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Steffisburg, August 1920

Nachdenklich liess Clera das Buch sinken. Der Schluss kam überraschend und verriet ihr doch nicht, was aus Katharina und dem Kind geworden war, und ebenso wenig konnte sie sich erklären, wie Louise zu der Kette gekommen war. Sie blätterte weiter, doch die nachfolgenden Seiten waren leer. Trotzdem gab sie nicht auf, betrachtete jede einzelne Seite und suchte nach weiteren Hinweisen, bis ihr plötzlich auffiel, dass der Einband des Buches hinten dicker war als vorn. Jetzt war ihre Neugier erst recht geweckt: Sie zog am ledernen Einband und löste ihn mit viel Kraft vom hinteren Buchdeckel. Zum Vorschein kam ein kleiner Stapel zusammengefalteter Papiere. Sie waren alt, leicht vergilbt und wiesen am Rand ein paar kleine Risse auf. Clera erkannte sofort, dass es sich um Briefe handeln musste. Die geschwungene Schrift sah wunderschön aus, war aber schwierig zu entziffern.

Kandergrund, Februar 1804

Meine liebe Katharina

Ich danke dir herzlich für deinen Brief. Es freut mich zu hören, dass ihr nach eurer langen und beschwerlichen Reise wohlbehalten im Engadin angekommen seid.

Nach eurer Abreise sind in Mitholz die wildesten Gerüchte aufgekommen, die sich allmählich auch nach Kandergrund ausgebreitet haben. Man erzählt sich, du seist verschwunden, schliesslich hat dich ja lange niemand mehr gesehen, und kurz darauf sei der Rest deiner Familie ausgewandert. Die Leute glauben nach wie vor, dass dein Vater im Falle der verschwundenen alten Frau der Schuldige sei, was ebenfalls als Grund für eure plötzliche Abreise angesehen wird. Ich habe mich umgehört, niemand hier weiss, wohin ihr gegangen seid, und ich habe keiner Seele etwas erzählt.

Vitus und Louise weilen schon seit einiger Zeit nicht im Tal, man sagt, sie seien auf Reisen.

Ich hoffe, dir und deinem Kind geht es gut. Du müsstest inzwischen im siebten oder achten Monat sein, nicht wahr? Ich bedaure, dass wir uns nicht besuchen können, du solltest meine kleine Hanni einmal sehen! Sie ist nun einen Monat alt und das herzigste Kind im Tal (natürlich sagen das alle Mütter von ihren Kindern ...).

Schreib mir, wenn dein Kind da ist!

Mit den besten Wünschen

Mena

Clera erinnerte sich, dass Mena als Einzige die Geschichte gekannt hatte. Offensichtlich war sie Katharina eine gute Freundin gewesen und hatte ihr Wort gehalten. Sie fragte sich, ob ihre Nachkommen wohl noch im Kandertal lebten, doch da ihr Nachname nirgends erwähnt wurde, war es für sie nun unmöglich, diese zu finden. Sie faltete das zweite Stück Papier auf.

Kandergrund, Juni 1804

Meine liebe Katharina

Dein Brief ist heute bei mir eingetroffen, hab vielen Dank dafür! Ich bin sehr glücklich und erleichtert, dass die Geburt deines kleinen Victor gut verlaufen ist, und ich hoffe immer noch, dass wir uns eines Tages wiedersehen können.

Du glaubst nicht, was hier im Kandertal geschehen ist: Kürzlich haben Leute aus Kandergrund in dem kleinen See im Wald eine furchtbare Entdeckung gemacht. Sie haben die Leiche gefunden, von der du mir erzählt hast. Ich habe natürlich so getan, als wäre ich erschrocken, als mein Schwiegervater mir davon erzählte.

Keine Sorge, meine Liebe, sie konnten die alte Frau nicht identifizieren. Viel war nicht mehr von ihr übrig, ich erspare dir grausige Einzelheiten, aber sie sehen es als erwiesen an, dass es sich um eine Frau handelt. Und da war noch etwas: Zusammen mit der Leiche haben sie eine Kette mit einem blauen Stein aus dem See gezogen. Sie erinnerte mich sehr an diejenige, die du mir damals gezeigt hast, das Geschenk von Vitus. Ich nehme an, du hast sie in den See geworfen ...

