«Eine Tragödie», murmelte Hermine, als Clera ihr einige Tage später vom Besuch ihrer Mutter und dem Vorfall mit Massimo erzählte. «Hast du der Polizei davon erzählt?»
Clera schüttelte den Kopf. «Kann ich das?»
«Natürlich! Zu oft hat man solche Taten einfach auf sich beruhen lassen und die Übeltäter nie bestraft.»
Nervös nagte Clera an ihrer Unterlippe.
«Komm, ich bringe dich hin. Erzähl dem Polizisten, was geschehen ist, und dann hoffen wir, dass er etwas unternimmt.»
Sie nickte und folgte Hermine durch die Strassen von Thun, bis zum Polizeiposten.
Ihre Stimme zitterte leicht, als sie dem jungen Mann hinter dem Schreibtisch schilderte, was ihr widerfahren war. Erleichtert stellte sie fest, dass er ihr glaubte und alles notierte, ohne auch nur einmal zu lachen oder eine ihrer Aussagen infrage zu stellen.
Hermine erwartete sie draussen und lächelte ihr aufmunternd zu.
«Danke, dass du mich hergebracht hast», sagte Clera. «Das hat mir sehr geholfen.»
«Herr Berger ist ein guter Mann», meinte Hermine. «Er nimmt einen ernst.»
Martina hatte Clera gebeten, sich schon auf den Heimweg zu machen, sie würde ihr folgen und sie vor Steffisburg noch einholen. Hermine hatte Clera angeboten, sie ein Stück weit zu begleiten.
«Haben die Kräuter bei deinem Vetter etwas bewirkt?», fragte Hermine nach einer Weile.
«Ich denke schon», antwortete Clera. «Zumindest hatte ich den Eindruck, dass Felix häufiger wach ist. Allerdings ...» Sie zögerte einen Moment. «Allerdings nur, wenn er sich unbeobachtet fühlt.»
«Seltsam», murmelte Hermine.
Clera zuckte mit den Schultern. «Bei meinem Cousin weiss man nie.»
«Deshalb willst du ihn ja auch nicht heiraten.»
«Nicht nur deshalb», entgegnete Clera, «er ist unfreundlich zu mir und ... unheimlich. Ausserdem ...»
«Ausserdem?», hakte Hermine nach. «Gibt es in deinem Leben einen anderen?»
Einmal mehr bewunderte Clera Hermines Auffassungsgabe. Sie hatte ihr nie von Konstantin erzählt. «Weisst du was, ich frage gar nicht nach, woher du das weisst», lachte sie.
Hermine lachte mit und blieb kurz stehen, weil Martha auf irgendetwas zeigte. Clera hielt das Pferd an. Weil Hermine ihre Tochter an der Hand führte, kamen sie nicht schnell voran. Die Dreijährige schien ebenfalls bereits ein Auge für Pflanzen zu haben, und Clera beobachtete sie jeweils amüsiert, wenn sie Blumen inspizierte.
«Diese Pflanze darfst du auf keinen Fall anfassen», hörte sie Hermine eindringlich sagen.
Martha zeigte auf eine hochgewachsene Pflanze, die Clera bereits kannte, da Walter im Garten ebenfalls eine angepflanzt hatte.
«Die ist sehr gefährlich», fuhr Hermine fort. «Du kennst doch die Brennnesseln, nicht wahr?»
Die Kleine nickte.
«Diese Pflanze brennt wie die Brennnesseln, aber noch viel schmerzhafter.»
Wieder nickte Martha, blickte nochmals hinüber zur Pflanze und legte beide Händchen auf den Rücken, als könnte sie sich so daran hindern, die Pflanze anzufassen.
«Riesenbärenklau», erklärte Hermine an Clera gewandt. «Fass ihn niemals an, er verbrennt dir die Haut, sobald Sonnenlicht darauf fällt.» Sie nahm Martha bei der Hand, um weiterzugehen.
