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Thun, August 1920

«Versuch es mit diesen Kräutern.» Hermine reichte ihr einen kleinen Stoffbeutel.

Nachdenklich betrachtete Clera das Etikett, das am Säckchen befestigt war.

«Ich habe zwar nicht die leiseste Ahnung, woran dein Vetter leiden könnte, aber diese Teemischung enthält so viele Kräuter, die gegen alle möglichen Leiden helfen, da muss auch das richtige für ihn dabei sein.»

Clera schaute auf und schenkte Hermine ein dankbares Lächeln. «Ich hoffe es», sagte sie. «Martina, Felix’ Schwester meint, er sei nicht so krank, wie er sagt.»

Hermine runzelte die Stirn. «Wieso sollte er das tun? Er schränkt sich so doch selbst ein.»

«Das denke ich auch, aber ... mit mir redet er nicht.»

«Koche ihm Tee», riet Hermine ihr. «Wenn der wirkt, hast du die Antwort.»

«Ja, das ist wahr», sagte Clera nickend. «Vielen Dank! Du weisst wirklich gut Bescheid über Heilkräuter.»

«Wenn du dich eine Weile damit beschäftigst, wirst du das auch bald können», lachte Hermine und warf einen prüfenden Blick auf ihre kleine Tochter, die neben ihren Körben auf dem Boden sass und ein Stück Stoff in den Händen drehte. Wie die kleine Erna hatte Clera auch Martha, Ernas Schwester, sofort ins Herz geschlossen. Sie war sehr aktiv, doch wenn Hermine sie mit nach Thun nahm, blieb sie artig sitzen, wo ihre Mutter sie platzierte.

Clera verstaute den Stoffbeutel zusammen mit ihrem Büchlein in der Rocktasche. Hermine hatte ihr vor einer Woche und heute einiges über Kräuter erzählt, das sie auf den leeren Seiten im hinteren Teil von Grossmutters Buch notiert hatte.

«Ich fürchte, ich muss los», sagte sie mit einem Blick auf die Kirchturmuhr in der Ferne. «Martina sollte in wenigen Minuten zurück sein.»

Hermine nickte. Clera hatte ihr erzählt, weshalb ihre Cousine sich nach dem Einkauf auf dem Markt jeweils für eine Stunde absetzte. Sie hatte es zur Kenntnis genommen und nicht kommentiert.

«Vielen Dank für die Kräuter», sagte sie zum Abschied. «Sehen wir uns nächste Woche wieder?»

«Ich werde auf jeden Fall hier sein», lachte Hermine, «bis dann.»

Clera verabschiedete sich von den beiden Mädchen und ging eiligen Schrittes zurück zu dem Haus, vor dem sie auch diese Woche das Pferd angebunden hatten. Es stand noch immer allein da, stellte jedoch die Ohren auf, als es sie bemerkte.

«Na, du?», begrüsste Clera die Stute. «Ist Martina noch nicht zurück?» Suchend sah sie sich um, konnte ihre Cousine aber nirgends entdecken. Sie hatte ihr versprochen, ihren Eltern nichts zu sagen, im Gegenzug hatte sie aber wissen wollen, wer er war. Martina hatte ihr im Flüsterton den Kosenamen Röbu genannt, aber nicht mehr verraten.

Vor zwei Tagen hatte sie Konstantin wieder getroffen. Er hatte ihr geschrieben, dass er nach Thun komme, jedoch nicht lange bleibe. Sie war ihm nachts auf dem Weg, der zum Hof führte, entgegengegangen, für den Fall, dass auch Martina draussen auf ihren Liebsten wartete. Mindestens eine Stunde hatten sie in jener Nacht im Stockfinsteren auf einer Wiese unterhalb des Hofes gestanden, eng umschlungen, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Es war kühl gewesen, doch in Konstantins Armen hatte sie nicht gefroren. Er hatte ihr erzählt, dass er Berta nicht wiedergesehen habe, und Clera glaubte ihm. Eine Einladung ihres Vaters zum Abendessen habe er dankend abgelehnt und dies damit begründet, dass er zurück ins Kandertal reise, weil seine Anwesenheit dort erforderlich sei.

Tags darauf hatte Clera die Redseligkeit ihres Cousins plötzlich schätzen gelernt. Josef erzählte unglaublich gern, und so fand sie heraus, dass das Gerücht um Konstantin und Berta sich gewandelt hatte. Nun erzählte man sich, die Väter hätten eine Verbindung geplant, die Konstantin jedoch nicht eingehen wollte, und man fragte sich, ob das Auswirkungen auf die Übernahme des Betriebs haben könnte. Gleichzeitig munkelte man, es gäbe eine andere Frau in Konstantin Balthasars Leben, aber über die wisse niemand etwas.