Vorgestern habe ich Louise besucht. Sie hat mir davon erzählt und obendrein erwähnt, dass Vitus sehr merkwürdig reagiert habe, als man ihm die Kette gezeigt hatte. Bald darauf habe er begonnen, Mutmassungen anzustellen, und vor sich hin gemurmelt, es könnte sein, dass eine junge Frau von ihrem Geliebten getrennt worden sei und deshalb ...

Louise fand das äusserst seltsam.

Ich werde mich weiterhin umhören, was die Leute erzählen. Zufällig habe ich von Herrn Künzi erfahren, der gesagt hat, er habe den Stein wiedererkannt, du hättest ihn einmal sonntags getragen. Seither vermuten manche Dorfbewohner, du seist die tote Frau aus dem See, schliesslich würde das dein Verschwinden erklären. Die Kunde hat in Mitholz Bestürzung ausgelöst, da dich hier alle gemocht haben. Das Gerücht ist inzwischen auch Louise zu Ohren gekommen, obwohl sie dich nicht gekannt hat. Unabhängig davon hat sie mir eines Tages ihr Leid geklagt, dass sie nämlich vermute, Vitus habe während ihrer Verlobungszeit eine andere Frau getroffen. Ich weiss nicht, wie sie darauf gekommen ist. Dass sie ebenfalls glaubt, dass du das warst, hat sie nicht gesagt, aber auch nicht abgestritten.

Am vergangenen Sonntag haben wir einen Familienspaziergang zu besagtem See gemacht. Das Wetter war prachtvoll und das Wasser erschien mir noch blauer als bei meinem letzten Besuch. Ein wunderschöner Ort, ich verstehe gut, dass ihr seine Gestade für eure heimlichen Treffen ausgewählt habt.

Gott behüte dich und dein Kind, liebe Katharina.

Mit lieben Grüssen

Mena

Clera legte den Brief zum anderen auf ihre Bettdecke. Man hatte die Kette also im See gefunden und zu Vitus gebracht, folglich konnte er sie später Louise geschenkt haben. Anders konnte Clera es sich nicht erklären. Vorsichtig zog sie die Kette unter ihrer Bluse hervor und betrachtete den Anhänger. Er hatte ihrer Ururgrossmutter gehört und dann Konstantins. Eine aussergewöhnliche Geschichte, die sie beide verband ...

«Katharina ist ins Engadin ausgewandert, hat Vitus’ Kind dort grossgezogen ...», murmelte sie vor sich hin und erstarrte plötzlich. Ihr Kind war ein Halbgeschwister von Louises Kindern gewesen.

«Katharina war meine Ururgrossmutter ... Also könnten Konstantin und ich doch verwandt sein ...» Sie versuchte auszurechnen, ob sie seine Cousine dritten oder vierten Grades war.

«Halb-Cousine dritten Grades ...», murmelte sie und schüttelte den Kopf. «Eine unmögliche Bezeichnung.»

Neugierig las sie den dritten Brief.

   

Kandergrund, Dezember 1814

Meine liebe Katharina

Ich danke dir herzlich für deinen ausführlichen Weihnachtsbrief! Es freut mich ausserordentlich, dass es dir und deiner Familie gut geht. Du und Dumeng habt kürzlich euren fünften Hochzeitstag gefeiert. Ich bin froh, dass Victor nun doch einen Vater und sogar eine kleine Schwester bekommen hat! Magdalena würde sich sicherlich gut mit meinen Mädchen verstehen.

Louise und Vitus haben nach wie vor zwei Kinder, das Dorf wartet auf weitere, aber Louise hat mir anvertraut, dass es wahrscheinlich bei zwei bleiben würde. Ich habe nicht weiter nachgefragt, was sie damit meinte, aber ich kann es mir denken. Sie scheint nicht glücklich zu sein, Vitus ist viel unterwegs und lässt sie oft allein in dem grossen Haus.

Von grösserer Wichtigkeit für dich ist aber die Tatsache, dass niemand mehr nach der alten Elsa fragt, obwohl man ihr Verschwinden nie aufgeklärt hat. Über dich hingegen spricht man noch immer – na ja, nicht über dich, sondern über die Leiche, die man für dich hält. Die Geschichte, die man sich erzählt, hat sich ein wenig gewandelt, nun heisst es, ein junges Mägdelein habe seinen Liebsten verloren, mit dem es oft zu jenem kleinen See gegangen war. Es sei nicht über den Verlust hinweggekommen und schliesslich in seinen Wellen ertrunken. Den Kindern erzählt man, das Seelein habe daraufhin die Farbe seiner Augen angenommen. Dein Name wird in diesem Zusammenhang nicht genannt, aber sicherlich gedacht. Mich erinnert diese Geschichte stark an die Mutmassungen von Vitus, die Louise mir anvertraut hat. Es würde mich nicht wundern, wenn er an der Verbreitung dieser Version beteiligt war ...

