30

Mitholz, November 1920

Clera hob die Hand zum Abschied, als sich der Zug in Bewegung setzte. Walter, Erika, Josef und Martina standen auf dem Bahnsteig beisammen und winkten ihr ebenfalls nach, als sie langsam an ihnen vorbeizog. Merl lag zu ihren Füssen, den Kopf zwischen den Pfoten. Froh, dass der Waggon nicht überfüllt war, legte sie den Stoffbeutel, den sie auf dem Schoss gehalten hatte, auf den Sitz neben sich und beugte sich zu Merl hinunter, um ihn zu streicheln.

Teodors Hochzeit schien ihr ein guter Moment zu sein, um zu ihrer Familie zurückzukehren. Zudem wäre Massimo im Winter nicht da. Aber ihrem Vater wollte sie trotzdem nicht unter die Augen treten.

«Entschuldigung, ist der Platz neben Euch noch frei, Fräulein?», hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme hinter sich.

Sie fuhr herum. «Konstantin», rief sie überrascht aus. «Was ...?»

Er setzte sich neben sie. Merl sprang auf und leckte seine Hand. «Ja, guter Merl. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.» Er streichelte den eifrig mit dem Schwanz wedelnden Hund. «Was ich hier zu suchen habe?», lachte er. «Als du mir erzählt hast, dass du heute mit diesem Zug zurück nach Mitholz fährst, habe ich mich entschieden, für die Heimfahrt dasselbe Transportmittel zu wählen.» Nach einem prüfenden Blick in die angrenzenden Abteile nahm er ihre Hand. «Ich freue mich darauf, dich wieder am See zu treffen», raunte er.

«Darauf freue ich mich auch. Ich habe unseren kleinen See sehr vermisst.» Sie lächelte ihm verschwörerisch zu.

Je mehr sich der Zug ihrer Heimat näherte, umso mehr wuchsen ihre Freude und das mulmige Gefühl, das sich langsam in ihr breitmachte. Sie wusste nicht, was sie zu Hause erwartete.

Konstantin drückte ihre Hand, als der Kondukteur Mitholz ankündigte. «Holt dich jemand ab?»

Sie nickte. «Teodor hat versprochen, mit dem Pferdewagen zum Bahnhof zu kommen.»

«Steig du zuerst aus, ich folge dir mit dem Gepäck und stelle den Koffer auf den Bahnsteig. Dann bedankst du dich höflich und niemand wird denken, dass wir uns kennen.» Er grinste. «Nicht dass die Gerüchteküche zu brodeln beginnt.»

Sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter. «Wann werde ich dich wiedersehen?», flüsterte sie.

«Wann heiratet dein Bruder?»

«In drei Tagen.»

«Gut», sagte er leise. «Am Abend vor der Hochzeit komme ich um Mitternacht zu eurem Hof und warte hinter der Scheune bei dem grossen Felsen, der aussieht wie ein Gesicht.»

Clera sah zu ihm auf. Sie wusste genau, welchen Felsen er meinte, er lag ein Stück von der Scheune entfernt und war vom Wohnhaus aus nicht sichtbar. Allerdings hatte sie Konstantin nie davon erzählt.

«Woher kennst du diesen Felsen?»

«Ich habe dich einmal nach Hause begleitet, weisst du nicht mehr?»

Sie nickte. An jenen Abend erinnerte sie sich sehr gut. «In Ordnung», flüsterte sie, «ich werde da sein.»

Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen. Clera hob den Strick vom Boden auf, den sie an Merls Halsband geknüpft hatte, und ging zur Tür. Konstantin folgte ihr mit ihrem Koffer.

Auf dem Bahnsteig blieb sie stehen. «Ich danke Euch», sagte sie höflich, als Konstantin den Koffer neben ihr auf den Boden stellte, und musste beinahe lachen.