«Wie, er brennt erst, wenn Sonnenlicht darauf fällt?», fragte Clera fasziniert nach. Hermine nickte. «Es gibt Pflanzen, die nur in Kombination mit Licht giftig wirken. Ich finde es gefährlich, Riesenbärenklau im Garten gedeihen zu lassen», meinte sie mit ernster Miene.
«Im Garten meines Onkels wächst auch einer. Er ist aber noch nicht sehr hoch und steht glücklicherweise am Rand des Gartens bei der Hecke zum Strässchen hin.»
«Und auf dem Hof leben keine Kinder», fügte Hermine hinzu. «Wenn du ihn berührst, wasch die betroffene Stelle sofort gut ab und achte darauf, dass sie nicht der Sonne ausgesetzt wird.»
Clera prägte sich die Anweisung ein, froh darüber, dass sie nie auf die Idee gekommen war, die Pflanze zu berühren.
«Ich fürchte, wir müssen umdrehen», sagte Hermine nach einer Weile und hob Martha hoch.
Clera verabschiedete sich von Hermine und Martha, gab dem Pferd einen leichten Klaps und setzte ihren Weg fort. Immer wieder drehte sie den Kopf und hielt Ausschau nach Martina, doch sie war nirgends zu sehen.
Immer wieder kamen ihr Leute entgegen, grüssten sie und gingen an ihr vorbei. Einige kannte sie vom Sehen, doch sie blieb nicht stehen, um zu plaudern. Langsam trottete sie weiter, damit Martina sie einholen konnte, und dachte darüber nach, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. Hier begegnete sie mehr Leuten als in Mitholz in einem Jahr. Manchmal machte ihr der Gedanke Angst, manchmal empfand sie es als Bereicherung. Als ihr eine junge Frau entgegenkam, blickte sie kurz auf, grüsste und konzentrierte sich wieder auf ihren Weg. Plötzlich blieb sie stehen und fuhr herum. Die junge Mutter war ebenfalls stehen geblieben und sah sie erstaunt an.
«Vrena?», fragte Clera überrascht.
Vrenas Miene hellte sich auf, als sie ihre Schulfreundin erkannte. «Was führt dich denn hierher?», fragte sie aufgeregt.
«Ich verbringe einige Zeit bei Verwandten in Steffisburg.» Ihr war nicht danach, die ganze Geschichte zu erzählen. «Und was tust du hier?»
«Wir leben seit kurzem in Thun», erklärte Vrena voller Freude. «Heute Morgen habe ich eine Freundin besucht, und danach hat mein Kleiner hier nur geweint, deshalb habe ich einen Spaziergang mit ihm gemacht.» Sie deutete auf ihr Tragetuch.
Clera streckte den Kopf, um etwas sehen zu können. Eingewickelt in das Tuch und mit einem Käppchen bedeckt, unter dem dünne, schwarze Härchen hervorlugten, erkannte sie einen schlafenden Säugling.
«Es tut mir so leid, dass ich dir noch nicht auf deinen Brief geantwortet habe», sagte Vrena unvermittelt. «Er liegt auf meinem Nachttischchen, ich denke jeden Tag an dich. Aber der kleine Leonard hat in letzter Zeit all meine Kraft und Aufmerksamkeit erfordert.» Sie erzählte Clera in wenigen Worten von der schwierigen Zeit nach Leonards Geburt. Als sie geendet hatte, fiel ihr Blick auf das Pferd, das Clera mit sich führte. «Ist das dein Pferd?»
Clera lachte. «Nein, das gehört meinem Onkel. Ich war mit meiner Cousine auf dem Markt, sie wollte länger bleiben und mich unterwegs einholen, aber so langsam ich auch gehe, bisher ist sie nicht aufgetaucht.»
«Dann ist es ja in Ordnung, wenn wir hier ein wenig plaudern», lachte Vrena. «Ich vermisse unsere Pferde. Als ich meine Eltern das letzte Mal besuchte, war ich schwanger und konnte nicht reiten, und seit Leonards Geburt war ich nicht mehr dort. Sie haben mich dafür kurz nach unserem Umzug in Thun besucht. Wieso bist du denn zu Verwandten gezogen?»
Clera hatte gehofft, sie würde diese Frage nicht stellen.