Inzwischen hatte das Gewimmel auf dem Marktplatz abgenommen. Clera suchte nochmals mit den Augen den Platz ab, konnte Martina jedoch noch immer nicht entdecken. Sie hatte es nicht eilig, aber wenn Martina nicht zur verabredeten Zeit zurückkehrte, würde sie nächstes Mal auch länger wegbleiben.

Seufzend stellte sie sich wieder neben das Pferd. Konstantin hatte kein Wort über die Kette verloren, und auch sie hatte ihm nicht erzählt, was sie inzwischen darüber erfahren hatte. Sie tastete nach dem Stein unter ihrer Bluse. Katharina hatte die Kette in den See geworfen, folglich konnten sie eine Verwandtschaft mit grosser Wahrscheinlichkeit ausschliessen. Doch wie war sie zu Louise gekommen? Clera hatte weiterlesen wollen, doch die Schrift im letzten Teil der Geschichte war ziemlich verblasst und kaum zu entziffern. Möglicherweise war das Buch einmal nass geworden.

«Hier bin ich», hörte sie plötzlich hinter sich Martinas Stimme, begleitet von schnellen Schritten. «Tut mir leid, dass du warten musstest.» An ihrer schnellen Atmung erkannte Clera, dass sie gerannt war. «Nächstes Mal bin ich pünktlich», versprach sie und strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Clera zog eine Augenbraue hoch. «Mir macht es nichts aus, wenn du später kommst, aber wenn ich es wüsste, könnte ich auch länger durch die Stadt schlendern oder mit Hermine plaudern, anstatt hier tatenlos auf dich zu warten.»

«Tut mir leid», wiederholte Martina, während sie das Pferd losband.

Bis sie die letzten Häuser von Thun hinter sich gelassen hatten, sprach keine von ihnen ein Wort. Cleras Gedanken wanderten zu ihrer Familie. Ihre Mutter hatte ihr kürzlich einen langen Brief geschrieben und erzählt, wie es ihren Brüdern ging. Clau schien die neue Arbeitsstelle zu gefallen, Teodor habe mit der Renovierung seines Häuschens in Mitholz begonnen, Michel freue sich gar nicht auf die Schule, weil er bereits jetzt ihre gemeinsamen Hausaufgabenstunden vermisse.

Ihren Vater hatte Barla nicht erwähnt, doch das störte Clera nicht. Sie versuchte das Geschehene zu verdrängen, um nicht Tag und Nacht daran denken zu müssen. Am meisten belastete es sie, dass sie ihr Zuhause verloren hatte, ihre Tiere, die Aussicht, ihre eigenen vier Wände. Und jedes Mal, wenn sie an den Hof dachte, tauchte Massimos Bild vor ihrem geistigen Auge auf. War das der Fall, verscheuchte sie die Gedanken sofort wieder und bemühte sich, an etwas anderes zu denken. Ritas Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf, deren Brief noch immer unbeantwortet auf ihrer Kommode lag. Teodor hatte ihr vor einigen Tagen geschrieben und erwähnt, dass er sie gerne besuchen würde. Sie nahm sich vor, ihm heute Abend zu antworten.

«Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe», begann Martina plötzlich, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. «Der Knecht deines Vaters hat dich angegriffen und dein Vater hat dich weggeschickt und ihn behalten?»

«So war es», erwiderte Clera, ohne ihre Cousine anzusehen.

Martina schwieg. «Aber», setzte sie neu an, «das muss doch ein Missverständnis sein. Kein Vater würde sein Kind so behandeln ...»

«Meiner schon», meinte Clera. «Aber das, was du sagst, denken andere auch.» Ihr fiel auf, dass er sich nie erkundigt hatte, wie es ihr ging, weder damals nach dem Angriff noch später. «Anscheinend vermisst er mich auch nicht», fügte sie achselzuckend hinzu, «oder er tut zumindest so, als wäre alles in Ordnung.»

Kopfschüttelnd blickte Martina auf den Boden vor ihren Füssen. «Dieser Knecht muss für ihn ja der Heiland persönlich sein.»

«Ein fauler Sack ist er», schnaubte Clera verächtlich. «Niemand kann den als Arbeitskraft brauchen, und in solchen Fällen landet man bei meinem Vater, der scheint eine magische Anziehungskraft für solches Gesindel zu haben.»