Deine Geschichte ist zu einer Sage geworden, Katharina, jeder im Tal kennt sie.

Ich bin neugierig, wie es euch geht. Lass von dir hören!

Mit lieben Grüssen

Mena

Erstaunt hielt Clera inne. Sie erinnerte sich an den Tag, als Konstantin ihr die Sage vom Blausee erzählt hatte. In der Schule hatte sie einst gelernt, dass Sagen stets einen wahren Kern hatten, nun hatte sie diesen wahren Kern der Blausee-Sage gefunden – ihre Ururgrossmutter. Andererseits aber auch wieder nicht, denn wenn sie wirklich damals im See ertrunken wäre, wäre sie – Clera – jetzt nicht hier. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Für einen Moment verspürte sie den Wunsch, Konstantin davon zu erzählen. Sie war ihm ohnehin noch eine Erklärung schuldig, warum sie über Vitus Bescheid wusste. Nachdenklich faltete sie das letzte Blatt auseinander. Das Papier war heller als das der anderen Briefe, und als ihre Augen über die Schrift huschten, wusste sie auch, warum.

Mitholz, 1915

Meine liebe Clera

Nun kennst du die Geschichte unserer Familie. Sicher hast du eine Menge Fragen, die dir niemand mehr beantworten kann. Das bedaure ich und hoffe, dass du in diesem Brief die Antworten findest, die du suchst.

Bestimmt hast du dich während des Lesens gefragt, ob wir mit der Familie Balthasar verwandt seien. Das sind wir nicht. Victor war mein Onkel, meine Mutter, Magdalena, war die Tochter von Katharina und Dumeng und somit nicht mit Vitus Balthasar verwandt. Ob du das gut findest oder schade, sei dir überlassen.

Victor hat nie erfahren, wer sein Vater war. Katharina hat ihm nie die Wahrheit erzählt. Zwar hatte sie vor, ihm eines Tages alles zu erklären, aber er ist jung gestorben und hat die Wahrheit über seine Abstammung deshalb nie erfahren. Aber glaub mir, er war glücklich, und Dumeng war ihm ein guter Vater.

Dein Vater weiss nur, dass wir aus Mitholz stammen, aber ich habe ihm nie erzählt, warum unsere Familie damals ausgewandert ist. Wenn er es wüsste, hätte er sicherlich eine sehr schlechte Meinung von der Familie Balthasar, ich könnte mir gar vorstellen, dass er eine Familienfehde vom Zaun gebrochen hätte.

Nein, es genügt, wenn er weiss, dass unsere Vorfahren einst das Tal verlassen haben, den Grund braucht er nicht zu kennen. Familie Balthasar hat den Vorfall von damals bestimmt auch längst vergessen, schliesslich hat nur Vitus davon gewusst, und der hat sicherlich in seinem eigenen Interesse geschwiegen.

Er hat die Kette vom Schultheiss zurückgeholt – frag mich nicht, was er diesem erzählt hat – und sie Louise später zum Hochzeitstag geschenkt. Sie hat sie wohl weitervererbt, doch ich weiss nicht, was letzten Endes daraus geworden ist. Was ich aber mit Sicherheit weiss, ist, dass Vitus ein falscher Mensch war. Louise war an seiner Seite nicht glücklich. Vieles hat sie Mena anvertraut, die es Katharina weitererzählt hat. Nur der Familie und des guten Rufes wegen ist sie bei ihm geblieben, aber innerhalb des Hauses lebte sie getrennt von Vitus.

Bestimmt kennst du die Sage vom Blausee, die man sich heute noch erzählt – nun kennst du auch ihren Ursprung.

Hüte dich davor, dieselben Fehler zu machen, Clera. Und denk daran, deinem Vater nichts davon zu erzählen, er könnte mit diesem Wissen nicht umgehen. Das ist eine Geschichte, die wir unter Frauen weitergeben. Wenn du sie eines Tages deiner Tochter erzählen willst, tu das, wenn nicht, verbrenne das Buch.

Alles Gute für deine Zukunft!

