Das Sonnenlicht glitzerte in den sanften Wellen des kleinen Sees. Ringe rollten über das blaue Nass, wenn ein Fisch die Oberfläche berührte.
Clera kraulte Merl, der neben ihr stand. Er war längst nicht mehr so flink und stark, sondern ein älterer Herr, der seine Familie gerne auf gemächliche Spaziergänge begleitete. Sein ganzes Leben war er an ihrer Seite gewesen.
«Heute ist der See noch blauer als sonst», hörte sie Katharina, ihre älteste Tochter, sagen und wandte sich ihr zu. «Ja, das habe ich vorhin auch gedacht», erwiderte sie. Im klaren Wasser sah sie die Fische ihre Runden drehen, und die Baumstämme auf dem Grund waren noch klarer zu erkennen als sonst.
«Manchmal sieht er mehr grün als blau aus», fuhr Katharina fort und warf einen Stein ins Wasser. «Aber heute hat er dieselbe Farbe wie deine Kette.» Sie deutete auf den tropfenförmigen Anhänger an Cleras Hals.
Langsam tastete sie nach dem Stein und lächelte ihre Tochter an. Die Kette hatte sie nie mehr abgelegt, seit Konstantin sie ihr zum zweiten Mal geschenkt hatte. «Vielleicht hat der See ja seine Farbe von diesem Stein», sagte sie mit geheimnisvollem Unterton.
Katharina runzelte die Stirn. «Wirklich? Unser Lehrer hat gesagt, er habe die aussergewöhnliche Farbe von den Augen eines Mädchens, das im See ertrunken sei ...»
«Ja, das sagt die Sage, die man sich erzählt», erklärte sie. «Dieses Mädchen war deine Urururgrossmutter.»
Katharinas Augen wurden gross.
«Sie hiess ebenfalls Katharina, und ihr gehörte diese Kette, aber sie ist glücklicherweise nicht ertrunken.»
Für einen Moment schwieg das Mädchen. «Dann stimmt die Sage ja gar nicht», stellte sie schliesslich fest.
«Nicht ganz», gab Clera ihr recht. «Sagen müssen nicht immer der Wahrheit entsprechen, aber sie haben stets einen wahren Kern.»
«Und was ist der wahre Kern der Blausee-Sage?»
«Nun, es ist wahr, dass er aussergewöhnlich blau ist.»
Katharina nickte.
«Und», fuhr Clera fort, «man hat tatsächlich einmal eine tote Frau auf dem Grund des Sees gefunden.»
«Aber das war nicht Urur ... urgrossmutter Katharina?»
«Nein, das war nicht sie.»
«Hatte sie blaue Augen?»
«Ja», sagte sie schliesslich, «aber die haben den See nicht blau gefärbt», lachte sie.
«Sondern die Kette», schloss Katharina daraus. «Hat Katharina sie ins Wasser geworfen?»
«Ja», antwortete Clera. «Der Mann, der sie ihr geschenkt hatte, und der übrigens Papas Urururgrossvater war, hatte ihr die Kette als Präsent überreicht und versprochen, er werde sie heiraten. Als er dann aber doch eine andere geheiratet hat, hat Katharina die Kette in den See geworfen. Glücklicherweise hat sie aber jemand wiedergefunden. Sie wurde an die nächste Generation weitergegeben, bis dein Vater sie mir geschenkt hat.» Sie lächelte. «Und wenn du gross bist, werde ich sie an dich weitergeben.»
Katharinas Augen leuchteten auf. «Dann wird sie wieder einer Katharina gehören.»