27

«Clera!», hörte sie Martinas Stimme, als sie ein paar Tage später vormittags die Küche betrat. «Du hast Besuch! Dein Bruder Mattiu.»

Verwirrt runzelte Clera die Stirn. Mattiu müsste doch noch auf der Alp sein, und wenn nicht, hätte er zu Hause zu viel zu tun, um sie in Thun zu besuchen, und ohne Bengiamin würde er nirgendwohin gehen.

«Er wartet im Hof auf dich», sagte Martina, als Clera nichts erwiderte.

Sie nickte, wischte die Hände an der Schürze ab und ging nach draussen, gespannt darauf, was Mattiu von ihr wollte. Als sie in den Hof hinaustrat, blieb sie abrupt stehen.

«Clera, Schwester!», rief Konstantin ihr entgegen, während er Merl davon abzuhalten versuchte, an ihm hochzuspringen. Verwirrt starrte Clera ihn an, doch als er ihr vielsagend zuzwinkerte, dämmerte ihr schliesslich, was für ein Spiel er spielte. Er trug einfache Kleidung, wie ihre Brüder es taten, wenn sie nicht gerade zum Arbeiten auf die Wiesen gingen.

«Grüss dich», sagte sie und liess sich von ihm umarmen. Im Augenwinkel sah sie, dass Martina ihr gefolgt war.

«Wie geht es dir denn?», fragte er fröhlich. «Zu Hause vermissen dich alle. Und Merl natürlich auch.» Als der Hund seinen Namen hörte, begann er wieder, mit dem Schwanz zu wedeln.

«Gut», erwiderte Clera unsicher und blickte hinunter auf ihre Hände, die er immer noch in seinen hielt. «Es ... gefällt mir hier gut.»

«Nun, Clera», unterbrach Martina sie und kam näher. «Das ist dein Bruder?»

Clera nickte, bemüht um eine überzeugend wirkende Miene.

«Er sieht dir gar nicht ähnlich», meinte Martina und zog die Stirn kraus.

Konstantin lachte und zuckte mit den Schultern. «Das hören wir öfter», sagte er, «aber dir ist sicherlich nicht entgangen, wie sehr Merl sich gefreut hat, mich zu sehen.»

Martina drehte sich zu dem Hund um. «Stimmt», erwiderte sie und sah wieder Clera an. «Du hast dich sicher ebenso gefreut, ihn wiederzusehen.» Sie drehte sich um und redete mit Merl.

Konstantin nutzte die Unterbrechung und wandte sich wieder Clera zu, die angespannt neben ihm stand. «Unglaublich, diese Aussicht hier!», rief er aus und ging ein paar Schritte über den Hof, bis zum Rand des Gartens, von wo aus er auf Steffisburg und Thun hinunterblicken konnte. Clera zog er mit sich von Martina weg.

«Was tust du hier?», flüsterte sie, als sie ganz nahe bei ihm stand. «Und wieso gibst du dich als mein Bruder aus?»

Er grinste verschwörerisch. «Als dein Bruder kann ich dich bei Tag besuchen und mit dir allein im Garten stehen oder spazieren gehen, ohne dass jemand sich daran stört. Und da deine Verwandten deine Brüder ja nicht gut kennen, beziehungsweise schon ewig nicht mehr gesehen haben, wissen sie auch nicht, dass ich nicht der bin, für den ich mich ausgebe.»

«Sie kennen zwei meiner Brüder», gab Clera zurück, die sich plötzlich daran erinnerte, dass sie ihm in einem Brief davon erzählt hatte, «wenn du einen dieser Namen genannt hättest, hätten sie sofort gewusst, dass du lügst.»

Er seufzte. «Clera, ich weiss, welche deiner Brüder in Thun arbeiten oder gearbeitet haben. Ich hätte nie gesagt, ich sei Teodor oder Clau.»

Clera staunte. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich so genau erinnerte.

«Gib zu, dass der Plan gut ist.» Seine Worte und sein fast kindlich stolzer Gesichtsausdruck entlockten Clera ein Lachen.

«Na, gut», sagte sie schliesslich. «Du hast recht. Und der Beweis mit Merl war ebenfalls sehr schlau.» Vorsichtig schielte sie hinüber zu Martina, die gerade Merl kraulte. «Gibt es irgendwelche interessanten Neuigkeiten aus Mitholz?», flüsterte sie.