«Und deine Mutter?», fragte Martina und sah sie von der Seite an. «Was macht sie? Ich nehme an, sie ist noch dort.»

Clera nickte. «Sie fühlt sich auch nicht wohl auf dem Hof – wer weiss, was als Nächstes passiert, – aber was soll sie tun? Sie muss bleiben.»

«Und deine Brüder?»

«Die leiden darunter. Die einen sprechen nicht mehr mit meinem Vater, die anderen reden nicht über das Thema.»

«Das tut mir so leid für dich, Clera», sagte Martina leise.

Clera konnte das Mitgefühl in ihrer Stimme hören.

«Ich wünschte, du hättest auch einen Freund wie ich, der dich liebt und dich gerade in solchen Momenten unterstützt.»

«Danke», flüsterte Clera. In der Tat war sie froh, dass Konstantin in dieser Zeit für sie da war.

Als sie wenig später den Hof erreichten, fand Clera in der Küche mehrere Briefe vor. Einer kam von ihrer Mutter, war aber nicht an sie adressiert, sondern an Erika. Von Konstantin war keiner dabei. Sie liess die Umschläge auf dem Tisch liegen und ging nach draussen, um nach Merl zu sehen. Walter hatte die alte Hundehütte aus der Scheune geholt und in den Hof gestellt. Merl schien sie zu mögen, er lag oft in der Hütte und beobachtete von dort aus das Geschehen im Hof. Als er Clera aus dem Haus kommen sah, sprang er auf und rannte schwanzwedelnd auf sie zu.

«Salü, mein Grosser», begrüsste sie ihn und ging in die Hocke. Merl rieb seinen Kopf an ihrer Schulter und leckte ihre Hand ab.

«Komm, lass uns in den Garten gehen.»

Freudig sprang der Hund neben ihr her, hob ein Stück Holz auf, das auf dem Boden lag, und hielt es ihr hin. Sie nahm es und warf es auf die Wiese neben dem Garten. Merl preschte los, holte es und brachte es zurück. Mit dem Holzstück im Maul trottete er neben Clera her bis zum Zaun, der den Garten von der Wiese zwischen dem Hof und dem Dorf abtrennte. Sie liess den Blick zu den Bergen auf der anderen Talseite schweifen, dann setzte sie sich neben Merl ins Gras und kraulte sein Fell.

Nachdenklich zog sie das Stoffsäckchen aus der Tasche. In den letzten Tagen hatte sie Felix mehrmals Thymiantee gebracht, doch er hatte nie mehr als ein Murren für sie übrig gehabt. Einmal hatte Erika gesagt, es gehe ihm etwas besser, ein anderes Mal hiess es, er sei schwächer als je zuvor. Seit sie gemerkt hatte, dass er die halbe Tasse Tee stehen liess, wenn sie keinen Honig dazugab, achtete sie darauf, dass sie jede Tasse süsste. Hermine meinte, das sei gesund, und offensichtlich schmeckte es Felix. Clera hatte jeden Tag nach ihm gesehen und ihn gefragt, wie er sich fühle, was ihm wehtue, doch eine Antwort hatte sie nie erhalten. Nicht einmal angesehen hatte er sie. Immer wieder hatte sie sich gefragt, ob er den ganzen Tag schlief – bis gestern. Nachdem sie ihm den Tee gebracht hatte, konnte sie durch den Türspalt beobachten, dass Felix in einem Buch las. Sie hatte ihn davor nie lesen sehen, anscheinend tat er das nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte.

Merls Knurren riss sie aus ihren Gedanken. Er sass neben ihr, den Blick auf die Einfahrt gerichtet. Clera wusste, was das bedeutete, und schielte in dieselbe Richtung. «Die Hexe», murmelte sie kaum hörbar vor sich hin. «Guter Hund.» Sie griff nach seinem Halsband. «Komm mit.»

«Erika schätzt es nicht, wenn man auf ihre Kräuter trampelt!», rief die Alte ihr nach, als sie sich umdrehte, um zum Haus zurückzugehen.

Clera reagierte nicht, sondern setzte ihren Weg unbeirrt fort. Merl folgte ihr, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Felix’ Miene war verschlossen wie immer. Wenn Clera oder Martina ihn beim Essen ansprach, antwortete er einsilbig, wenn aber Josef etwas erzählte, hörte er aufmerksam zu. Clera fragte sich, ob sie es sich nur einbildete, oder ob er sie wirklich häufiger anblickte. Sie spürte seine Blicke auf sich und fühlte sich beobachtet, aber immer wenn sie ihn anschaute, wandte er den Blick ab. Und obwohl sie ihn mehrmals dabei ertappte, dass er sie mit kalten Augen musterte, sprach er kein Wort mit ihr.