«Schicken deine Eltern dich in die Stadt, um das Haushalten zu lernen?»
Ihre letzte Frage klang in Cleras Ohren sarkastisch, doch sie blieb ernst und erzählte ihrer Freundin so kurz wie möglich, was geschehen war.
Vrenas Augen wurden von Sekunde zu Sekunde grösser, ihre Miene versteinerte. «Clera, das tut mir so leid für dich!», rief sie aus. «Unerhört!» Sie suchte nach Worten. «Wenn dieser ... dieses Biest dir wieder nachstellt und du fliehen musst, lauf zu meinen Eltern. Bei ihnen bekommst du jederzeit eine Bleibe.»
Clera nickte. «Danke.»
Mitfühlend legte sie ihr eine Hand auf die Schulter. «Aber hier in Steffisburg geht es dir gut?»
«Ja», antwortete Clera, «meine Verwandten sind sehr nett und kümmern sich gut um mich.» Sie unterstrich ihre Worte mit einem Lächeln. «Nur soll ich jetzt ihren Sohn heiraten ...»
Vrena verzog das Gesicht. «Aber ... er ist doch ein Verwandter ...»
«Ein Cousin fünften Grades etwa», sagte Clera. «Diesbezüglich also kein Problem. Nur ... ich will ihn nicht heiraten.»
«Glaub mir, die Liebe kann auch nach der Hochzeit noch entstehen.»
«Ich weiss, aber ... du kennst Felix nicht. Er ist krank, bewegt sich kaum aus dem Bett, spricht kein Wort mit mir, und nun soll ich ihn heiraten, um ihn zu pflegen.»
Dazu sagte Vrena nichts. Einen Moment lang starrte sie Clera an. «Das haben deine Eltern entschieden?»
«Meine Mutter und meine Tante. Aber noch ist nichts entschieden, glücklicherweise ...» Clera überlegte, ob sie ihr von Konstantin erzählen sollte, beschloss dann aber, damit noch zu warten, als ihr auffiel, dass Vrena nach der Kirchturmuhr spähte. «Musst du gehen?»
«Ja», sagte diese. «Ich habe einer Freundin versprochen, heute Nachmittag bei ihr vorbeizuschauen. Ihre Familie ist schon lange mit meinen Schwiegereltern befreundet. Berta ist in unserem Alter und soll sich demnächst verloben. Ich soll ihr helfen, die Verlobungsfeier zu planen.» In ihren Augen leuchtete Vorfreude auf. «Erinnerst du dich an Konrad Balthasar, den reichen Grossgrundbesitzer aus dem Kandertal? Unser Lehrer kannte den doch persönlich und hat sich wer-weiss-was darauf eingebildet.»
Clera nickte. Nur deswegen hatte sie überhaupt über Konstantins Familie Bescheid gewusst, als sie ihn erstmals getroffen hatte.
Vrena rückte ihren Sonnenhut zurecht. «Berta soll sich nun mit dessen Sohn verloben. Sie ist überglücklich, Konstantin Balthasar ist ein attraktiver junger Mann mit Macht und Einfluss.»
Clera fühlte sich, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füssen weggezogen, doch Vrena redete unbeirrt weiter.
«Bertas Vater hat kürzlich sein Unternehmen an Konrad Balthasar verkauft, wahrscheinlich sind sie dabei auf die Idee gekommen, ihre Kinder zu verheiraten.» Sie schien Cleras schockierte Miene nicht zu bemerken und kicherte. «Ich stimme ihr zu, dass sich glücklich schätzen kann, wer einen solchen Mann bekommt ...»
Verwirrt blinzelte Clera ein paarmal. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sie erinnerte sich doch genau daran, wie Konstantin ihr versichert hatte, dass er sich nicht mit Berta verloben würde. «Er hat mich also doch angelogen», murmelte sie fast lautlos auf Rätoromanisch.
In diesem Moment gab Leonard einen Laut von sich und Vrena wandte sich ihm zu.
Clera atmete tief durch und versuchte ihren Schrecken zu verbergen. Erleichtert sah sie, dass in diesem Moment Martina angerannt kam.