«Nicht, dass ich wüsste. Ich habe die letzten Tage in Thun verbracht. Wie du weisst, gibt es wegen des Einbruchs einiges zu regeln.»

Als Clera den Kummer in seinen Augen sah, spürte sie einen Stich im Herzen. «Es ist meine Schuld, dass sie dir abhandengekommen ist», murmelte sie, «das wäre nicht passiert, wenn ich die Kette behalten hätte. Das tut mir so leid ...»

Er nickte. «Das Glück war uns beiden in letzter Zeit nicht sehr wohlgesinnt», erwiderte er leise. «Vielleicht ist dir zu Ohren gekommen, dass sich die Einbrüche in Thun und Umgebung in letzter Zeit gehäuft haben», fuhr er fort. «Meist bei reichen Leuten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch meine Familie an der Reihe war.»

Clera suchte nach tröstenden Worten, fand aber keine. Mit einem Mal war der ganze Groll, den sie noch vor wenigen Tagen verspürt hatte, verschwunden. Sein Bedauern über den Verlust der Kette war echt. «Was ist mit Berta?», fragte sie plötzlich, bereute ihre Worte jedoch im nächsten Moment bereits. «Hast du ... mit ihr geredet?» Scheu blickte sie zu ihm auf.

«Worüber soll ich mit ihr reden?», gab er zurück. Seine Stimme war hart geworden. «Ich habe sie seit über einer Woche nicht gesehen und nichts von ihr gehört. Sie weiss, dass ich mich nicht mit ihr verloben werde, nur du glaubst mir das nicht.»

Bei diesem Vorwurf senkte Clera den Blick wieder. «Tut mir leid», sagte sie leise. «Ich ... habe keinen Grund, dir nicht zu vertrauen.»

Er streichelte ihr sanft über das Haar.

«Ich hätte dir die Kette nicht zurückgeben sollen. Das war undankbar von mir.»

«Ich wünschte, ich könnte sie zurückholen. Aber wenn nicht, kaufe ich dir eine neue.»

Clera lächelte ihn dankbar an und wischte die Tränen ab. Manchmal schien mit ihm alles so einfach zu sein.

«Magst du zum Essen bleiben, Mattiu?», rief Martina über den Hof, als sie zur Tür ging.

«Nein, vielen Dank», rief er zurück. «Ich muss zurück nach Thun, man erwartet mich da.»

Martina nickte, streichelte nochmals Merls Kopf und verschwand ins Haus.

«Willst du nicht bleiben, damit du keine Fragen beantworten musst?», neckte Clera ihn, doch er schien sie nicht zu hören. Sein Blick war starr auf die Haustür gerichtet, seine Stirn plötzlich von Falten durchzogen. «Was ist los?», fragte Clera kaum hörbar, da sie nichts Sonderbares erkennen konnte.

Es dauerte einen Moment, bis Konstantin sich wieder rührte. «Was für eine Kette trägt deine Cousine?»

«Martina trägt keine Kette, zumindest habe ich noch nie eine an ihr gesehen.»

«Sie trägt einen blauen Stein, der aussieht, wie deiner.»

Clera schüttelte den Kopf. «Unmöglich, wie kommt sie dazu, die Kette zu tragen, die dir gestohlen worden ist? Ausserdem müsste sie mir heute Mittag schon aufgefallen sein.»

«Ich habe sie nur von Weitem gesehen, aber ... sieh sie dir mal an.»

Als Clera den merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen sah, wurde ihr mulmig zumute. «Na, schön», gab sie nach, «ich folge ihr in die Küche, hole etwas und bin in wenigen Augenblicken wieder da.»

Konstantin nickte und drückte ihre Hand. «Ich warte an der Ecke in der Einfahrt.»

Clera eilte ins Haus, betrat scheinbar entspannt die Küche und stellte sich neben ihre Cousine, die leise singend am Herd stand.

Als sie Clera bemerkte, blickte sie kurz auf und lächelte. «Schade, dass dein Bruder nicht bleiben kann.»