Leb wohl, meine Liebe,

deine Grossmutter

Chatrina

Clera wischte sich eine Träne von der Wange. Mit diesem Brief hatte sie nun das letzte Puzzleteil zum Geheimnis der Kette gefunden. Sie faltete die Briefe zusammen und steckte sie wieder unter den Einband. Draussen hörte sie Hufschläge.

Sie klappte das Buch zu und blickte aus dem Fenster. Walter kam zurück und fuhr in den Hof. In diesem Moment kam auch Clera wieder in der Gegenwart an und aller Kummer brach über sie herein. «Nein», flüsterte sie vor sich hin und liess sich auf ihr Bett fallen, «ich werde Felix nicht heiraten. Niemals!» Insgeheim wünschte sie, Konstantin wäre hier. Sie hatte das Gefühl, ein Gespräch mit ihm und eine Umarmung würden ihr helfen, doch sie wusste nicht einmal, ob er sich in Thun aufhielt oder zu Hause.

Als sie später in ihrem Bett lag und den Geräuschen der Nacht lauschte, fragte sie sich, worüber bei Tisch gesprochen worden war, doch sie erinnerte sich nicht. Ihre Gedanken hatten sie so sehr gefangen gehalten, dass sie nicht zugehört hatte.

Vorhin war ihr der Gedanke gekommen, ihre Familie über ihr Verhältnis zu Konstantin in Kenntnis zu setzen. Wenn er um ihre Hand anhielt, würden sie sie nicht mehr mit Felix verheiraten wollen. Andererseits glaubten die anderen anscheinend, Felix werde nicht mehr lange leben, folglich würden sie wahrscheinlich darauf bestehen, die Verlobungszeit kurz zu halten. Sie würde schnell handeln müssen ... Oder einfach nein sagen, sagte eine andere Stimme in ihrem Kopf. Aber mit welcher Begründung? Zu gerne hätte sie Grossmutter Chatrina um Rat gefragt.

Erschrocken zuckte Clera zusammen, als etwas leise gegen das Fensterchen ihrer Kammer klopfte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als ihr die dunkle Gestalt im Hof wieder einfiel. Sie zog die Decke bis zur Nase hoch und wagte nicht zu atmen. Es klopfte noch einmal.

«Clera», hörte sie eine leise Stimme, «bist du da? Komm raus!»

Langsam schob sie die Decke weg, stieg aus dem Bett und schlich hinüber zum Fenster. «Wer ist da?», fragte sie mit zittriger Stimme.

«Ich bin’s, Konstantin.»

Erleichtert atmete sie auf. «Einen Moment.» Hastig band sie ihre langen Haare zusammen und warf sich den Umhang um die Schultern, bevor sie die Tür öffnete und hinaushuschte.

«Clera», sagte er und nahm sie in die Arme.

«Wie kommst du hierher?», fragte sie kaum hörbar und legte das Kinn auf seine Schulter. «Wieso hast du mir nicht geschrieben?»

«Ich musste heute kurzfristig nach Thun fahren», antwortete er, «da blieb mir keine Zeit mehr, dir zu schreiben, aber ich wollte nicht abreisen, ohne dich gesehen zu haben.»

«Und ich habe mir vorhin gewünscht, du wärst hier. Manchmal gehen Wünsche doch ...» Sie brach ab, als sie Schritte im Hof hörte.

Eine dunkle Gestalt trat unter dem tiefhängenden Dach hervor – sie musste aus dem Stall gekommen sein –, sah sich um und rannte dann weg Richtung Einfahrt. Mit angehaltenem Atem blickte Clera ihr nach. Das konnte nicht Martina gewesen sein, dazu war die Gestalt zu gross.

«Wer war das?», flüsterte Konstantin ebenso erschrocken.

«Ich weiss es nicht», erwiderte Clera kopfschüttelnd, «aber ich habe die Gestalt schon einmal gesehen, als ich abends auf dich wartete.»

«Hast du deiner Tante oder deinem Onkel davon erzählt?»

«Nein», sagte sie, «wie hätte ich erklären sollen, dass ich nachts draussen war? Aber sie haben auch nie gesagt, es sei etwas gestohlen worden.»

«Merkwürdig», murmelte Konstantin. «Ein Glück, dass wir hier oben an der Treppe standen und nicht im Garten. Dort hätte er, wer auch immer er ist, uns gesehen.»

«Lass uns auf die andere Seite des Hofes gehen», schlug Clera vor. «Falls er zurückkommt ...» Konstantin folgte ihr um das Haus herum. Auf der vom Haus abgewandten Seite des Hühnerhofs blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um.