«Entschuldige, dass du so lange warten musstest», rief sie, bevor sie Clera erreicht hatte, dann erst erblickte sie Vrena.
«Grüss Euch.»
Vrena nickte ihr freundlich zu.
«Das ist eine Schulfreundin von mir, Vrena», sagte Clera, die sich gezwungen fühlte, Martina zu erklären, mit wem sie sprach. Sie war äusserst froh über die Unterbrechung, da sie Vrena nicht auch noch die Geschichte von ihr und Konstantin erzählen wollte.
Martina wechselte ein paar Worte mit Vrena und betrachtete das schlafende Baby.
«Melde dich, wenn du einmal in Thun bist», sagte Vrena zum Abschied und nannte ihr ihre Adresse. «Leb wohl, Clera, es war schön, dich wiederzusehen.» Sie umarmte ihre Freundin, verabschiedete sich von Martina und ging weiter.
«Sie ist nett», sagte Martina, als sie sich ebenfalls in Bewegung setzten.
Clera nickte wortlos.
Bis der Hof in Sichtweite kam, redete Martina beinahe ununterbrochen und schwärmte Clera von ihrem Liebsten vor. Clera hörte mit einem Ohr zu, während ihre Gedanken sich im Kreis drehten.
Als sie das Pferd in den Hof führte und anband, verstummte Martina.
Clera bewunderte sie für ihr Geschick, ihre heimliche Liebe geheim zu halten.
«Ihr wart lange weg», hörte sie plötzlich Erikas Stimme von der Tür her.
«Entschuldige bitte, Tante», sagte Clera und stellte den einen Korb auf den Boden. «Ich habe eine alte Freundin getroffen und beim Plaudern mit ihr die Zeit vergessen.»
Martina nickte eifrig. Erika schien ihr die Erklärung, die ja keine Lüge war, zu glauben.
«Clera», flüsterte Martina, als diese das Pferd losbinden und auf die Weide bringen wollte. «Danke, dass du mir Rückendeckung gibst.»
Clera lächelte ihr verschwörerisch zu. «Vielleicht werde ich ja auch irgendwann Rückendeckung brauchen und ich hoffe, ich kann dann auf dich zählen.»
«Auf jeden Fall.» Martina zwinkerte ihr zu und trug die Körbe in die Küche, während Clera das Pferd auf die Wiese hinter dem Haus führte. Ihre Gedanken kreisten noch immer um das, was Vrena ihr erzählt hatte. Sie hatte Konstantin geglaubt, als er ihr versichert hatte, er werde sich nicht mit Berta verloben. Beinahe kamen ihr die Tränen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass Vrena lediglich gesagt hatte, Berta werde sich demnächst verloben. Folglich waren die beiden zurzeit nicht verlobt. Aber wenn selbst Freunde so darüber sprachen, musste doch etwas Wahres dran sein ... Sie atmete tief durch und ging in den Garten, um Thymian für Felix zu holen. Ihr Herz fühlte sich schwer an, als läge ein Stein darauf.
«Wird das jemals aufhören?», fragte sie sich kaum hörbar. «Ich hätte ihm gerne vertraut ... aber es scheint immer wieder falsch zu sein, ihm zu glauben.»
Erschrocken schrie sie auf, als sie sich aufrichtete und plötzlich die unheimliche Nachbarin vor ihr stand. Die Falten in ihrem Gesicht schienen sich noch tiefer in die Haut gegraben zu haben, und ihre Augen blitzten misstrauisch. Instinktiv wich Clera einen Schritt zurück, bevor sie sich besann und stehen blieb. Mit ebenso finsterem Blick musterte sie die Alte.
«Hör auf, mit dir selbst zu sprechen, Mädchen», keifte sie. «Und hier spricht man Deutsch!»
Clera verdrehte die Augen. Wenn sie Gedanken vor sich hin murmelte, achtete sie nicht darauf, ob sie Deutsch oder Rätoromanisch sprach. «Stört es Euch?», zischte sie zurück. «Ihr steht im Garten meiner Verwandten, folglich habt Ihr mir gar nichts vorzuschreiben.» Sie bückte sich nach den Kräutern, beobachtete jedoch aus dem Augenwinkel die Reaktion der Alten.