Clera nickte. «Er hat viel zu tun, aber ich habe mich sehr gefreut, dass er sich die Zeit genommen hat, mich zu besuchen.» Sie nahm einen Lappen vom Haken und tat, als würde sie einen Schmutzfleck von ihrer Schürze wischen, während sie mit den Augen nach der Kette suchte. Für einen Moment stockte ihr der Atem, als sie den blauen Stein erkannte. Martina musste die Kette ebenfalls unter der Bluse getragen haben, aber als sie mit Merl gespielt hatte, war sie wohl herausgerutscht. «Eine hübsche Kette trägst du da», sagte Clera leise.

Erschrocken griff Martina danach und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Clera sah ihre Vermutung bestätigt, dass niemand die Kette sehen sollte. «Ein Geschenk von deinem Liebsten?»

Martina nickte. Ihre erschrockene Miene wich einem erleichterten Lächeln, während sie den Stein wieder unter ihrer Bluse verschwinden liess. «Ja», flüsterte sie und blickte sich kurz in der Küche um, obwohl sich ausser ihnen niemand im Raum aufhielt. «Bitte erwähne meinen Eltern gegenüber nichts.»

Clera nickte und hängte den Lappen zurück.

Konstantin lehnte an der Wand des kleinen Häuschens in der Hofeinfahrt. Auf den ersten Blick sah er entspannt aus, doch Clera erkannte an seinen Augen, dass er vor Nervosität und Wut kochte. «Und?»

«Es ist ... unsere Kette. Sie sagt, es sei ein Geschenk von ihrem Geliebten.»

Konstantin atmete geräuschvoll aus. Clera sah, dass er die Zähne zusammenbiss.

«Wenn ich den Kerl erwische, werde ich ihn mir vorknöpfen», zischte Konstantin. «Und dann sorge ich dafür, dass er eingesperrt wird.» Sein entschlossener Blick traf Clera, die wortlos neben ihm stand und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrte.

«Wer ist er?», fragte Konstantin, bevor sie etwas sagen konnte.

«Ich weiss es nicht», erwiderte sie. «Sie wollte mir seinen Namen nicht verraten, weil sie sich heimlich mit ihm trifft. Sie selbst nennt ihn Röbu. Ich habe ihn einmal gesehen, als wir zusammen zum Markt gingen. Da trifft sie ihn jeweils.»

«Dann ist das unser Weg, die Kette zurückzubekommen.»

Vorsichtig schielte Clera nach rechts, als sie die ersten Häuser von Thun passierten. Seit ihrem Treffen mit Konstantin in Gestalt ihres Bruders waren zwei Tage vergangen. In der vergangenen Nacht hatte er sie nochmals besucht, ihr aber nicht verraten, was er vorhatte. Da es geregnet hatte, hatten sie sich in das kleine Häuschen in der Einfahrt zurückgezogen, um zu reden. Ihr lief noch immer ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran zurückdachte, wie er sie dort, geschützt vor den Blicken der Welt, geküsst hatte.

«Lass uns schnell die Einkäufe erledigen», unterbrach Martina ihre Gedanken. «Ich muss mich noch mit jemandem treffen», fügte sie mit leuchtenden Augen hinzu.

Clera zwang sich zu einem Lächeln und nickte. Als Martina sich von ihr wegdrehte, sah sie sich unauffällig um, konnte Konstantin jedoch nirgends entdecken. Sie bemühte sich, mit ihrer Cousine zu plaudern, damit diese keine Fragen stellte. Clera fiel auf, dass Martina alle Gespräche mit Bekannten und Verkäufern möglichst kurz hielt, und fragte sich, warum sie es wohl so eilig hatte, sich mit ihrem Röbu zu treffen.

«Ich bin in eineinhalb Stunden zurück», sagte Martina mit einem Blick auf die Turmuhr. «Keine Sorge, ich werde pünktlich sein.»

Clera nickte. «Bis dann.» Mit angehaltenem Atem blickte sie ihr nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war, dann rannte sie los, um ihr zu folgen. Konstantin hatte ihr gesagt, sie solle sich an ihre Fersen heften.