«Es war mir eine Ehre, Fräulein», sagte er und hob kurz seinen Hut. «Bis dann», flüsterte er, streichelte noch einmal Merls Kopf und ging Richtung Dorf davon. Bald waren auch die wenigen übrigen Reisenden, die in Mitholz ausgestiegen waren, verschwunden, und Clera stand allein mit ihrem Koffer und Merl am Bahnhof. «Teodor scheint sich verspätet zu haben», sagte sie zu Merl und setzte sich auf den Koffer.

Die Zeit verging nur schleppend. Gedankenverloren streichelte sie Merls Kopf und grüsste freundlich die wenigen Leute, die vorbeigingen. Zwei Frauen mittleren Alters näherten sich, grüssten sie und blieben nicht weit von ihr entfernt stehen. Clera fragte sich, was sie wohl beim Bahnhof wollten, dann fiel ihr aber ein, dass der Zug von Kandersteg her bald einfahren würde. Als die beiden zu reden begannen, verdrehte sie die Augen. Die Stimme der Frau des Postbeamten hätte sie aus Tausenden herausgehört, man konnte sie nicht überhören. In der anderen erkannte sie die Frau des Bäckers, die im Dorf für ihre Vorliebe für Tratsch und Klatsch bekannt war. Clera war froh, dass Konstantin schon weg war. Hätten die beiden sie zusammen gesehen, würde spätestens am Nachmittag das ganze Dorf darüber reden. So sehr Clera sich auch anstrengte, sie schaffte es nicht, wegzuhören.

«Unerhört», sagte die Frau des Bäckers gerade, «das kannst du dir gar nicht vorstellen, meine Liebe. Sie wäscht seine Wäsche nicht mehr und redet kaum mehr mit ihm. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn verlässt.»

Die andere schlug die Hände vor den Mund. «Jesus, Maria!», rief sie aus. «Und die Kinder?»

«Der Älteste wird bald heiraten», sagte die Bäckersfrau. «Die Tochter haben sie zu Verwandten in die Stadt abgeschoben, einer der Söhne arbeitet in Thun und die anderen leben auf dem Hof.»

Clera stockte der Atem, als ihr aufging, dass die beiden über ihre Familie sprachen.

«Seit wann denn?», fragte die Kleinere. «Barla war doch immer eine gute Frau.»

«Seit diesem Frühling oder Sommer erst», raunte die andere. «Am Stammtisch hiess es, sie möge den Knecht nicht.»

«Ach, den Massimo!» Sie klatschte in die Hände. «So ein fleissiger, charmanter Mann! Er ist Italiener, nicht wahr?» Ihr Lächeln erstarb wieder.

«Ach, herrje, und der arme Chasper. Wer kümmert sich denn nun um ihn?»

Die Bäckersfrau zuckte mit den Schultern. «Es ist eine Schande ...»

Clera biss sich auf die Unterlippe und versuchte, tief durchzuatmen, doch sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Mit vor Wut hochrotem Kopf sprang sie auf. «Das ist nicht Euer Ernst!», rief sie aus und näherte sich den beiden mit grossen Schritten. Merl folgte ihr auf dem Fusse und zog den Strick hinter sich her über den Boden. «Was wisst Ihr denn schon! Hat jemand von Euch Barla Catschader gefragt, warum sie das tue? Sie hat durchaus gute Gründe, wütend auf ihren Mann zu sein!» Clera schnaubte und schaute zuerst die eine und dann die andere an. «Und Ihr lobt den ach-so-fleissigen Massimo? Habt Ihr den jemals arbeiten sehen? Der Lump weiss nicht einmal, was Arbeit bedeutet! Er kann sich nur gut verkaufen und alle fallen auf ihn herein.» Mit einer gewissen Genugtuung beobachtete sie die erstarrten Mienen der beiden Frauen. «Ach, und was den ach-so-armen Chasper angeht: Das hat er sich selbst eingebrockt. Wie würdet Ihr reagieren, wenn der Knecht Eures Mannes Eure Tochter angreift, schlägt und beinahe erwürgt? Und mal angenommen, Euer Ehemann hätte nichts dagegen, dass der Knecht die eigene Tochter verprügelt, würdet Ihr dann auch sagen, er sei bemitleidenswert?» Ihr war bewusst, dass diese Schimpftirade alles andere als höflich war, doch das kümmerte sie gerade wenig. «Erschreckt Euch die Geschichte?», fragte sie herausfordernd. «Ich bin sicher, davon hat Euch niemand erzählt, und trotzdem steht Ihr da am Bahnhof und redet schlecht über meine Mutter, die ihr Kind verteidigt hat, während ihr Mann komplett versagt hat und sein Kind dem Übeltäter schutzlos ausgeliefert hätte!» Ihre Stimme war schrill geworden. «Bevor Ihr also das nächste Mal solche Geschichten verbreitet, erkundigt Euch vorher.» Wütend funkelte sie die beiden an, die mit einem Mal verstummt waren. «Ach ja, die Tochter hat sie nicht abgeschoben, sondern zu Verwandten in Sicherheit gebracht, damit sie nicht tagtäglich der Gefahr ausgesetzt ist, dem gewalttätigen Knecht zu begegnen!» Mit diesen Worten drehte sie sich um und kehrte zurück zu ihrem Koffer. Ihre Knie zitterten, doch sie liess es sich nicht anmerken. Aufgebracht hob sie ihren Koffer hoch und trug ihn hinüber zur Strasse, wo Teodor gerade vorfuhr.