Zorn flammte in ihren Augen auf, als sie mit dem Stock auf die Erde klopfte.
Clera legte ein paar weitere Blätter in den kleinen Korb, der neben ihr auf dem Boden stand.
«Noch nie habe ich hier ein derart schlecht erzogenes Mädchen gesehen!», rief sie aus und fuchtelte mit ihrem Gehstock.
Ohne die schimpfende Alte eines weiteren Blickes zu würdigen, hob Clera den Korb auf und ging ein paar Schritte weiter bis zur Hecke, die den Garten vom Weg trennte. Hier hatte sie am Vortag bereits Salbei geholt, nachdem Felix über Halsschmerzen geklagt hatte.
«Du solltest dich schämen», hörte sie die Alte hinter sich wettern. «Du wirst nie einen Mann finden, wenn du ...»
Sie brach ab, als Clera sich aufrichtete und ihr direkt in die Augen schaute. Der finstere Blick allein genügte, um sie zum Schweigen zu bringen. «Verschwindet aus diesem Garten», zischte Clera nach einer Weile.
«Clera!», ertönte in diesem Moment Erikas Stimme vom Haus her, doch Clera konnte ihre Worte nicht verstehen. Sie gab ihrer Tante ein Zeichen, dass sie kurz warten solle, und eilte auf das Haus zu.
«Felix braucht einen Tee, er wird gerade wieder von einem Hustenanfall geschüttelt!», sagte Erika, als Clera die Tür erreicht hatte.
Sie erinnerte sich an seinen letzten Hustenanfall, der zwar nicht anders geklungen hatte als der Husten, wenn einen etwas im Hals kitzelte, aber trotzdem nicht hatte enden wollen. «Ich sammle gerade die Kräuter», sagte sie, «in wenigen Minuten bin ich da.»
Erika lächelte dankbar und verschwand wieder im Haus, während Clera zurück in den Garten ging, um den Korb zu holen. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass die Alte sich abgewandt hatte und sich langsam entfernte, wobei sie sich immer wieder halb umdrehte, um ihr einen wütenden Blick zuzuwerfen.
Kopfschüttelnd griff sie nach dem Korb, holte noch ein wenig Minze und ging zurück zum Haus. Kurz bevor sie die Tür erreichte, fiel ihr auf, dass die Kette aus ihrem Kragen gerutscht war, wahrscheinlich als sie sich im Garten gebückt hatte. Hastig steckte sie sie zurück hinter den Stoff und trat ein. Konstantins Worte gingen ihr wieder durch den Kopf. Er hatte die Kette ihr geschenkt, nicht Berta ... Damit hatte er sich gerechtfertigt. Obwohl sie eine gewisse Wut auf ihn verspürte, schmerzte sie der Gedanke, sich von ihm zu trennen, nie mehr seine starken Arme zu spüren und die Worte zu hören, die er ihr durch die kühle Nachtluft zuflüsterte. Sie seufzte und schloss für einen Augenblick die Augen. Was sollte sie ihm sagen, wenn sie ihn wiedersah? Wie sollte sie ihn zur Rede stellen?
In Gedanken versunken kochte sie Tee für Felix und brachte ihm die Tasse ans Bett. Als er nicht reagierte, ging sie hinaus, tat als schliesse sie die Tür, öffnete sie jedoch in derselben Bewegung wieder und beobachtete durch den schmalen Spalt, wie er reagierte. Für ein paar Sekunden blieb er unbewegt liegen, dann drehte er sich um und zog etwas unter dem Kopfkissen hervor. Clera überlegte, ob sie nochmals ins Zimmer treten sollte, um zu sehen, wie er das Notizbuch und die Feder verschwinden liess. Einmal mehr spielte sie mit dem Gedanken, Erika davon zu erzählen. Als er plötzlich hustete, erschrak sie und machte einen Schritt weg von der Tür. In diesem Moment betrat Erika die Stube, und Clera tat, als käme sie gerade aus Felix’ Zimmer.