«Clera», begann Erika, als Clera ihr beim Aufräumen der Küche half, «ich habe eine Überraschung für dich. Deine Mutter und ich haben in letzter Zeit einige Briefe hin- und hergeschickt. Heute ist wieder einer angekommen, sie lässt dir ausrichten, dass sie übermorgen herkommt, um uns zu besuchen.»

Cleras Miene hellte sich auf. «Wirklich? Das hat sie in ihrem letzten Brief gar nicht erwähnt ...»

«Sie hat mich gebeten, es dir mitzuteilen, da es eine ziemlich kurzfristige Entscheidung war. Walter holt sie am Bahnhof in Thun ab.»

Aufgeregt und voller Vorfreude machte Clera sich wieder an die Arbeit. Während sie die Teller vom Abendessen spülte, überlegte sie, wie lange sie ihre Mutter nicht gesehen hatte. Es kam ihr länger vor als knapp einen Monat. Insgeheim hoffte sie, Barla würde nicht mit ihr über das Familienproblem sprechen wollen. Sie versuchte nach wie vor, das Ganze zu verdrängen, um damit klarzukommen und es irgendwann vergessen zu können. Immerhin musste sie hier nicht befürchten, Massimo zu begegnen. Sie fragte sich, ob ihr Vater überhaupt wusste, wo sie sich aufhielt, und hoffte, er wisse es nicht. Sicher würde er es Massimo sagen, wenn der ihn danach fragte, er war ihm schliesslich vollkommen hörig, wie sich gezeigt hatte.

Erika begrüsste Barla überschwänglich, wie Clera sie gar nicht kannte. Sie fragte sich, wie lange die beiden sich wohl nicht gesehen hatten, und folgte ihnen ins Haus.

«Ich kümmere mich darum, Tante Erika», sagte Clera und griff nach dem Schöpflöffel, bevor Erika ihn in die Hand nehmen konnte. «Ihr habt euch sicher viel zu erzählen.»

«Danke, meine Liebe.» Erika schenkte ihr ein warmes Lächeln und setzte sich mit Barla an den Tisch, während Clera und Martina das Essen zubereiteten. Ab und zu versuchte Clera ein paar Fetzen des Gesprächs aufzufangen, doch die Stimmen der beiden Frauen im Raum nebenan waren kaum mehr als ein Flüstern.

«Hecken sie etwas aus?», fragte Martina vom Herd herüber.

Clera fühlte sich ertappt und zuckte mit den Schultern.

«Das duftet herrlich!», rief Walter, als er die Küche über die Laube betrat. «Ich wasche kurz die Hände, dann bin ich auch da.» Er verschwand durch die Tür zum Flur.

«Ich hole Felix», sagte Martina, «Josef sollte auch gleich hier sein.»

Da Sonntag war, weilte auch Josef auf dem Hof und übernahm die eine oder andere Arbeit, die auf ihn gewartet hatte. Und wenn er beim Essen anwesend war, brauchte sich niemand sonst um ein Gespräch zu bemühen.

Clera lag richtig mit ihrer Vermutung. Sie hatte kaum die Möglichkeit, mit ihrer Mutter zu sprechen.

Felix sass mit finsterer Miene am Tisch, sagte kein Wort und stocherte in seinem Essen herum. Clera ertappte ihn aber mehrmals dabei, dass sein Blick zu ihrer Mutter und dann zu ihr wanderte, bevor er wieder auf seinen Teller starrte. Er schien dem Gespräch zwischen Josef, Barla, Erika und Walter zu folgen, verzog aber keine Miene.

«Clera, setz dich zu uns», rief Erika sie zu sich, als sie den Abwasch erledigt hatte.

«Ich freue mich so, dass es dir hier gefällt», sagte Barla und strahlte ihre Tochter an. «Geht es dir besser?»

Clera nickte. «Wie geht es Michel und den anderen?»

«Gut», antwortete Barla. «Michel muss ja wieder zur Schule gehen. Er erzählt mir aber jeden Tag, er wolle nicht, er bleibe lieber auf dem Hof und helfe mit.»

Beim Gedanken an ihren kleinen Bruder senkte Clera den Blick. Für ihn tat es ihr am meisten leid, dass sie nicht mehr da sein konnte.