«Clera!», rief er und sprang vom Wagen. «Entschuldige, ich habe mich verspätet. Das Pferd zu holen hat länger gedauert.»

Clera fiel ihm um den Hals. «Das macht nichts», sagte sie. «Ich habe mich nicht gelangweilt.» Sie blickte hinüber zu den beiden Frauen, die noch immer völlig verdutzt dort standen.

Teodors Blick folgte dem ihren. «Hast du dich mit denen unterhalten?»

«Na ja ...» Clera zuckte mit den Schultern. «Sie haben schlecht über Mutter geredet und geklagt, wie arm Vater sei, da habe ich ihnen die Meinung gesagt.»

Teodors Augen wurden gross. «Sieh an! Du bist ja richtig selbstbewusst geworden!»

Clera grinste.

«Gut so! Komm, steig auf.» Er wuchtete ihren Koffer auf den Wagen.

Merl sprang hinterher, Clera setzte sich neben Teodor auf den Kutschbock. «Gibt es Neuigkeiten zu Hause?», fragte sie, als sich das Pferd in Bewegung setzte.

«Abgesehen von der bevorstehenden Hochzeit, die vor allem Mutter fast in den Wahnsinn treibt ...» Teodor lachte. «Bengiamin und Mattiu sind von der Alp zurückgekehrt. Es geht beiden und dem Vieh gut, wir haben keine Verluste.»

«Sehr gut», freute sich Clera.

«Und sie haben ganz unterschiedlich auf die Ereignisse dieses Sommers reagiert. Bengiamin ist – wie ich – so wütend geworden, dass er Massimo ebenfalls verprügelt hat, Mattiu hingegen hat wie Peider nie über das Thema gesprochen.»

Clera senkte den Blick. Es schien, als hätte der unglückliche Zwischenfall die ganze Familie gespalten.

«Freust du dich darauf, heimzukommen?», fragte Teodor nach einer Weile.

«Ja und nein», antwortete sie. «Ich freue mich darauf, Mutter und euch wiederzusehen, gleichzeitig graut mir aber davor, Massimo und Vater in meiner Nähe zu wissen.»

Teodor nickte langsam. «Das verstehe ich», sagte er. «Aber wegen Massimo brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, der ist weg.»

«Weg?», fragte Clera überrascht. «Hat die Polizei ihn geholt oder hat Vater ihn doch endlich weggeschickt?»

«Weder noch.» Er zögerte einen Moment. «Die Polizei war zwar mal da, hat ihn aber nicht mitgenommen. Und gestern Morgen ist er im Wald unterhalb der Felsen gefunden worden. Tot.»

Clera schnappte nach Luft, doch auf den ersten Schrecken folgte sogleich Erleichterung und ein Hauch von schlechtem Gewissen, dass sie seinen Tod nicht bedauerte. «Wie ... Was ist denn geschehen?»