«Ach, Clera, könntest du bitte in der Küche Feuer im Ofen machen?», bat sie sie, bevor sie die Tür erreichte.
Clera nickte. «Natürlich.»
«Danke!»
Der Boden unter ihren Füssen knarrte bei jedem Schritt und plötzlich war Clera klar, wieso es Felix gelang, sein Buch jeweils schnell genug verschwinden zu lassen. Er konnte immer hören, wenn sich jemand näherte. Enttäuscht gestand sie sich ein, dass sie Konstantin, den sie liebte, nicht haben konnte und Felix nicht heiraten wollte. Seufzend legte sie Holz in den Ofen, bis die Kiste leer war. Ein prüfender Blick sagte ihr, dass die Menge nicht ausreichte. Sie stand auf, griff nach der Kiste und ging hinaus, um mehr Holz zu holen. In Gedanken ging sie ihre Worte durch, die sie Konstantin an den Kopf werfen wollte, wenn er sie wieder besuchte. Vertrauen konnte sie ihm nicht mehr, sie hatte ihm schon einmal geglaubt, und jetzt erfuhr sie schon wieder, dass er sie zu hintergehen versuchte.
Sie trug die Kiste zurück in die Küche, schichtete das Holz in den Ofen und zündete es an. Sanft blies sie Luft in die Flammen, bis sie von sich aus auf den Holzstücken tanzten. Bald wäre die Herdplatte heiss genug, um das Abendessen zu kochen. Beinahe schluchzend lehnte sie sich gegen den Türrahmen und schloss die Augen. Insgeheim hoffte sie, dass Konstantin sie heute Nacht besuchen würde, da sie diese Last nicht tagelang mit sich herumtragen wollte. Irgendwann würde jemand fragen, warum sie so bekümmert sei.
Als sie eine Katze miauen hörte, sah sie sich um, konnte sie jedoch weder in der Küche noch auf der Laube entdecken. Das Miauen hörte sie noch immer und öffnete die Tür zum Flur, die sie aber gleich wieder zuschlug und sich umdrehte. Das Miauen erklang hinter ihr. Panisch rannte sie zum Ofen und riss das Türchen auf. Hinter den brennenden Holzscheiten sass die schwarze Katze, die Clera schon am ersten Tag aufgefallen war, weil sie so zutraulich war, und schrie aus Leibeskräften. Clera sprang auf, rannte nach draussen und riss den metallenen Zuber von der Wand. Froh, dass die Holzscheite noch nicht bis zu den Enden verkohlt waren, begann sie, jedes einzelne Stück aus dem Ofen zu reissen und in den Zuber zu werfen. Die Katze schrie noch immer. Clera warf ein weiteres Stück Holz in den Zuber und schüttelte kurz ihre Hand. Das Holz war heisser gewesen als die übrigen Scheite. Als sie sich wieder dem Ofen zuwandte, sprang ihr die Katze entgegen, stiess sich von ihr ab und rannte unter den Küchentisch. Clera packte den Zuber, stiess die Tür auf und rannte nach draussen, wo sie ihn mitten im Hof auf den Boden stellte und zurück ins Haus stürzte.
Im Vorbeigehen schlug sie die Ofentür zu und kroch dann unter den Tisch, um die Katze zu suchen. Das erschrockene Tier hatte sich in die hinterste Ecke unter der Bank geflüchtet und sah sie aus seinen grossen, gelben Augen an.
«Komm zu mir», lockte Clera, packte sie im Nackenfell und zog sie unter dem Tisch hervor. Ihre Schnurrhaare waren versengt, ihre Ohren mehr rund als spitz und ihr Fell stank nach verbranntem Haar.