«Wie geht es dir?», fragte er, als sie ihre Arme um seinen Hals legte.

«Meine Mutter hat mich besucht», erzählte sie und bemühte sich um ein Lächeln, doch Konstantin erwiderte es nicht.

«Aber?», fragte er, als hätte er sofort gespürt, dass etwas nicht stimmte.

Clera seufzte und senkte den Blick. «Sie und meine Tante haben ausgehandelt, dass ich meinen Cousin Felix heiraten soll.» Für einen Moment schwiegen beide. «Ich habe dir von ihm erzählt, er ist krank und Tante Erika meint, er werde nicht mehr lange leben ...»

«Und willst du das?»

«Niemals», antwortete Clera, ohne zu zögern. «Würde ich dir das sonst so bedrückt erzählen? Ich denke nicht im Traum daran!» Ihre Stimme war lauter geworden.

Mahnend legte Konstantin den Zeigefinger auf die Lippen. «Du kannst dich weigern.»

«Ja, aber ... wie soll ich es begründen?»

Konstantin nickte nachdenklich. «Eine gute Frage.»

Sie lehnte den Kopf an seine Brust und liess sich von ihm über das Haar streichen.

«Ich warte auf dich, was auch immer geschieht», flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr.

Sie schniefte und schmiegte sich noch enger an ihn.

«Wann kehrst du zurück ins Kandertal?»

«Ich weiss nicht. Noch kann ich es mir nicht vorstellen, wieder im selben Haus wie mein Vater und auf demselben Hof wie Massimo zu leben.»

«Dein Vater hat ihn also immer noch nicht entlassen?»

«Nein. Er bevorzugt ihn ja, deshalb musste ich gehen.»

«Aber ...» Konstantin überlegte. «Wenn er weg wäre, würdest du zurückkommen?»

«Was hast du vor?», fragte Clera und musste beinahe lachen. «Willst du ihm eine Stelle auf deinem Gut anbieten, damit er von unserem Hof verschwindet? Glaub mir, den willst du nicht in deiner Nähe haben.»

Während sie gesprochen hatte, war seine Hand über ihre Schulter zu ihrem Dekolleté gewandert. Als seine Finger die Kette ertasteten, hielt er inne.

«Ich weiss, wie die Kette zu Louise gekommen ist», sagte Clera leise. Trotz dem schwachen Mondlicht sah sie etwas in Konstantins Augen aufflackern. Im Flüsterton erzählte sie ihm die Geschichte von Vitus und Katharina. Er unterbrach sie nicht ein einziges Mal, seine Miene verriet nicht, was er dachte. «Katharina hat die Kette kurz vor ihrer Abreise ins Engadin in den See geworfen. Als man die tote Frau im Wasser fand, fand man auch die Kette, und jemand, der sie an Katharina gesehen hatte, sagte dem Schultheiss, sie hätte ihr gehört. So dachten alle, sie sei die Tote im See ... Das Mägdlein, von dessen Augen der See seine Farbe hat.» Sie unterbrach sich und sah Konstantin an. «Vitus hat die Kette später vom Schultheiss zurückgefordert und sie Louise geschenkt. So ist sie in eure Familie gekommen.»

«Unglaublich», flüsterte Konstantin, als sie nicht weitersprach. «Der wahre Kern der Blausee-Sage ...»

Clera schmiegte sich wieder an ihn. «Vitus war ein Feigling», sagte sie nach einer Weile. «Er hat Katharina ausgenutzt und belogen und sie dann allein gelassen. Sie hat den Kontakt zu ihrer besten Freundin Mena ihr Leben lang aufrechterhalten, meine Grossmutter hat ein paar Briefe aufgehoben.»

«Meine Familie hat eine hohe Meinung von Vitus», sagte Konstantin. «Ihm verdanken wir den Reichtum, den Einfluss und das grosse Gut. Deshalb tragen viele Männer in meiner Familie seinen Namen als zweiten Vornamen.»

«Du auch?»

Konstantin nickte. «Aber ich nenne ihn nie, er gefällt mir nicht. Meine Eltern wollten ihn damit ehren. Nun sehe ich ein, dass er das gar nicht verdient hat.»

Clera nickte. «Als Mensch war er falsch, verantwortungslos und kalt», fügte sie hinzu.

«Alle meine Verwandten sehen ihn als Helden. Er und Louise gelten als Vorbilder, aber jetzt erkenne ich, dass alles anders ist ...»