Teodor zuckte mit den Schultern. «Das wissen wir nicht. Bengiamin hat ihn morgens dort gefunden, nachdem er nicht zur Arbeit erschienen war. Neben ihm auf dem Boden lag eine zerbrochene Flasche. Wahrscheinlich Alkohol.»

Eine Weile schwiegen beide.

«Ich muss zugeben, dass ich nicht allzu bestürzt bin», sagte Clera, als der Hof in Sicht kam.

«Das sind wir alle nicht», meinte Teodor. «Nur Vater. Seither jammert er ununterbrochen, er könne den Hof ohne Massimo nicht weiterführen, hetzt nervös durch die Gegend und stopft sich noch mehr mit Käse und Brot voll als vorher schon.» Teodor schnaubte. «Als ob wir zu viel davon hätten und es unbedingt loswerden müssten. Übrigens muss ich gestehen, dass ich gestern Nacht in Massimos Hütte eingestiegen bin. Wie du weisst, traue ich ihm schon lange nicht mehr, daher wollte ich mich dort umsehen, bevor jemand anderes es tut.» Er sah sie mit vielsagendem Blick an. «Einige Werkzeuge mit meinen Initialen, die ich lange gesucht hatte, lagen dort herum.»

Clera blieb der Mund offen stehen.

«Ausserdem standen in der schäbigen Küche mehrere Schüsseln und Schalen aus unserem Haushalt», fuhr Teodor fort. «Grossmutters Geschirr.»

«Aber ...» Clera suchte nach Worten. «Wieso sollte er in unsere Küche einbrechen und Geschirr stehlen?»

«Keine Ahnung. Vielleicht hat Vater sie ihm gegeben, weil er lange genug gejammert hatte, wie arm er sei. Jedenfalls habe ich alles, was offensichtlich uns gehört, mitgenommen und an seinen Platz zurückgebracht», schloss Teodor. «Vater hat das wortlos hingenommen.»

«Weil er genau weiss, dass es nicht richtig war», knurrte Clera.

Merl sprang auf, als sie den Hof erreichten.

«Clera ist da!», hörte sie Michel, bevor er auf sie zugerannt kam.

«Michel!», rief sie, als er sie erreichte und ihr die Arme um die Taille schlang.

«Schön, dass du wieder da bist! Ich habe dich so vermisst!»

«Ich dich auch», flüsterte sie und wandte sich ihrer Mutter zu, die ebenfalls aus dem Haus geeilt kam. Sogar Peider umarmte sie. Nur ihr Vater liess sich nicht blicken.

Als sie später die Petroleumlampe auf dem Esstisch anzündete, wurde ihr bewusst, wie sehr sie das elektrische Licht schätzen gelernt hatte. Dass sie hier wieder Öllampen und Kerzen anzündete, zeigte ihr, dass sie wieder auf dem Land angekommen war – in ihrem Zuhause.

«Letzten Endes stellte sich heraus, dass die Einbrecher das Diebesgut auf Walters und Erikas Hof versteckt hatten», erzählte sie gerade, als ihr Vater die Küche betrat.

«Salü Clera», begrüsste er sie, als wäre sie nie weg gewesen.

«Salü», erwiderte Clera kühl.

«Massimos Beerdigung findet am kommenden Montag statt», verkündete Chasper. «Vergewissert euch, dass ihr alle etwas Schwarzes zum Anziehen habt.»

Stille. Vielsagende Blicke wurden ausgetauscht.

«Ich weigere mich hinzugehen», sagte Clera bestimmt und verschränkte die Arme.

«Ich werde ebenfalls nicht mitkommen», meinte Teodor und goss Wasser in die Becher, die auf dem Tisch standen.

«Ich auch nicht», verkündete Michel und lehnte sich mit trotziger Miene zurück.

«Meine Antwort kennst du bereits», sagte Barla und gab das Brot weiter.

«Ihr werdet alle mitkommen!», rief Chasper aus. «Das sind wir Massimo schuldig!»

Clera brach in Gelächter aus. «Schuldig? Ich bin diesem Übeltäter überhaupt nichts schuldig!»