Leise folgte sie ihrer Cousine durch die Gassen, immer darauf bedacht, nicht bemerkt zu werden. Als Martina plötzlich vor einem Tor stehen blieb und sich umschaute, bevor sie anklopfte, huschte Clera um die nächste Hausecke und drückte sich gegen die Wand. Erschrocken schrie sie auf, als ihr jemand die Hand auf die Schulter legte und mit der anderen ihren Mund zuhielt. Sofort verstummte sie, als sie Konstantin erkannte. Er bedeutete ihr, still zu sein, und schlich dann, ohne ein Wort gesagt zu haben, weiter. Clera schaute ihm nach, wie er die Gasse entlangging, in der Martina noch immer vor dem Tor wartete. Er wirkte entspannt, als wäre er auf dem Heimweg von der Arbeit. Martina hatte den Blick gesenkt und drehte den Kopf nicht um, als Konstantin vorbeiging. In diesem Moment öffnete sich das Tor einen Spalt breit und Clera hörte ihre Cousine leise mit jemandem sprechen, erkennen konnte sie aber nichts. Die Person, die das Tor geöffnet hatte, schob es ein bisschen weiter auf und Martina huschte hinein. Langsam ging das Tor wieder zu, anscheinend hatten sie es losgelassen, und genau in diesem Moment sprang Konstantin herbei und stellte einen Fuss zwischen das Tor und die Säule. Dumpf prallte das Holz gegen seinen Schuh. Clera beobachtete, dass er einige Sekunden so verharrte und lauschte, dann drehte er sich zu ihr um und winkte sie zu sich. Möglichst leise rannte sie zu ihm hinüber. Er nahm ihre Hand und schob das Tor langsam auf. Nun hörte auch Clera die leisen Stimmen auf der anderen Seite. Plötzlich stiess er das Tor ganz auf und trat energischen Schrittes in den kleinen Hof, die konsternierte Clera zog er mit sich.

Martina schien sich ebenfalls zu Tode erschreckt zu haben, so wie sie sich hinter ihrem Geliebten versteckte. «Clera?», hauchte sie kaum hörbar, und in ihre Augen trat neben dem Entsetzen Wut.

Der junge Mann, der ihre Hand hielt und sich schützend vor sie stellte, wirkte nicht weniger überrascht, fand seine Stimme jedoch schneller wieder. «Was fällt dir ein!», bellte er Konstantin ein. «Das ist ein Privatgrundstück!»

Clera biss sich auf die Unterlippe, doch Konstantin sagte nichts. Stattdessen beobachtete sie, dass Martina dem Jungen etwas ins Ohr flüsterte, während ihre Augen mehrmals zu Konstantin wanderten. Clera konnte nichts verstehen, sah jedoch Röbus Verwirrung. Dann schüttelte er den Kopf.

«Sieh an», ergriff nun Konstantin das Wort. «Robert! Schön, dich wiederzusehen. Schade nur, dass wir uns unter diesen Umständen begegnen.»

Der junge Mann schnaubte, dann machte er einen Schritt von der Mauer weg, an der Martina lehnte. Sie hielt seine Hand mit beiden Händen fest.

«Was willst du, Balthasar?», zischte er und ging langsam auf Konstantin zu.

«Ich bin hier, um mir das zurückzuholen, was mir gehört», erwiderte Konstantin ruhig, aber bestimmt. Sein Gesicht zeigte keine Regung, doch daran, wie er ihre Hand zusammenpresste, konnte Clera sehr gut abschätzen, wie wütend er war.

Robert grinste und zuckte mit den Schultern. «Was gehört denn deiner Meinung nach dir?» Inzwischen stand er unmittelbar vor Konstantin, der sich noch immer keinen Millimeter gerührt hatte.

«Die Kette», sagte er nur.

Bei diesem Wort huschte ein Schatten der Verunsicherung über Roberts Gesicht. Verwirrt drehte er sich zu Martina um, vermutlich um zu kontrollieren, ob sie die Kette sichtbar trug. Das tat sie nicht, aber sie hatte sich die Hand aufs Dekolleté gelegt, sodass Clera sofort erkannte, dass sie die Kette unter der Bluse trug. «Welche Kette?», fragte Robert übertrieben gelassen und machte eine ausladende Handbewegung.

«Die Kette, die du aus meinem Haus gestohlen hast. Oder wie erklärst du dir sonst, dass sie in deinen Besitz gekommen ist?»

Robert suchte einen Augenblick nach Worten. Clera sah Unsicherheit in seine Augen treten. «Gute Güte, Balthasar, ich würde doch nie bei dir einbrechen!»

