nicht schwanger war?», warf Katharina ein. «Ausserdem dürfte ich das Haus nicht mehr verlassen, bis das Kind geboren ist.»

Wieder breitete sich Schweigen aus.

«Nun», begann schliesslich ihr Vater, «zurzeit sieht man dir nichts an. Noch wird niemand reden. Lass uns morgen oder in ein paar Tagen noch einmal darüber sprechen. Zuerst muss ich das Problem mit der verschwundenen Frau lösen.» Seufzend erhob er sich und verliess den Raum.

Grossmutter bat Maria, ihr aufzuhelfen und ging ebenfalls zurück in ihre Kammer, allerdings nicht ohne Katharina aufmunternd zuzulächeln.

«Katharina», sagte nun ihre Mutter, die sich als Einzige nicht gerührt hatte.

«Mutter?»

«Du weisst, dass das nicht in Ordnung war und dass du dich und die ganze Familie in eine schwierige Lage gebracht hast.»

Sie nickte.

«Wir werden eine Lösung finden, aber das wird nicht einfach. Sei dir dessen bewusst.»

Sie strich ihrer Tochter mit der Hand übers Haar und verliess den Raum ebenfalls.

Mit klappernden Zähnen zog Katharina die Hand zurück. Zu dieser frühen Stunde war das Wasser des kleinen blauen Sees eisig kalt. Sie hatte fast die ganze Nacht wach gelegen, war schliesslich aufgestanden und hatte im Schein einer kleinen Kerze einen langen Brief an Vitus geschrieben, in dem sie ihn daran erinnerte, was er ihr versprochen hatte, und dass es sein Kind war, das in ihr heranwuchs. Tief in ihrem Innern hoffte sie noch immer, dass er zu ihr zurückkommen würde, etwas anderes in ihr sagte jedoch, sie wolle ihn nie wiedersehen. In der Dämmerung hatte sie das Haus verlassen und war zum Anwesen von Vitus’ Eltern gelaufen, wo sie den Brief vor die Tür gelegt hatte. Sie hatte wohlweislich keinen Absender darauf geschrieben, es konnte also durchaus eine Glückwunschkarte zur Hochzeit sein.

Und wenn Louise von Vitus und mir erfährt, hat mich das ja nicht zu kümmern, dachte sie, änderte jedoch ihre Meinung gleich wieder. Wenn Louises Familie wusste, dass sie ein Verhältnis mit Vitus gehabt hatte, wüsste das bald das ganze Tal. Erschrocken hielt sie inne und betete, dass der Brief nicht in Louises Hände geraten möge.

Sie wusste bald nicht mehr, wie lange sie schon am Ufer des Sees sass, als sie plötzlich hinter sich ein Rascheln vernahm.

«Katharina!», hörte sie ihre Schwester rufen, in deren Stimme Erleichterung mitschwang, als sie sie erblickte. «Wir suchen dich überall!»

«Ist es schon so spät?»

«Fast Mittag.»

Katharina erschrak, nie hätte sie gedacht, dass sie so lange hier gesessen hatte. «Tut mir leid», sagte sie. «Ich wollte allein sein ...»

Maria setzte sich neben sie auf den Felsen. «Das verstehe ich.»

Sie liess den Blick über den blauen See schweifen. Die Bäume leuchteten in einem satten Grün, und das Wasser des Sees schien blauer denn je. Katharina wandte den Blick ab. Das perfekte, paradiesische Bild widerspiegelte das Gegenteil von dem, was sie empfand.

«Es ist wunderschön hier», hörte sie ihre Schwester sagen. «Jetzt weiss ich, warum ihr euch hier getroffen habt.» Sie lächelte verträumt.

Katharina reagierte nicht. Ihr Blick war auf den blauen Stein geheftet, den sie immer getragen hatte, seit Vitus ihn ihr gegeben hatte. Nun drehte sie ihn sicher schon zum hundertsten Mal in den Händen.

«Hat er dir das geschenkt?», fragte Maria, nachdem sie eine Weile ebenfalls auf den Stein gestarrt hatte, den ihre Schwester in der Hand hielt.

Sie nickte. «Ich habe ihn immer getragen. Unter den Kleidern, damit niemand ihn sah.»

«Was wirst du jetzt damit machen?»

Katharina zuckte mit den Schultern. Sie mochte nicht darüber nachdenken. Zu viele schlechte Erinnerungen, Sorgen und Ängste und nicht zuletzt das schlechte Gewissen wegen Elsa waren damit verknüpft. Sie schaute auf den See hinaus. Irgendwo auf dem Grund lag sie. Insgeheim wünschte sie Vitus, dass jemand die Wahrheit herausfand. Er hatte ihr das Blaue vom Himmel versprochen, hatte sie auf eine Antwort warten lassen und sie dann doch im Stich gelassen. Entweder war er so falsch, wie ein Mensch nur sein konnte, oder aber er war ein Feigling, der es nicht fertigbrachte, seinen Eltern zu sagen, welche Frau er wirklich heiraten wollte.