«Wir sind eine Familie, deshalb gehen wir alle zusammen hin», versuchte er es nochmals.

«Ach», knurrte Clera, «sind wir das? Hast du schon vergessen, dass du mich rausgeworfen hast?»

«Clera!», fiel Barla ihr ins Wort.

Wieder verschränkte sie die Arme.

Chasper sagte nichts mehr. Aus dem Augenwinkel sah Clera, dass Barla ihm tatsächlich keinen Teller hingestellt hatte, woraufhin er aufstand, um sich selbst einen zu holen.

«Meine Güte», wandte sie sich nach dem Essen an Teodor. «Wenn ich gewusst hätte, wie die Lage hier ist, und du nicht bald heiraten würdest, wäre ich nicht zurückgekommen.» Sie verdrehte die Augen beim Gedanken daran, dass ihr Vater sich überhaupt nicht am Gespräch beteiligt, sondern in Rekordzeit Suppe gelöffelt und dabei unzählige Flecken auf dem Tischtuch hinterlassen hatte.

«Du weisst, du kannst jederzeit bei uns wohnen», sagte Teodor leise, während er das Geschirr abtrocknete. «Unser Häuschen ist fertig. Du kannst gern eines der Zimmer im oberen Stock haben.»

Dankbar lächelte Clera ihn an. «Das würde ich wirklich gern.»

Zwei Tage später war Clera entschlossener denn je, so bald wie möglich zu Teodor und Rita zu ziehen. Teodor hatte vor, die zwei Kühe, die ihm gehörten, mitzunehmen und eine kleine Herde Schafe zu kaufen, ebenso hatte er einen kleinen Stall für Hühner gebaut. Clera freute sich darauf, sich um seine Tiere zu kümmern und gleichzeitig Rita im Haus zu helfen. Barla hatte diesem Vorschlag bereits zugestimmt, Chasper hatte sie nicht gefragt.

Angestrengt lauschte sie, ob sie irgendwo im Haus noch ein Geräusch hörte, dann kletterte sie aus dem Fenster und huschte über die Laube zur Scheune. Als sie um die Ecke bog, sah sie bereits das Licht beim Felsen.

«Konstantin», flüsterte sie, als sie nahe genug war, dass er sie hören konnte.

«Clera!», antwortete er. «Schön, dass du da bist!» Er zog sie an sich und küsste sie auf den Mund.

«Bin ich froh, dass ich das Haus verlassen konnte», hauchte sie. «Die Stimmung in der Familie ist furchtbar.» In wenigen Worten erklärte sie ihm die Lage.

«Mach dir keine Sorgen», beruhigte er sie. «Das legt sich wieder. Nun, da Massimo weg ist, brauchst du wenigstens keine Angst mehr zu haben.»

Clera runzelte die Stirn. Sie hatte nicht erwähnt, was Massimo widerfahren war. «Woher weisst du, dass Massimo weg ist?»

«Solche Nachrichten sprechen sich schnell herum.» Er griff nach ihrer Hand. «Komm! Ich habe Horazio für dich mitgebracht.»

Cleras Herz machte einen Sprung, als sie das schwarze Pferd im Licht der Laterne erkannte. «Horazio, mein Guter!», begrüsste sie ihn.

«Lass uns zum See reiten», hörte sie Konstantin aus der Dunkelheit sagen.

«Ich bin dabei», erwiderte sie erfreut und schwang sich in den Sattel.

Gemächlich ritten sie auf dem schmalen Weg talwärts. Als sie den See erreichten, stieg Konstantin vom Pferd und band es an einem Baum fest. Clera tat es ihm gleich.

«Halt mal die Laterne», bat er sie und holte einen Korb unter einem der Felsen hervor, aus dem er eine Decke zog und auf dem Boden ausbreitete. «Setz dich.»

Clera stellte die Laterne vor sich auf den Boden und setzte sich hin.

Er nahm ein kleines Päckchen aus dem Korb und nahm neben ihr Platz. «Hanna hat den extra für uns gebacken», erklärte er und hielt ihr ein Stück Apfelkuchen hin.