Konstantin stand wortlos da und starrte seinem Gegenüber in die Augen, bis dieses sich verlegen abwandte. Er hatte Robert schon lange nicht mehr gesehen und seiner Meinung nach hätte das auch so bleiben dürfen. Seit er damals, als sie als kleine Jungen den Leuten gemeinsam Streiche gespielt hatten, ihm die Schuld angehängt hatte, war er nicht mehr erpicht darauf, seinen einstigen Freund wiederzusehen. Robert hatte damals gerne bei geparkten Wagen die Bremsen gelöst. Einmal hatte sich ein Kutscher beim Versuch, auf die Kutsche aufzuspringen, schwer verletzt. Da Robert zwei Jahre jünger war, hatte Konstantin dafür geradestehen müssen und war von seinem Vater hart bestraft worden. Robert hatte ihn dafür ausgelacht, besonders für die Narbe, die sich seither über seine Schulter zog. Bald darauf war Roberts Familie nach Thun gezogen.

In diesem Moment, als er in dem fremden Hof seinem früheren Freund gegenüberstand, zogen verdrängte Bilder vor seinem geistigen Auge vorbei. Wut kochte in ihm hoch, dass dieser Schurke ihm die Kette gestohlen hatte, die er dem Mädchen, das er liebte, geschenkt hatte. Ohne das Gesicht zu verziehen, packte er Robert am Kragen und stiess ihn nach hinten, bis er die Mauer erreichte. Als er die kalten Backsteine im Rücken spürte, hörte er auf sich zu wehren. «Du weisst genau, von welcher Kette ich spreche», zischte Konstantin und starrte ihm in die Augen.

Cleras Blick wanderte zu Martina, die sich in eine Ecke des Hofs geflüchtet hatte und zitternd auf dem Boden kauerte.

«Sag mir, wo du das übrige Diebesgut versteckt hast», befahl Konstantin und drückte Robert noch fester gegen die Mauer, doch dieser sagte kein Wort. «Na, los!», schrie Konstantin und schüttelte ihn. Obwohl er nicht viel älter war, überragte er Robert um einen Kopf und war ihm körperlich haushoch überlegen.

«Ich habe nichts gestohlen», ächzte Robert schliesslich. «Die Kette habe ich gekauft ...»

Konstantin lockerte seinen Griff ein wenig. «Von wem?»

«Ich ... weiss es nicht», stiess Robert hervor.

«Von wem?», wiederholte Konstantin, diesmal lauter.

«Ich kenne seinen Namen nicht», sagte Robert nach kurzem Zögern.

«Na, schön», meinte Konstantin, «dann wollen wir doch mal sehen, ob du dich in einer Stunde wieder erinnern kannst. Aber vorher gibst du mir die Kette zurück.» Robert drehte den Kopf, so weit er konnte, zu Martina, die immer noch in der Ecke kauerte.

«Martina», rief Konstantin, ohne Robert aus den Augen zu lassen. «Sei so gut und gib mir meine Kette zurück.»

Martina schüttelte kaum erkennbar den Kopf, während Tränen über ihre Wangen rollten. «Nein», wimmerte sie. «Röbu hat sie nicht gestohlen! Das würde er nie tun!»

Konstantin runzelte theatralisch die Stirn. «Und von wem hat er sie gekauft?»

Martina verstummte.

«Ob er sie nun selbst gestohlen hat oder sein Komplize», sagte er ruhig, «sie gehört mir und ich will sie zurückhaben.»

«Woher weisst du überhaupt von der Kette?», fragte Martina und rappelte sich auf. In diesem Moment wurde ihr die Antwort bewusst und sie schaute Clera hasserfüllt an.

«Wieso ist dein Bruder überhaupt im Besitz eines solchen Schmuckstücks?», fauchte sie sie an. «Ich dachte, ihr wärt arm!»

Bevor Clera etwas darauf erwidern konnte, lachte Robert los. «Ihr Bruder?», wieherte er. «Konstantin Balthasar hat keine Schwester! Die haben dich angelogen ...»

Konstantin packte ihn fester.

«Das war gelogen?», fragte sie leise, doch Clera antwortete nicht.