«Vielleicht beides», meinte Maria, ohne den Blick vom See abzuwenden.

Katharina zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. «Vielleicht», murmelte sie und betrachtete die Kette. Entschlossen kniff sie die Augen zusammen. Vitus sollte ihr das Leben nicht noch schwerer machen. Mit diesem Gedanken warf sie die Kette in den See. Maria verzog keine Miene und Katharina bewunderte sie dafür. Für ihre achtzehn Jahre war sie sehr vernünftig und umsichtig und manchmal sogar weiser als manch ein Erwachsener. «Lass uns nach Hause gehen», sagte sie zu ihr und erhob sich.

Erleichtert schloss ihre Mutter Katharina in die Arme. «Ich hatte schon Sorge, du wärst davongelaufen», sagte sie und drückte ihre Tochter an sich.

«Sei unbesorgt, Mutter», erwiderte diese. «Ich würde euch nicht verlassen.» Sie löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter, als sie sah, dass ihr Vater auf sie zukam. Er konnte nicht in der Werkstatt gewesen sein, dazu kam er aus der falschen Richtung, und er hielt die eine Hand vor sein linkes Auge. «Meine Güte, Vater!», rief sie. «Was ist passiert?»

«Dein Auge ist ja ganz geschwollen», sagte Maria besorgt. «Ich hole kaltes Wasser!»

«Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht», wehrte er ab und wischte sich ein paar Tropfen Blut aus den Augenbrauen. «Es gibt wesentlich schlimmere Probleme ...»

Katharina erwiderte nichts, sondern wischte ihm mit dem feuchten Lappen, den Maria ihr gebracht hatte, über das Gesicht.

«Was hast du gemacht?», fragte Maria und reichte ihr einen sauberen Lappen.

«Ich habe diesem Hund Vitus die Meinung gesagt.» In seiner Stimme schwang etwas wie Stolz mit.

Katharina erschrak.

«Ach, herrje», seufzte ihre Mutter. «Und er hat dich geschlagen?»

«So war es.» Ihr Vater nickte. «Ich habe an seine Tür geklopft und ihn gefragt, was er sich eigentlich dabei gedacht habe, meinem Mädchen so etwas anzutun. Ein solches Verhalten ist auch seiner Frau gegenüber respektlos. Er aber leugnete alles, er behauptete, er kenne Katharina nicht.»

Für einen Augenblick dachte Katharina, er habe vielleicht nicht mit dem richtigen Herrn Balthasar gesprochen, doch wie alle im Dorf kannte auch ihr Vater Vitus vom Sehen sehr wohl. Es erstaunte sie nicht, dass er alles abstritt.

«Dann hat er mir gedroht, er werde Gerüchte über mich in Umlauf setzen, dass ich etwas mit dem Verschwinden der alten Elsa zu tun hätte. Das hat mich ehrlich gesagt erstaunt.» Er unterbrach sich für einen Moment und dachte nach. «Wahrscheinlich hat er das längst getan, und deshalb verdächtigt mich das ganze Dorf. Bestimmt hat er es nicht dabei belassen, dass er sie angeblich in der Nähe meiner Werkstatt gesehen habe.» Wieder schwieg er für einen Moment.

Katharina hatte die Wunde inzwischen fertig gesäubert und wusch die Lappen aus.

«Es würde mich nicht wundern, wenn er etwas damit zu tun hätte», meinte ihre Mutter.

Katharina bemühte sich, gelassen zu bleiben. Ihre Eltern waren auf der richtigen Spur, und wieder fragte sie sich, ob sie Vitus nicht doch verraten sollte.

«Das habe ich ihm auch gesagt, und daraufhin hat er mir ins Gesicht geschlagen.» Katharina schwieg und beschloss, nie jemandem davon zu erzählen.

Die Tage vergingen, es wurde Herbst, die Blätter begannen sich zu verfärben und legten erste bunte Teppiche auf die Wiesen und Wege. Katharina hatte begonnen, weite Kleider zu tragen, um ihren Bauch zu verstecken, und war froh, dass es draussen kühler war und sie sich häufiger drinnen aufhalten konnte. Ihre Arbeit im Stall hatte Maria übernommen, dafür kümmerte sie sich um die Grossmutter. Und wenn Katharina einmal zur Tür gerufen wurde, kam es nicht selten vor, dass Maria öffnete und sich als ihre Schwester ausgab. Die Tatsache, dass sie trotz ihres Altersunterschiedes fast gleich aussahen, kam ihnen dabei zugute. Maria schien es sogar Spass zu machen, in Katharinas Rolle zu schlüpfen.