Lächelnd griff sie danach. «Hanna weiss von uns?»

«Natürlich, das musste sie ja, wegen der Briefe. Aber sie ist die Einzige.» Er tippte ihr auf die Nase. «Seit du Martin gerettet hast, hat sie mich bei jeder Gelegenheit nach dir gefragt. Ich solle zusehen, dass du nicht plötzlich weg seist, hat sie gesagt.»

Clera lachte.

«Was wirst du nun tun?», fragte er nach einer Weile. «Bleibst du hier oder kehrst du nach Steffisburg zurück?»

«Weder noch», antwortete sie entschlossen. «Ich ziehe zu meinem Bruder und seiner Frau nach Mitholz.»

«Sehr gut», meinte Konstantin und lächelte. «So musst du nicht mehr auf dem Hof leben, wohnst aber trotzdem in der Nähe deiner Mutter und deiner Brüder.»

Sie nickte.

«Es kommt alles wieder gut, du wirst sehen», flüsterte er und nahm sie in die Arme.

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und schloss für einen Moment die Augen. «Danke», flüsterte sie kaum hörbar. «Du warst immer für mich da und hast mir auf jede erdenkliche Art und Weise geholfen. Was hätte ich nur ohne dich gemacht?» Sie hob den Kopf, um ihm in die Augen zu schauen.

Er streichelte sanft ihre Wange. «Ich weiss auch nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Durch dich ist endlich etwas Abwechslung in mein Leben gekommen. Vorher funktionierte ich einfach, fast wie eine Maschine, aber seit ich dich kenne ... Deshalb frage ich dich jetzt endlich, Clera Catschader ... Willst du meine Frau werden?»

Sie schnappte nach Luft, brachte keinen Ton heraus, sondern drückte einfach seine Hand, die die ihre hielt. Erst als sie die Tränen wegblinzelte, sah sie den Ring, den er zwischen den Fingern hielt. «Ja», hauchte sie schliesslich, «natürlich!»

Er strahlte über das ganze Gesicht, steckte ihr vorsichtig den Ring an den Finger, dann liess er ihre Hand los, schlang die Arme um sie und küsste sie, wie er sie noch nie zuvor geküsst hatte. Sie spürte die Schmetterlinge in ihrem Bauch.

«Traust du es dir zu, im grossen Haus meiner Familie zu leben?», neckte er sie.

«Das kommt auf deine Eltern an», sagte sie ernst. «Die werden wohl nicht erfreut sein, wenn du ihnen die Tochter eines armen Bergbauern, der obendrein ein Feigling ist, als deine Verlobte vorstellst.»

«Mach dir keine Sorgen», flüsterte er und küsste sie aufs Haar. «Sie werden dich mögen.» Clera legte den Kopf wieder an seine Brust. «Mein Vater hat eine Vorliebe für Botanik», fuhr er fort. «Er hat auf Reisen verschiedenste Pflanzen gesammelt und in den Garten hinter dem Haus gepflanzt. Wenn er erfährt, dass du dich ebenfalls dafür interessierst, hast du ihn auf deiner Seite. Und meine Mutter wird dich sowieso gleich ins Herz schliessen.»

«Wann soll ich sie kennenlernen?», fragte sie mit einem verschmitzten Lächeln.

Er zuckte mit den Schultern. «In ein paar Tagen? Ich hole dich ab wie ein Prinz und bringe dich zum Palast, wo ein königliches Abendessen auf dich wartet.»

«Aber was soll die Prinzessin anziehen?», fragte sie seufzend.

«Die Prinzessin geht nach der Hochzeit ihres Bruders zur Schneiderin und lässt sich ein hübsches, modernes Kleid nähen, das für den Anlass passend ist. Für unsere Verlobung hast du Anrecht auf ein neues Kleid.» Er zwinkerte ihr zu.

«Und dann muss ich dich zu uns einladen, damit du bei ... meiner Mutter um meine Hand anhalten kannst», lachte sie.

«Warum nicht bei deinem Vater?»