«Clau gefällt die neue Arbeitsstelle», fuhr Barla fort. «Hat er sich einmal gemeldet?»

«Ja, einmal, aber nur ein kurzer Brief.» Jedes Mal, wenn sie nach Thun ging, dachte sie daran, Clau zu besuchen, doch während der Arbeitszeit konnte er ja seinen Posten nicht verlassen, und zudem wusste sie nicht genau, wo er arbeitete.

«Teodor und Rita geht es ebenfalls gut. Die Hochzeit rückt näher, und so etwas bringt immer viel Arbeit mit sich. Obwohl sie noch fast drei Monate Zeit hat, ist die arme Rita schon furchtbar nervös.»

Clera erwiderte das Lachen ihrer Mutter.

«Und die Zwillinge sind nach wie vor auf der Alp. Peider spricht nun auch davon, den nächsten Sommer auf der Alp zu verbringen.»

«Und wie geht es Floc und den anderen Tieren?»

«Die sind alle wohlauf. Michel kümmert sich um deine Hühner und hat ein paar weitere Aufgaben von dir übernommen. Er macht seine Arbeit gut.»

Darüber freute sich Clera. «Was ...», sie suchte nach Worten, «was ist aus meinem Zimmer geworden?»

Barla seufzte und zögerte einen Moment. «Dein Vater wollte Massimo dort einquartieren», sagte sie schliesslich, «aber ich habe mich vehement dagegen gewehrt. Es ist dein Zimmer geblieben, dient aber immer noch als Gästezimmer für Rita, wenn sie und Teodor zu Besuch kommen ... Was zugegebenermassen nicht so oft der Fall ist, wie wir es geplant hatten.»

Fassungslos schüttelte Clera den Kopf. Dass ihr Vater ihr Zimmer dem Knecht, der sie verprügelt hatte, geben wollte, schien ihr ein ebenso grosser Verrat zu sein wie sein Verhalten nach dem Vorfall. «Macht er das eigentlich absichtlich, damit ich sicher nicht zurückkomme?» Sie erwartete keine Antwort darauf. Schnaubend versuchte sie an etwas anderes zu denken.

«Möchtest du denn zurückkommen?», fragte Barla nach einigen Sekunden, die Clera wie Minuten vorgekommen waren.

«Nein ...ja, ... aber nur, wenn ich sicher sein kann, dass dieser Massimo weg ist.» Entschlossen hob sie das Kinn.

«Ich verstehe das», sagte Barla nickend. «Aber dein Vater hat sich nun einmal für ihn entschieden und gegen dich, er wird ihn nie entlassen ...»

«Und Massimo weiss jetzt, dass er sich alles erlauben kann, weil er keine Konsequenzen zu fürchten hat», wetterte Clera lauter als beabsichtigt. «Er würde sofort wieder zuschlagen, wenn er nicht bekommt, was er will! Diesmal hat er mich nur geschlagen, aber wer weiss, was als Nächstes passiert!»

Wieder nickte Barla.

«Wie hältst du das aus?» Sie sah das kurze Zögern in den Augen ihrer Mutter.

«Für die Familie ... Wo soll ich denn sonst hingehen?»

Clera schluckte, als sie einsah, dass sich ihre Mutter in einer genauso üblen Situation befand wie sie selbst, und bereute ihre Frage beinahe.

«Aber ich habe ihm auch gesagt, dass ich mich weigere, seine Wäsche zu waschen», fügte Barla hinzu, und Clera fragte sich, ob sie ein wenig rebellischen Stolz in ihrer Stimme hörte. «Er solle das selbst machen oder seinen Tschinggen beauftragen, der könne ja schliesslich alles besser und sei ihm wichtiger als wir. Seither trägt er schmutzige Hemden.»

Clera musste beinahe lachen. «Das hast du gesagt?»

Barla nickte. Auch über ihr Gesicht huschte ein Lächeln.

«Vielleicht wird ihm ja auf diese Weise bewusst, dass es so nicht weitergehen kann.»

«Das wird er nie einsehen», meinte Barla. «Zumindest nicht, solange dieser Taugenichts ihn unter der Fuchtel hat.»

Clera seufzte. Sie hatte sich zwar vorgenommen, nicht mehr über diese Angelegenheit zu sprechen, doch sie konnte nicht anders.

«Du kannst gerne hierbleiben, solange du willst», sagte nun Erika, die sich bisher nicht geäussert hatte.

«Danke», sagte Clera und schenkte ihr ein Lächeln.