«Deine Verwandten haben ihn nicht mehr gekannt», wandte Clera ein. «Sie können es nicht besser wissen.»

«Jetzt kann ich Klarheit schaffen», meinte Konstantin. «Für Katharina können wir es nicht mehr wiedergutmachen, aber ihre Nachkommen werden eine Entschädigung erhalten.»

Clera sah seinen Eifer, schüttelte jedoch den Kopf. «Konstantin, manche Dinge kann man nicht einfach mit Geld wiedergutmachen.» Verblüfft sah er sie an, und einmal mehr begriff sie, dass sie aus zwei völlig verschiedenen Welten stammten. «Katharinas Kind ist im Engadin geboren», erzählte sie. «Victor hiess er, und er hatte keine Nachkommen. Katharina hat dort geheiratet, ich stamme von Victors Halbschwester ab. Victor selbst ist jung gestorben und hatte keine Kinder.»

Schweigend sah er sie an, und Clera hätte gern gewusst, worüber er nachdachte. «Das bedeutet also, dass wir beide sicher nicht miteinander verwandt sind», sagte er schliesslich mit dem Anflug eines Lachens.

«Richtig», bestätigte Clera. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Er erwiderte ihren Kuss, zuckte jedoch im nächsten Moment zusammen und riss sich von ihr los. «Still, duck dich!»

Nun hörte auch Clera das Geräusch von schnellen Schritten in der Wiese oberhalb von ihnen. Konstantin ging neben ihr in die Hocke und legte den Arm über ihren Rücken. Abermals huschte eine dunkle Gestalt einige Meter von ihnen entfernt vorbei Richtung Haus. Kurz darauf hörten sie das leise Knarren der Stalltür. Merl bellte einmal, dann war es still.

«Nein», flüsterte Clera erschrocken. «Was hat er mit Merl gemacht?»

Konstantins Arm drückte sie noch immer nach unten. «Warte», mahnte er leise. «Er darf uns nicht hören.»

Clera wagte kaum zu atmen. «Merl bellt nicht nur einmal», fuhr sie fort, «wenn er einmal angefangen hat, bellt er, wie es ein Wachhund eben tut.»

Konstantin spürte ihre Angst um den Hund. «Warte hier», sagte er nach einer Weile, als alles still war. «Ich sehe nach.» Er gab ihr einen Kuss auf die Lippen und stand auf. Beinahe lautlos rannte er zum Pferdestall, wo er stehen blieb und vorsichtig um die Ecke spähte.

Clera erhob sich ein wenig, um sehen zu können, was er machte. Nun ging er langsam hinüber zum Stall. Die Tür war geschlossen wie jede Nacht. Langsam öffnete er sie, während er beruhigend auf Merl einredete, damit er nicht noch einmal bellte. Als Clera sah, dass die Tür offen stand, verliess sie ihr Versteck, huschte ebenfalls zum Pferdestall und wartete einen Moment an der Ecke, bevor sie zum Stall hinüberging.

Konstantin sass auf dem Stallboden und streichelte Merl, der heftig mit dem Schwanz wedelte und seine Hand leckte. «Es geht ihm gut», flüsterte Konstantin und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln.

Erleichtert setzte sich Clera neben ihn und kraulte ebenfalls Merls Fell. «Entweder kannte er den Einbrecher oder ...»

« ...oder der Einbrecher hat ihn bestochen», meinte Konstantin und deutete auf den Wurstzipfel, der neben Merl auf dem Boden lag.

«Ich habe ihn beim Fressen unterbrochen, deshalb hat er ihn liegen gelassen.»

Schnell hob Clera den Zipfel auf. «Die Wurst war hoffentlich nicht vergiftet ...», murmelte sie und schnupperte daran. «Sie riecht normal ...»

«Beobachte ihn», schlug Konstantin vor. «Wenn er sich morgen normal verhält, wird es ihm nicht geschadet haben.»

Sie nickte und hoffte, dass er recht hatte.

Obwohl sie keinen Laut mehr hörten, warteten sie eine Weile, bevor sie sich auf der anderen Seite des Hauses aus dem Stall schlichen.

«Bis bald», sagte Konstantin und küsste sie zum Abschied. «Ich komme bald wieder vorbei.»

Clera drückte sich schweigend noch einmal an ihn und öffnete dann langsam die andere Stalltür. «Pass auf dich auf», sagte sie und sah Konstantin nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war und sie seine Schritte nicht mehr hören konnte.