Vorsichtig hob Clera sie hoch und trug sie hinaus zum Brunnen. «Tut mir leid, meine Liebe», flüsterte sie ausser Atem, «aber das muss jetzt sein.» Mit beiden Händen hielt sie das panische Tier fest und tauchte es ins kühle Wasser. Die Katze spannte jeden Muskel an und hakte mit den Krallen nach Cleras Arm. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, die schmerzenden Kratzer zu ignorieren, bis sie die Katze nach wenigen Sekunden wieder hochhob und auf den Arm nahm. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ruhiger wurde und sich entspannte. Clera drückte sie an sich und begann, mit ihrer Schürze das nasse Fell zu trocknen. Vorsichtig tupfte sie die versengten Stellen in ihrem Fell ab.
«Immerhin bist du sonst unverletzt», flüsterte sie und drückte der Katze einen Kuss auf den Kopf. Sie hätte nie gedacht, dass eine Katze zwischen den Holzscheiten hindurch in den Ofen kriechen könnte, während sie eine Minute lang nicht hinsah.
«Armes Tier», flüsterte sie. «Weil ich mit meinen Gedanken woanders war, bist du beinahe im Feuer umgekommen.» Die Katze begann zu schnurren, als Clera beruhigend das schwarze Fell streichelte. Bevor sie sie losliess, inspizierte sie jede einzelne Pfote, die glücklicherweise alle unversehrt geblieben waren.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie der Katze nachschaute, wie sie über den Hof rannte, sich im Gehen schüttelte und schliesslich im Garten verschwand. Diese Geschichte würde ihr niemand glauben.
Tatsächlich musste sie sie später beim Abendessen zweimal erzählen. Martina war völlig ausser sich, Josef redete wie ein Wasserfall darüber, was alles hätte passieren können, und Felix liess sich zu einem misstrauischen Grunzen herab, das Clera zu verstehen gab, dass er ihr die Geschichte nicht abkaufte.
Als Clera nach dem Abendessen den Abwasch machte, legte sie sich eine Erklärung zurecht, die sie ihrer Mutter geben würde, wenn diese sie nochmals bat, Felix zu heiraten. Da Martina grosses Mitleid mit der Katze hatte, war sie gleich nach dem Essen in den Garten geeilt, um sie zu suchen und ins Haus zu holen.
Josef und Walter lasen gemeinsam die Zeitung und diskutierten über die Schlagzeilen.
«Schon wieder ein Einbruch in Thun», hörte sie Josef sagen, der sich ganz hinter der Zeitung versteckt hatte. «Das ist schon der vierte innerhalb von zwei Wochen.»
Walter brummte etwas und faltete die Seiten, die er in der Hand hielt, zusammen. «Dieselben Täter?»
Josef zuckte mit den Schultern. «Die Polizei geht davon aus. Sie gehen immer nach demselben Muster vor.»
«Vielleicht sollten auch wir ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen», murmelte Walter.
«Wir könnten Merl als Wachhund einsetzen», schlug Josef vor und senkte das Blatt, um Clera einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. «Er müsste nur die Nacht draussen in der Hundehütte verbringen, dann könnte er einen Einbrecher abschrecken.»
Clera gefiel der Gedanke nicht, Merl über Nacht draussen zu lassen, aber sie sagte nichts.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als das leise Klopfen am Fenster an ihr Ohr drang. Als sie sich nicht rührte, klopfte es noch einmal. Wieder reagierte sie nicht, sondern blätterte weiter in Grossmutters Buch.
«Clera», hörte sie Konstantins Stimme nach dem dritten Klopfen. «Ich bin’s.»
Sie seufzte, erhob sich aber nicht.
«Clera, ich weiss, dass du da bist, ich sehe das Licht.»
Clera hätte sich ohrfeigen können, dass sie die Kerze nicht gelöscht hatte. Andererseits hätte er ohnehin gewusst, dass sie da war, wo hätte sie sonst sein sollen? Langsam ging sie zum Fenster hinüber und griff nach dem Vorhang, hielt dann aber doch wieder inne.
«Was ist denn los?» Seine Stimme klang aufrichtig besorgt, sodass sich in ihr beinahe ein schlechtes Gewissen breitmachte. Wie gerne hätte sie sich jetzt in seine Arme geflüchtet und seine Küsse gespürt.
«Wieso hast du mich angelogen?», fragte sie zurück, ohne das Fenster zu öffnen.