«Weil ich den nicht um Erlaubnis bitten werde.»

«Aber du wirst ihm doch von mir erzählen?»

Sie schüttelte den Kopf. «Eigentlich will ich das nicht», sagte sie entschieden.

«Das musst du», beharrte er.

Seufzend winkte sie ab. «Darum kümmere ich mich, wenn es so weit ist.»

«Würdet Ihr mit mir tanzen, Fräulein?», fragte Michel mit wichtiger Stimme, als Clera am nächsten Tag aus dem Haus trat. Lachend ergriff sie den Arm, den er ihr hinhielt.

«Natürlich, mein Herr. Liebend gern.»

Barla hatte sie angewiesen, schon einmal mit Michel vorzugehen, die anderen würden sich gleich auch auf den Weg machen und sie bald einholen.

«Bist du froh, dass dieser Massimo ins Gras gebissen hat?», fragte Michel geradeheraus, als sie den Hof verliessen.

Clera schmunzelte. «Um ehrlich zu sein, ja», gestand sie. «Manchmal habe ich mich dabei erwischt, wie ich ihm genau das wünschte. Aber erzähl es niemandem.»

Michel schüttelte grinsend den Kopf.

«Ich nehme an, das war die Strafe für sein schlechtes Leben», meinte sie. «Wenn man getrunken hat, sollte man nicht im Dunkeln durch die Berge torkeln. Mich wundert es nicht, dass er dabei abgestürzt ist.» Nach dem Gespräch mit Teodor war ihr das durch den Kopf gegangen, doch dann war ihr eingefallen, dass Massimo so gut wie nie getrunken hatte.

«Ich glaube eher, es war der schwarze Ritter», flüsterte Michel.

«Der schwarze Ritter?», fragte Clera.

Michel nickte heftig. «Ich habe ihn gesehen», flüsterte er. «In den letzten Tagen ist er mehrmals abends durch den Wald geritten, mit schwarzem Umhang und schwarzem Pferd. Aber jedes Mal, wenn er mich sah, hat er gewendet und ist weggeritten.»

«Was machst du denn abends im Wald?»

«Ich wollte die Dialas sehen, die Bergfeen, von denen ich in Grossmutters Märchenbuch gelesen habe. Aber erzähl Mutter nichts davon, sie würde es mir nie erlauben.»

Er redete weiter, doch Clera hörte nicht mehr, was er sagte. «Ein schwarzer Ritter ...», murmelte sie.

«Ich bin sicher, dass er es war, der uns von diesem Nichtsnutz befreit hat», sagte Michel. «Denn nachdem Bengiamin Massimo gefunden hatte, habe ich ihn nicht mehr gesehen.»

Clera nickte nachdenklich.

«Glaubst du das auch?»

«Ja», flüsterte sie. «Ja, das denke ich auch. Und wenn ich ihn einmal treffe, werde ich ihm danken.»

Als sie die Kirche erreichten und die Glocken zu läuten begannen, verspürte sie grosse Freude für Rita und Teodor und eine ebenso grosse Vorfreude auf ihre eigene Hochzeit im nächsten Jahr.

Clera setzte sich in der Kirchenbank neben Michel. Kaum hatte sie Platz genommen, winkte sie vorsichtig Teodor zu, der bereits vorn stand und nicht recht zu wissen schien, wo er seine Hände platzieren sollte.

Als die Musik einsetzte, spürte sie plötzlich eine Hand auf der Schulter. Langsam, um nicht aufzufallen, drehte sie sich um und blickte in Konstantins blaue Augen. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das er erwiderte. In diesem Moment glaubte auch sie, dass alles gut werden würde.

Sie wandte den Blick wieder nach vorn, wo Rita gerade von ihrem Vater in Teodors Obhut übergeben wurde. Ihre Hand wanderte zu dem blauen Stein, den sie auch heute unter der Bluse trug. Der Himmel hatte an diesem Tag fast dieselbe Farbe. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte Konstantin an der Hand gepackt und wäre mit ihm hinausgerannt, zu ihrem kleinen blauen See.