«Das ändert auch nichts daran, dass du noch immer meine Kette um den Hals trägst», warf Konstantin ein. «Entweder du gibst sie mir jetzt oder ich nehme dich ebenfalls mit.» Sein Blick wanderte wieder zu Robert, den er noch immer gegen die Mauer drückte.

Langsam nahm Martina die Kette ab und warf sie ihm vor die Füsse. Konstantin gab Clera mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie sie aufheben sollte. Sie nahm es und reichte es Konstantin.

«Falls die Polizei das Beweisstück sehen will», raunte er ihr zu und liess die Kette in seine Jackentasche gleiten. «Und nun kommst du mit mir, junger Mann.» Geschickt drehte er Robert um und packte ihn im Nacken. Schweigend starrte dieser zu Boden.

Als sie durch das Tor gingen, drehte Clera sich zu Martina um, die noch immer wie angewurzelt in der Ecke stand und nicht recht zu wissen schien, was sie tun sollte.

Finster blickte sie Clera nach. «Du mieses, dreckiges ...» Sie suchte nach Worten. «Du hast mein Leben zerstört!» Ihr Gesicht war tiefrot geworden, aus ihren Augen flossen die Tränen wie die Rinnsale der Bergbäche im Sommer.

«Er ist ein Verbrecher», sagte Clera, «das kannst du nicht einfach unbeachtet lassen. Oder hast du sogar davon gewusst?»

Martina schnappte nach Luft. «Wie ich dir schon gesagt habe – er hat nichts gestohlen! Er ist ein guter Mann und würde so etwas nicht tun.»

Clera zuckte mit den Schultern. «Es spricht nun einmal alles gegen ihn.»

Wieder schnaubte Martina.

«Glaub mir, Cousine», sagte Clera ruhig, «ohne ihn bist du besser dran.» Sie drehte sich um, um Konstantin zu folgen, der mit Robert draussen in der Gasse wartete.

«Ich bringe ihn zur Polizei, vielleicht redet er dann. Bring du Martina heim.» Clera nickte, formte die Lippen zu einem Kuss und drehte sich dann wieder zu ihrer Cousine um. «Komm, wir gehen nach Hause.»

Wortlos ging Martina an ihr vorbei.

Schweigend machten sie sich auf den Heimweg. Je weiter sie sich von Thun entfernten, umso mehr Mitleid hatte Clera mit ihrer Cousine.

«Wer ist er, wenn nicht dein Bruder?», fragte Martina plötzlich, als sie Steffisburg erreichten.

«Ein Freund», erwiderte Clera. «Er kommt ebenfalls aus Mitholz beziehungsweise Kandergrund.»

«Und wieso besucht er dich, dieser Konstantin?»

«Weil wir gute Freunde sind und er gerade in Thun weilte ...»

«Und da gibt er sich als dein Bruder aus.»

Clera nickte. «Er ... hasst es, wenn Gerüchte aufkommen. Zu viele Leute kennen ihn.»

Martina schwieg eine Weile. Clera hoffte, sie würde sie nicht weiter ausfragen.

«Wieso wusste er von der Kette?» Nun drehte Martina den Kopf zu ihr um und sah ihr direkt in die Augen. «Nur du hast sie gesehen. Warum hast du mir nicht geglaubt, dass sie ein Geschenk von Röbu ist?»

Clera atmete tief durch, bevor sie antwortete. «Konstantin hat sie vor mir gesehen und mich darauf aufmerksam gemacht. Ich wusste, dass die Kette ihm gehörte, deshalb habe ich dich gefragt, wo du sie herhast.»

«Und wie kommt er zu einem solchen Schmuckstück?» Martinas Stimme klang einigermassen ruhig, als bemühte sie sich wirklich, die Wahrheit herauszufinden.

«Die Kette ist ein Erbstück. Sein Ururgrossvater hat sie einst seiner Ururgrossmutter geschenkt, die sie jeweils an die nächste Generation weitergegeben hat. Da Konstantin keine Schwester hat, hat er sie bekommen. Er wollte sie ... seiner Verlobten schenken.» Zu Cleras Erleichterung schien Martina Konstantin Balthasar nicht zu kennen und fragte auch nicht weiter nach.

Bis sie den Hof erreichten, sprach sie kein Wort mehr, und Clera wagte nicht zu fragen, worüber sie nachdachte.