Die Gerüchte waren auch Ende September nicht verebbt, ganz Mitholz schien nach wie vor der Meinung zu sein, dass Georg etwas mit Elsas Verschwinden zu tun hatte, und Katharina fiel auf, dass gewisse Leute ihre Familie mieden. In der Kirche wollte sich niemand neben sie setzen und draussen wurden sie nur noch sehr knapp begrüsst. Es schmerzte sie, mitansehen zu müssen, wie ihr Vater darunter litt. Er bekam nicht mehr so viele Aufträge, die Leute suchten seine Werkstatt nicht mehr auf, er war inzwischen nur noch ein Schatten seiner selbst.

Eines Mittags im Oktober kam er nach Hause und setzte sich an den Esstisch, wie er es immer tat. Die Wunde, die Vitus ihm zugefügt hatte, hatte eine kleine Narbe hinterlassen, die alle in der Familie an den Vorfall erinnerte. Heute war seine Miene anders. Neugierig setzte Katharina sich neben ihn und verteilte die Suppe auf die Teller.

«Gibt es Neuigkeiten?», fragte sie, nachdem ihr Vater eine ganze Weile nichts gesagt hatte.

Er nickte und sah sich um, als warte er darauf, dass alle Familienmitglieder da sind. «Ich halte es nicht mehr aus», begann er. «Die Leute meiden uns, die Jungen bekommen Prügel in der Schule und werden mit Worten beleidigt, meine Tochter muss sich zu Hause verstecken ... So geht das nicht weiter.»

Alle sahen ihn schweigend an.

«Was hast du vor?», fragte Mutter schliesslich.

«Wir beginnen von vorne», verkündete Georg. «Wir gehen weg von hier und beginnen woanders noch einmal neu, wo man uns nicht kennt.»

«Und wo?», fragte Maria, die nervös mit dem Löffel in ihrer Suppe rührte.

«Ich habe einen Freund im Engadin», fuhr Vater fort. «Ihm habe ich vor einigen Wochen geschrieben und angedeutet, dass wir das Kandertal verlassen wollen, und nun hat er geantwortet, dass sein Onkel kürzlich kinderlos verstorben sei. Sein Haus sei daher zurzeit unbewohnt, wir könnten es haben.»

Stille.

«Ich habe bereits einen Käufer gefunden, der uns das Haus, den Stall und die Werkstatt hier abkauft», fuhr er fort, als niemand etwas sagte. «Wir werden die Gegend ohne grosses Aufsehen verlassen. Im Engadin wird niemand mit dem Finger auf uns zeigen.»

«Aber», warf Katharina ein, «wenn wir weggehen, denken doch alle, du hättest tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der alten Frau zu tun, oder nicht?»

Ihr Vater nickte kaum merklich. «Das tun sie doch ohnehin schon.» Er nahm ein Stück Brot vom Teller in der Mitte des Tischs.

Katharinas Blick wanderte vom einen zum anderen. Ihre Brüder wirkten ziemlich gelassen und löffelten ihre Suppe, Maria hingegen hatte den Löffel neben den Teller gelegt und sass mit gesenktem Blick davor. Ihre Mutter sah wenig überrascht aus, woraus Katharina schloss, dass sie bereits vorher Bescheid gewusst hatte, und Grossmutters Nicken zeigte, dass sie ihrem Sohn zustimmte.

«Wir sagen niemandem, wo wir hingehen, nur den Leuten, denen wir es sagen müssen.»

Katharina biss sich auf die Lippen. «Darf ich Philomena davon erzählen?», fragte sie leise und sah ihren Vater flehend an.

«In Ordnung, aber erzähl es nur ihr und bitte sie, es für sich zu behalten.» Er schaute in die Runde, ob noch jemand diesbezüglich eine Frage hatte. «Und Katharina», fuhr er an seine Tochter gewandt fort, «wenn wir im Engadin angekommen sind, wirst du erzählen, du seist verwitwet. Sag, dein Mann sei bei einem Arbeitsunfall oder etwas Ähnlichem ums Leben gekommen. Daraufhin seist du zu deinen Eltern zurückgekehrt. Erzähl am besten nicht vom Kandertal, falls jemand hier Bekannte oder Verwandte hat, sag, du hättest in Aarmühle oder Spiez gelebt, wo nicht jeder jeden kennt.»

Katharina prägte sich die Worte ein und nickte.