«Deshalb», ergriff Barla wieder das Wort, «haben wir – Erika und ich – uns etwas überlegt.» Ihre Augen leuchteten auf, als sie zu Erika hinüberblickte.

«Wir haben uns gemeinsam Gedanken gemacht ...», begann diese. «Wenn du ... wenn du Felix heiratest, könntest du hier auf dem Hof bleiben, würdest richtig zur Familie gehören und hättest eine Aufgabe, denn mir wird es langsam zu viel, mich um den Hof und die Familie zu kümmern und obendrein Felix zu pflegen.»

Cleras Gesichtszüge entgleisten. Entgeistert starrte sie in das vor Freude strahlende Gesicht ihrer Tante und dann in das ihrer Mutter.

«Josef plant, einen der Schuppen zu einer kleinen Wohnung umzubauen. Ihr könntet dort wohnen, wärt immer noch auf dem Hof, hättet aber etwas Eigenes», fuhr Erika unbeirrt fort.

Clera merkte, dass sie noch kein Wort dazu gesagt hatte.

«Du musst dich nicht jetzt entscheiden», wandte ihre Mutter ein und legte eine Hand auf ihre. «Lass dir Zeit, es eilt nicht.»

Clera gab es auf, nach Worten zu suchen, und starrte nur noch vor sich hin. Nicht im Traum dachte sie daran, Felix zu heiraten. Er behandelte sie wie Luft und brauchte rund um die Uhr Pflege. Sie war nicht bereit, sich so als Krankenschwester einstellen zu lassen.

Erst eine Stunde später, als sie ihrer Mutter den Hof zeigte, fand sie Worte für ihre Gedanken.

«Das muss ein Schock für dich gewesen sein», räumte Barla ein, «aber überleg es dir. Er ist kein schlechter Junge ...»

«Nur seine Gesundheit», murmelte Clera.

Barla seufzte. «Magst du ihn denn nicht?»

«Na ja ... Er spricht kein Wort mit mir.»

«Das wird sich noch ändern, du wirst sehen.» Barla lächelte ihr aufmunternd zu. «Und wenn nicht ...» Sie senkte die Stimme. «Nach dem, was Erika gesagt hat, hat er womöglich nicht mehr lange zu leben. Heirate ihn doch, Clera, so würdest du ihm eine Freude und dir selbst ein Zuhause schaffen. Wenn er wirklich in nicht allzu ferner Zukunft ... zu unserem Herrn geht, kannst du immer noch zurückkommen.»

Clera zog es vor zu schweigen. Erika hatte ihr gegenüber nie erwähnt, dass es so schlecht um ihn stand.

«Denk darüber nach.»

Doch Clera brauchte nicht darüber nachzudenken. Ein Gedanke an Konstantin reichte, um ihre Entscheidung zu treffen, doch sie sagte nichts. Der Wunsch, mit ihm zu reden und ihm ihr Leid zu klagen, wurde beinahe übermächtig, als sie sich am späteren Nachmittag des nächsten Tages von ihrer Mutter verabschiedete.

«Kannst du nicht noch einen Tag bleiben?», fragte sie, doch Barla schüttelte den Kopf und strich ihr mit dem Finger über die Wange, wie sie es jeweils getan hatte, wenn eines ihrer Kinder traurig war.

«Deine Brüder brauchen mich.»

Das leuchtete Clera ein. «Grüss sie alle von mir. Aber nur meine Brüder und die Tiere.»

Sie winkte ihr nach, bis sie den Wagen und das Pferd nicht mehr sehen konnte, dann biss sie die Zähne zusammen und eilte in ihre kleine Kammer, wo sie sich schluchzend aufs Bett warf.

«Das werde ich nicht tun», schimpfte sie leise vor sich hin. «Erzählt mir, was ihr wollt, ich werde Felix nicht heiraten!» Mit geballten Fäusten überlegte sie, wie sie dieser unangenehmen Situation entkommen konnte. Sie könnte ihrer Mutter sagen, dass sie einen anderen liebte ... aber wie sollte sie ihre Bekanntschaft mit Konstantin Balthasar erklären?

Katharina fiel ihr ein, die es ebenso schwer gehabt hatte. Langsam zog sie das Buch aus ihrer Rocktasche, stand auf und setzte sich auf den Stuhl am Fenster. Froh, dass es draussen noch hell war, schlug sie die Seite auf, in die sie das Buchzeichen gelegt hatte, wischte die Tränen ab und begann zu lesen.