Stille.
«Wann und weswegen soll ich dich angelogen haben?»
«Du hast behauptet, du würdest dich nicht mit Berta verloben!» Ihre Stimme war lauter geworden.
«Das habe ich doch gar nicht getan», erwiderte er. «Bitte, könntest du das Fenster öffnen oder rauskommen, ich fürchte, wir wecken sonst das ganze Haus auf.»
Clera öffnete das Fenster. «Wenn du das nicht vorhattest, wie kommt es, dass eine von Bertas Freundinnen mir heute erzählt hat, dass sie sich demnächst mit dir verloben würde und schon ihre Verlobungsfeier plane?» Gespannt hielt sie den Atem an, während sie ihn wütend anfunkelte.
«Verdammt ...», murmelte er.
«Verdammt», wiederholte Clera, «ich habe es selbst herausgefunden. Ich glaube dir deine Ausreden nicht mehr. Meine Ururgrossmutter ist auf Vitus hereingefallen, aber mir wird das nicht passieren. Leb wohl, Konstantin, werde glücklich mit Berta.» Mit diesen Worten drückte sie ihm die Kette in die Hand und wollte das Fenster zuschlagen, weil ein Schluchzen ihre nächsten Worte verschlang, doch er hinderte sie daran.
«Ich werde mich nicht mit Berta verloben, glaub mir. Aber ... ich konnte meinem Vater noch nicht sagen, dass aus dieser von ihm geplanten Verbindung nichts wird, zumindest nicht, bevor die Übernahme des Unternehmens abgeschlossen ist. Es könnte sein, dass ihr Vater einen Rückzieher macht, wenn ich jetzt ablehne, was dem Unternehmen meines Vaters schaden würde. Deshalb habe ich Berta noch nicht endgültig abgewiesen, aber ich mache ihr auch keine leeren Versprechungen. Noch ist alles offen.» Er hatte schnell gesprochen, für den Fall, dass sie das Fenster doch zuschlug. Nun suchte er in ihren Augen nach einem Hinweis, ob sie ihm glaubte oder nicht. «Ausserdem sind Gerüchte aufgekommen, ich hätte eine Affäre, die meiner Familie grosse Probleme bereiten könnte ...»
Clera zuckte nicht mit der Wimper.
«Daher hielt ich es für klug, wenn mein Umfeld glaubt, ich würde mich verloben, das würde die Behauptung entkräften ...»
Nur zu gerne hätte Clera gewusst, was man sich über ihn erzählte. Sie erinnerte sich, dass Josef Walter gegenüber etwas erwähnt hatte.
«Bitte, glaub mir.» Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. «Ich könnte Berta jederzeit zurückweisen, indem ich dich als meine Verlobte vorstelle, aber wir haben doch vereinbart, dass wir damit warten, bis du nach Hause zurückkehrst.»
Clera blinzelte eine Träne weg. Seine Erklärung klang so plausibel und zeigte ihr zudem, dass er sich an ihre Abmachungen hielt – sofern diese Geschichte der Wahrheit entsprach.
«Ich verstehe, dass es dich verletzt, und dass du mir misstraust, wenn du solche Dinge hörst, aber ...» Wieder suchte er nach Worten. «Ich werde es dir beweisen», sagte er schliesslich. «Sobald mein Vater das Unternehmen übernommen hat, werde ich klarstellen, dass ich nicht bereit bin, mich mit Berta zu verloben. Bis dahin soll jeder glauben, was er will. Clera ... ich liebe dich. Nur dich.»
Clera senkte den Blick und kniff die Augen zusammen. Tränen rollten über ihre Wangen. Er klang aufrichtig, beinahe schon verzweifelt, weil sie ihm nicht vertraut hatte. Als sie seine Hand auf ihrer Wange spürte, schob sie sie nicht weg.
«Hab keine Angst», flüsterte er. «Ich werde dich nicht so enttäuschen wie Vitus Katharina.»
Sie schüttelte den Kopf. «Das würde ich dir gerne glauben. Beweise es mir.» Mit diesen Worten schloss sie das Fenster.